Friedrich Wilhelm Nietzsche – Gesammelte Werke

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217

Klas­sisch und ro­man­tisch. – So­wohl die klas­sisch als die ro­man­tisch ge­sinn­ten Geis­ter- wie es die­se bei­den Gat­tun­gen im­mer gibt – tra­gen sich mit ei­ner Vi­si­on der Zu­kunft: aber die ers­te­ren aus ei­ner Stär­ke ih­rer Zeit her­aus, die letz­te­ren aus de­ren Schwä­che.

218

Die Ma­schi­ne als Leh­re­rin. – Die Ma­schi­ne lehrt durch sich sel­ber das In­ein­an­der­grei­fen von Men­schen­hau­fen, bei Ak­tio­nen, wo je­der nur eins zu tun hat: sie gibt das Mus­ter der Par­tei – Or­ga­ni­sa­ti­on und der Kriegs­füh­rung. Sie lehrt da­ge­gen nicht die in­di­vi­du­el­le Selbst­herr­lich­keit: sie macht aus Vie­len Eine Ma­schi­ne, und aus je­dem ein­zel­nen ein Werk­zeug zu Ei­nem Zwe­cke. Ihre all­ge­meins­te Wir­kung ist: den Nut­zen der Zen­tra­li­sa­ti­on zu leh­ren.

219

Nicht seß­haft. – Man wohnt ger­ne in der klei­nen Stadt; aber von Zeit zu Zeit treibt ge­ra­de sie uns in die ein­sams­te un­en­t­hüll­tes­te Na­tur: dann näm­lich, wenn jene uns ein­mal wie­der zu durch­sich­tig ge­wor­den ist. End­lich ge­hen wir, um uns wie­der von die­ser Na­tur zu er­ho­len, in die große Stadt. Ei­ni­ge Züge aus der­sel­ben – und wir er­ra­ten den Bo­den­satz ih­res Be­chers, – der Kreis­lauf, mit der klei­nen Stadt am An­fan­ge, be­ginnt von neu­em. – So le­ben die Mo­der­nen: wel­che in al­lem et­was zu gründ­lich sind, um seß­haft zu sein gleich den Men­schen an­de­rer Zei­ten.

220

Re­ak­ti­on ge­gen die Ma­schi­nen-Kul­tur – Die Ma­schi­ne, sel­ber ein Er­zeug­nis der höchs­ten Denk­kräf­te, setzt bei den Per­so­nen, wel­che sie be­die­nen, fast nur die nie­de­ren, ge­dan­ken­lo­sen Kräf­te in Be­we­gung. Sie ent­fes­selt da­bei eine Un­mas­se Kraft über­haupt, die sonst schla­fen läge, das ist wahr, aber sie gibt nicht den An­trieb zum Hö­her­stei­gen, zum Bes­ser­ma­chen, zum Künst­ler­wer­den. Sie macht tä­tig und ein­för­mig- das er­zeugt aber auf die Dau­er eine Ge­gen­wir­kung, eine ver­zwei­fel­te Lan­ge­wei­le der See­le, wel­che durch sie nach wech­sel­vol­lem Mü­ßig­gan­ge dürs­ten lernt.

221

Die Ge­fähr­lich­keit der Auf­klä­rung. – Al­les das Halb­ver­rück­te, Schau­spie­le­ri­sche, Tie­risch-Grau­sa­me, Wol­lüs­ti­ge, na­ment­lich Sen­ti­men­ta­le und Sich-selbst- Berau­schen­de, was zu­sam­men die ei­gent­lich re­vo­lu­tio­näre Sub­stanz aus­macht und in Rous­seau, vor der Re­vo­lu­ti­on, Fleisch und Geist ge­wor­den war, – die­ses gan­ze We­sen setz­te sich mit per­fi­der Be­geis­te­rung noch die Auf­klä­rung auf das fa­na­ti­sche Haupt, wel­ches durch die­se sel­ber wie in ei­ner ver­klä­ren­den Glo­rie zu leuch­ten be­gann: die Auf­klä­rung, die im Grun­de je­nem We­sen so fremd ist und, für sich wal­tend, still wie ein Licht­glanz durch Wol­ken ge­gan­gen sein wür­de, lan­ge Zeit zu­frie­den da­mit, nur die Ein­zel­nen um­zu­bil­den: so daß sie nur sehr lang­sam auch die Sit­ten und Ein­rich­tun­gen der Völ­ker um­ge­bil­det hät­te. Jetzt aber, an ein ge­walt­sa­mes und plötz­li­ches We­sen ge­bun­den, wur­de die Auf­klä­rung sel­ber ge­walt­sam und plötz­lich. Ihre Ge­fähr­lich­keit ist da­durch fast grö­ßer ge­wor­den als die be­frei­en­de und er­hel­len­de Nütz­lich­keit, wel­che durch sie in die große Re­vo­lu­ti­ons-Be­we­gung kam. Wer dies be­greift, wird auch wis­sen, aus wel­cher Ver­mi­schung man sie her­aus­zu­zie­hen, von wel­cher Ve­run­rei­ni­gung man sie zu läu­tern hat: um dann, an sich sel­ber, das Werk der Auf­klä­rung fort­zu­set­zen und die Re­vo­lu­ti­on nach­träg­lich in der Ge­burt zu er­sti­cken, un­ge­sche­hen zu ma­chen.

222

Die Lei­den­schaft im Mit­tel­al­ter. – Das Mit­tel­al­ter ist die Zeit der größ­ten Lei­den­schaf­ten. We­der das Al­ter­tum noch un­se­re Zeit hat die­se Aus­wei­tung der See­le: ihre Räum­lich­keit war nie grö­ßer, und nie ist mit län­ge­ren Maß­stä­ben ge­mes­sen wor­den. Die phy­si­sche Ur­wald-Leib­lich­keit von Bar­ba­ren­völ­kern und die über­see­len­haf­ten, über­wa­chen, all­zuglän­zen­den Au­gen von christ­li­chen Mys­te­ri­en-Jün­gern, das Kind­lichs­te, Jüngs­te und eben­so das Über­reifs­te, Al­ters­mü­des­te, die Ro­heit des Raub­tiers und die Ver­zär­te­lung und Auss­pit­zung des spätan­ti­ken Geis­tes – al­les dies kam da­mals an Ei­ner Per­son nicht sel­ten zu­sam­men: da muß­te, wenn ei­ner in Lei­den­schaft ge­riet, die Strom­schnel­le des Ge­mü­tes ge­wal­ti­ger, der Stru­del ver­wirr­ter, der Sturz tiefer sein als je. – Wir neue­ren Men­schen dür­fen mit der Ein­bu­ße zu­frie­den sein, wel­che hier ge­macht wor­den ist.

223

Rau­ben und Spa­ren. – Alle geis­ti­gen Be­we­gun­gen ge­hen vor­wärts, in­fol­ge de­ren die Gro­ßen zu rau­ben, die Klei­nen zu spa­ren hof­fen kön­nen. Des­halb ging zum Bei­spiel die deut­sche Re­for­ma­ti­on vor­wärts.

224

Fröh­li­che See­len. – Wenn auf Trunk, Trun­ken­heit und eine übel­rie­chen­de Art von Un­flä­te­rei auch nur von fer­ne hin­ge­winkt wur­de, dann wur­den die See­len der äl­te­ren Deut­schen fröh­lich, – sonst wa­ren sie ver­dros­sen; aber dort hat­ten sie ihre Art von Ver­ständ­nis-In­nig­keit.

225

Das aus­schwei­fen­de Athen. – Selbst als der Fisch­markt Athens sei­ne Den­ker und Dich­ter be­kom­men hat­te, be­saß die grie­chi­sche Aus­schwei­fung im­mer noch ein idyl­li­sche­res und fei­ne­res Aus­se­hen, als es je die rö­mi­sche oder die deut­sche Aus­schwei­fung hat­te. Die Stim­me Ju­ve­nals hät­te dort wie eine hoh­le Trom­pe­te ge­klun­gen: ein ar­ti­ges und fast kind­li­ches Ge­läch­ter hät­te ihm geant­wor­tet.

226

Klug­heit der Grie­chen. – Da das Sie­gen- und Her­vor­ra­gen-wol­len ein un­über­wind­li­cher Zug der Na­tur ist, äl­ter und ur­sprüng­li­cher als alle Ach­tung und Freu­de der Gleich­stel­lung, so hat der grie­chi­sche Staat den gym­nas­ti­schen und mu­si­schen Wett­kampf in­ner­halb der Glei­chen sank­tio­niert, also einen Tum­mel­platz ab­ge­grenzt, wo je­ner Trieb sich ent­la­den konn­te, ohne die po­li­ti­sche Ord­nung in Ge­fahr zu brin­gen. Mit dem end­li­chen Ver­fal­le des gym­nas­ti­schen und mu­si­schen Wett­kamp­fes ge­riet der grie­chi­sche Staat in in­ne­re Un­ru­he und Auf­lö­sung.

227

"Der ewi­ge Epi­kur." – Epi­kur hat zu al­len Zei­ten ge­lebt und lebt noch, un­be­kannt de­nen, wel­che sich Epi­ku­re­er nann­ten und nen­nen, und ohne Ruf bei den Phi­lo­so­phen. Auch hat er sel­ber den ei­ge­nen Na­men ver­ges­sen: es war das schwers­te Ge­päck, wel­ches er je ab­ge­wor­fen hat.

228

Stil der Über­le­gen­heit. – Stu­den­ten­deutsch, die Sprech­wei­se des deut­schen Stu­den­ten, hat ih­ren Ur­sprung un­ter den nicht-stu­die­ren­den Stu­den­ten, wel­che eine Art von Über­ge­wicht über ihre erns­te­ren Ge­nos­sen da­durch zu er­lan­gen wis­sen, daß sie an Bil­dung, Sitt­sam­keit, Ge­lehrt­heit, Ord­nung, Mä­ßi­gung al­les Mas­ke­ra­den­haf­te auf­de­cken und die Wor­te aus je­nen Be­rei­chen zwar fort­wäh­rend eben­so im Mun­de füh­ren, wie die Bes­se­ren, Ge­lehr­te­ren, aber mit ei­ner Bos­heit im Bli­cke und ei­ner be­glei­ten­den Gri­mas­se. In die­ser Spra­che der Über­le­gen­heit- der ein­zi­gen, die in Deutsch­land ori­gi­nal ist – re­den nun un­will­kür­lich auch die Staats­män­ner und die Zei­tungs-Kri­ti­ker: es ist ein be­stän­di­ges iro­ni­sches Zi­tie­ren, ein un­ru­hi­ges, un­fried­fer­ti­ges Schie­len des Au­ges nach Rechts und Links ein Gän­se­füß­chen- und Gri­mas­sen- Deutsch.

229

Die Ver­gra­be­nen. – Wir zie­hen uns ins Ver­bor­ge­ne zu­rück: aber nicht aus ir­gend ei­nem per­sön­li­chen Miß­mu­te, als ob uns die po­li­ti­schen und so­zia­len Ver­hält­nis­se der Ge­gen­wart nicht ge­nug­tä­ten, son­dern weil wir durch un­se­re Zu­rück­zie­hung Kräf­te spa­ren und sam­meln wol­len, wel­che spä­ter ein­mal der Kul­tur ganz not tun wer­den, je mehr die­se Ge­gen­wart die­se Ge­gen­wart ist und als sol­che ih­re Auf­ga­be er­füllt. Wir bil­den ein Ka­pi­tal und su­chen es si­cher­zu­stel­len: aber, wie in ganz ge­fähr­li­chen Zei­ten, da­durch, daß wir es ver­gra­ben.

230

Ty­ran­nen des Geis­tes. – In un­se­rer Zeit wür­de man je­den, der so streng der Aus­druck ei­nes mo­ra­li­schen Zu­ges wäre, wie die Per­so­nen Theo­phrasts und Mo­lie­res es sind, für krank hal­ten, und von "fi­xer Idee" bei ihm re­den. Das Athen des drit­ten Jahr­hun­derts wür­de uns, wenn wir dort einen Be­such ma­chen dürf­ten, wie von Nar­ren be­völ­kert er­schei­nen. Jetzt herrscht die De­mo­kra­tie der Be­grif­fe in je­dem Kop­fe, – vie­le zu­sam­men sind der Herr: ein ein­zel­ner Be­griff, der Herr sein woll­te, heißt jetzt, wie ge­sagt, "fixe Idee". Dies ist un­se­re Art, die Ty­ran­nen zu mor­den, – wir win­ken mach dem lr­ren­hau­se hin.

231

Ge­fähr­lichs­te Aus­wan­de­rung – In Ruß­land gibt es eine Aus­wan­de­rung der In­tel­li­genz: man geht über die Gren­ze, um gute Bü­cher zu le­sen und zu schrei­ben. So wirkt man aber da­hin, das vom Geis­te ver­las­se­ne Va­ter­land im­mer mehr zum vor­ge­streck­ten Ra­chen Asi­ens zu ma­chen, der das klei­ne Eu­ro­pa ver­schlin­gen möch­te.

232

Die Staats-Nar­ren. – Die fast re­li­gi­öse Lie­be zum Kö­ni­ge ging bei den Grie­chen auf die Po­lis über, als es mit dem Kö­nig­tum zu Ende war. Und weil ein Be­griff mehr Lie­be er­trägt als eine Per­son, und na­ment­lich dem Lie­ben­den nicht so oft vor den Kopf stößt, wie ge­lieb­te Men­schen es tun (- denn je mehr sie sich ge­liebt wis­sen, de­sto rück­sichts­lo­ser wer­den sie meis­tens, bis sie end­lich der Lie­be nicht mehr wür­dig sind, und wirk­lich ein Riß ent­steht), so war die Po­lis- und Staats-Ver­eh­rung grö­ßer, als ir­gend je vor­her die Fürs­ten-Ver­eh­rung. Die Grie­chen sind die Staats-Nar­ren der al­ten Ge­schich­te – in der neue­ren sind es an­de­re Völ­ker.

 

233

Ge­gen die Ver­nach­läs­si­gung der Au­gen. – Ob man nicht bei den ge­bil­de­ten Klas­sen Eng­lands, wel­che die Ti­mes le­sen, alle zehn Jah­re eine Ab­nah­me der Seh­kraft nach­wei­sen könn­te?

234

Gro­ße Wer­ke und großer Glau­be. – Je­ner hat­te die großen Wer­ke, sein Ge­nos­se aber hat­te den großen Glau­ben an die­se Wer­ke. Sie wa­ren un­zer­trenn­lich: aber er­sicht­lich hing der ers­te­re völ­lig vom zwei­ten ab.

235

Der Ge­sel­li­ge. – "Ich be­kom­me mir nicht gut" sag­te je­mand, um sei­nen Hang zur Ge­sell­schaft zu er­klä­ren. "Der Ma­gen der Ge­sell­schaft ist stär­ker als der mei­ni­ge, er ver­trägt mich."

236

Au­gen-Schlie­ßen des Geis­tes. – Ist man ge­übt und ge­wohnt, über das Han­deln nach­zu­den­ken, so muß man doch beim Han­deln sel­ber (sei die­ses selbst nur Brief­schrei­ben oder Es­sen und Trin­ken) das in­ne­re Auge schlie­ßen. Ja, im Ge­spräch mit Durch­schnitts­men­schen muß man es ver­ste­hen, mit ge­schlos­se­nen Den­ker-Au­gen zu den­ken, – um näm­lich das Durch­schnitts-Den­ken zu er­rei­chen und zu be­grei­fen. Die­ses Au­gen-Schlie­ßen ist ein fühl­ba­rer, mit Wil­len voll­zieh­ba­rer Akt.

237

Die furcht­bars­te Ra­che. – Wenn man sich an ei­nem Geg­ner durch­aus rä­chen will, so soll man so lan­ge war­ten, bis man die gan­ze Hand voll Wahr­hei­ten und Ge­rech­tig­kei­ten hat und sie ge­gen ihn aus­spie­len kann, mit Ge­las­sen­heit: so daß Ra­che üben mit Ge­rech­tig­keit üben zu­sam­men­fällt. Es ist die furcht­bars­te Art der Ra­che: denn sie hat kei­ne In­stanz über sich, an die noch apel­liert wer­den könn­te. So räch­te sich Vol­taire an Pi­ron, mit fünf Zei­len, die über des­sen gan­zes Le­ben, Schaf­fen und Wol­len rich­ten: so­viel Wor­te, so­viel Wahr­hei­ten; so räch­te sich der­sel­be an Fried­rich dem Gro­ßen (in ei­nem Brie­fe an ihn, von Fer­ney aus).

238

Lu­xus-Steu­er. – Man kauft in den Lä­den das Nö­ti­ge und Nächs­te und muß es teu­er be­zah­len, weil man mit­be­zahlt, was dort auch feil steht, aber nur sel­ten sei­ne Ab­neh­mer hat: das Lu­xus­haf­te und Ge­lüst­ar­ti­ge. So legt der Lu­xus dem Ein­fa­chen, der sei­ner ent­rät, doch eine fort­wäh­ren­de Steu­er auf.

239

Wa­rum die Bett­ler noch le­ben. – Wenn alle Al­mo­sen nur aus Mit­lei­den ge­ge­ben wür­den, so wä­ren die Bett­ler al­le­samt ver­hun­gert.

240

Wa­rum die Bett­ler noch le­ben. – Die größ­te Al­mo­sen­spen­de­rin ist die Feig­heit.

241

Wie der Den­ker ein Ge­spräch be­nutzt. – Ohne Hor­cher zu sein, kann man viel hö­ren, wenn man ver­steht, gut zu se­hen, doch sich sel­ber für Zei­ten aus den Au­gen zu ver­lie­ren. Aber die Men­schen wis­sen ein Ge­spräch nicht zu be­nut­zen; sie ver­wen­den bei wei­tem zu­viel Auf­merk­sam­keit auf das, was sie sa­gen und ent­geg­nen wol­len, wäh­rend der wirk­li­che Hö­rer sich oft be­gnügt, vor­läu­fig zu ant­wor­ten und et­was als Ab­schlags­zah­lung der Höf­lich­keit über­haupt zu sa­gen, da­ge­gen mit sei­nem hin­ter­hal­ti­gen Ge­dächt­nis­se al­les da­von­trägt, was der an­de­re ge­äu­ßert hat, nebst der Art in Ton und Ge­bär­de, wie er es äu­ßer­te. – Im ge­wöhn­li­chen Ge­sprä­che meint je­der der Füh­ren­de zu sein, wie wenn zwei Schif­fe, die ne­ben­ein­an­der fah­ren und sich hier und da einen klei­nen Stoß ge­ben, bei­der­seits im gu­ten Glau­ben sind, ihr Nach­bar­schiff fol­ge oder wer­de so­gar ge­schleppt.

242

Die Kunst, sich zu ent­schul­di­gen. – Wenn sich je­mand vor uns ent­schul­digt, so muß er es sehr gut ma­chen: sonst kom­men wir uns sel­ber leicht als die Schul­di­gen vor und ha­ben eine un­an­ge­neh­me Emp­fin­dung.

243

Un­mög­li­cher Um­gang. – Das Schiff dei­ner Ge­dan­ken geht zu tief, als daß du mit ihm auf den Ge­wäs­sern die­ser freund­li­chen, an­stän­di­gen, ent­ge­gen­kom­men­den Per­so­nen fah­ren konn­test. Es sind da der Un­tie­fen und Sand­bän­ke zu vie­le: du wür­dest dich dre­hen und wen­den müs­sen und in fort­wäh­ren­der Ver­le­gen­heit sein, und jene wür­den als­bald auch in Ver­le­gen­heit ge­ra­ten – über dei­ne Ver­le­gen­heit, de­ren Ur­sa­che sie nicht er­ra­ten kön­nen.

244

Fuchs der Füch­se. – Ein rech­ter Fuchs nennt nicht nur die Trau­ben sau­er, wel­che er nicht er­rei­chen kann, son­dern auch die, wel­che er er­reicht und an­de­ren vor­weg­ge­nom­men hat.

245

Im nächs­ten Ver­keh­re. – Wenn Men­schen auch noch so eng zu­sam­men­ge­hö­ren: es gibt in­ner­halb ih­res ge­mein­sa­men Ho­ri­zon­tes doch noch alle vier Him­mels­rich­tun­gen, und in man­chen Stun­den mer­ken sie es.

246

Das Schwei­gen des Ekels. – Da macht je­mand als Den­ker und Mensch eine tie­fe, schmerz­haf­te Um­wand­lung durch und legt dann öf­fent­lich Zeug­nis da­von ab. Und die Hö­rer mer­ken nichts! glau­ben ihn noch ganz als den al­ten! – Die­se ge­wöhn­li­che Er­fah­rung hat man­chen Schrift­stel­lern schon Ekel ge­macht: sie hat­ten die In­tel­lek­tua­li­tät der Men­schen zu hoch ge­ach­tet und ge­lob­ten sich, als sie ih­ren Irr­tum wahr­nah­men, das Schwei­gen an.

247

Ge­schäfts-Ernst. – Die Ge­schäf­te man­ches Rei­chen und Vor­neh­men sind sei­ne Art Aus­ru­hens von all­zu­lan­gem ge­wohn­heits­mä­ßi­gem Mü­ßig­gang: er nimmt sie des­halb so ernst und pas­sio­niert, wie an­de­re Leu­te ihre sel­te­nen Muße-Er­ho­lun­gen und –Lieb­ha­be­rei­en.

248

Dop­pel­sinn des Au­ges. – Wie das Ge­wäs­ser zu dei­nen Fü­ßen eine plötz­li­che schup­pen­haf­te Er­zit­te­rung über­läuft, so gibt es auch im mensch­li­chen Auge sol­che plötz­li­che Un­si­cher­hei­ten und Zwei­deu­tig­kei­ten, bei de­nen man sich fragt: ist’s ein Schau­dern? ist’s ein Lä­cheln? ist’s bei­des?

249

Po­si­tiv und ne­ga­tiv. – Die­ser Den­ker braucht nie­man­den, der ihn wi­der­legt: er ge­nügt sich dazu sel­ber.

250

Die Ra­che der lee­ren Net­ze. – Man neh­me sich vor al­len Per­so­nen in acht, wel­che das bitt­re Ge­fühl des Fi­schers ha­ben, der nach mü­he­vol­lem Ta­ge­werk am Abend mit lee­ren Net­zen heim­fährt.

251

Sein Recht nicht gel­tend ma­chen. – Macht aus­üben kos­tet Mühe und er­for­dert Mut. Des­halb ma­chen so vie­le ihr gu­tes, al­ler­bes­tes Recht nicht gel­tend, weil dies Recht eine Art Macht ist, sie aber zu faul oder zu fei­ge sind, es aus­zuü­ben. Nach­sicht und Ge­duld hei­ßen die Deck­man­tel-Tu­gen­den die­ser Feh­ler.

252

Licht­trä­ger. – In der Ge­sell­schaft wäre kein Son­nen­schein, wenn ihn nicht die ge­bo­re­nen Schmei­chel­kat­zen mit hin­ein­bräch­ten, ich mei­ne die so­ge­nann­ten Lie­bens­wür­di­gen.

253

Am mild­tä­tigs­ten. – Wenn der Mensch eben sehr ge­ehrt wor­den ist und ein we­nig ge­ges­sen hat, so ist er am mild­tä­tigs­ten.

254

Zum Lich­te. – Die Men­schen drän­gen sich zum Lich­te, nicht um bes­ser zu se­hen, son­dern um bes­ser zu glän­zen. – Vor wem man glänzt, den läßt man ger­ne als Licht gel­ten.

255

Die Hy­po­chon­der. – Der Hy­po­chon­der ist ein Mensch, der ge­ra­de ge­nug Geist und Lust am Geis­te be­sitzt, um sei­ne Lei­den, sei­nen Ver­lust, sei­ne Feh­ler gründ­lich zu neh­men: aber sein Ge­biet, auf dem er sich nährt, ist zu klein; er wei­det es so ab, daß er end­lich die ein­zel­nen Hälm­chen su­chen muß. Da­bei wird er end­lich zum Nei­der und Geiz­hals – und dann erst ist er un­aus­steh­lich.

256

Zu­rück­er­stat­ten. – He­siod rät an, dem Nach­bar, der uns aus­ge­hol­fen hat, mit gu­tem Maße und wo­mög­lich reich­li­cher zu­rück­zu­ge­ben, so­bald wir es ver­mö­gen. Da­bei hat näm­lich der Nach­bar sei­ne Freu­de, denn sei­ne einst­ma­li­ge Gut­mü­tig­keit trägt ihm Zin­sen ein; aber auch der, wel­cher zu­rück­gibt, hat sein Freu­de, in­so­fern er die klei­ne einst­ma­li­ge De­mü­ti­gung, sich aus­hel­fen las­sen zu müs­sen, durch ein klei­nes Über­ge­wicht, als Schen­ken­der, zu­rück­kauft.

257

Fei­ner als nö­tig. – Un­ser Beo­b­ach­tungs­sinn da­für, ob an­de­re un­se­re Schwä­chen wahr­neh­men, ist viel fei­ner, als un­ser Beo­b­ach­tungs­sinn für die Schwä­chen an­de­rer: wor­aus sich also er­gibt, daß er fei­ner ist, als nö­tig wäre.

258

Ei­ne lich­te Art von Schat­ten. – Dicht ne­ben den ganz mäch­ti­gen Men­schen be­fin­det sich fast re­gel­mä­ßig, wie an sie an­ge­bun­den eine Licht­see­le. Sie ist gleich­sam der ne­ga­ti­ve Schat­ten, den jene wer­fen.

259

Sich nicht rä­chen? – Es gibt so vie­le fei­ne Ar­ten der Ra­che, daß ei­ner der An­laß hät­te sich zu rä­chen, im Grun­de tun oder las­sen kann, was er will: alle Welt wird doch nach ei­ni­ger Zeit über­ein­ge­kom­men sein, daß er sich ge­rächt ha­be. Sich nicht zu rä­chen steht also kaum im Be­lie­ben ei­nes Men­schen: daß er es nicht wol­le, darf er nicht ein­mal aus­spre­chen, weil die Ver­ach­tung der Ra­che als eine sub­li­me, sehr ern­pfind­li­che Ra­che ge­deu­tet und emp­fun­den wird – Woraus sich er­gibt, daß man nichts Ü­ber­flüs­si­ge­s tun soll – -

260

Irr­tum der Ehren­den. – Je­der glaubt ei­nem Den­ker et­was Ehren­des und An­ge­neh­mes Zu sa­gen wenn er ihm zeigt, wie er von sel­ber ge­nau auf den­sel­ben Ge­dan­ken und selbst auf den glei­chen Aus­druck ge­ra­ten sei; und doch wird bei sol­chen Mit­tei­lun­gen der Den­ker nur sel­ten er­götzt, aber häu­fig ge­gen sei­nen Ge­dan­ken und des­sen Aus­druck miß­trau­isch: er be­schließt im Stil­len, bei­de ein­mal zu re­vi­die­ren. – Man muß, wenn man je­man­den eh­ren will, sich vor dem Aus­druck: der Über­ein­stim­mung hü­ten: sie stellt auf ein glei­ches Ni­veau. – In vie­len Fäl­len ist es die Sa­che der ge­sell­schaft­li­chen Schick­lich­keit, eine Mei­nung so an­zu­hö­ren, als sei sie nicht die uns­ri­ge, ja als gin­ge sie über un­sern Ho­ri­zont hin­aus: zum Bei­spiel wenn der Alte, Al­ter­fah­re­ne ein­mal aus­nahms­wei­se den Schrein sei­ner Er­kennt­nis­se auf­schließt.