Friedrich Wilhelm Nietzsche – Gesammelte Werke

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261

Brief. – Der Brief ist ein un­an­ge­mel­de­ter Be­such, der Brief­bo­te der Ver­mitt­ler un­höf­li­cher Über­fäl­le. Man soll­te alle acht Tage eine Stun­de zum Brief­emp­fan­gen ha­ben und dar­nach ein Bad neh­men.

262

Der Vor­ein­ge­nom­me­ne. – Je­mand sag­te: ich bin ge­gen mich vor­ein­ge­nom­men, von Kin­des­bei­nen an: des­halb fin­de ich in je­dem Ta­del et­was Wahr­heit und in je­dem Lobe et­was Dumm­heit. Das Lob wird von mir ge­wöhn­lich zu ge­ring und der Ta­del zu hoch ge­schätzt.

263

Weg zur Gleich­heit. – Ei­ni­ge Stun­den Berg­stei­gens ma­chen aus ei­nem Schuft und ei­nem Hei­li­gen zwei ziem­lich glei­che Ge­schöp­fe. Die Er­mü­dung ist der kür­zes­te Weg zur Gleich­heit und Brü­der­lich­keit – und die Frei­heit wird end­lich durch den Schlaf hin­zu­ge­ge­ben.

264

Ver­leum­dung. – Kommt man ei­ner ei­gent­lich in­fa­men Ver­däch­ti­gung auf die Spur, so su­che man ih­ren Ur­sprung nie bei sei­nen ehr­li­chen und ein­fa­chen Fein- den; denn die­se wür­den, wenn sie so et­was über uns er­fän­den, als Fein­de kei­nen Glau­ben fin­den. Aber jene, de­nen wir eine Zeit­lang am meis­ten genützt ha­ben, wel­che aber, aus ir­gend ei­nem Grun­de, im Ge­hei­men si­cher dar­über sein dür­fen, nichts mehr von uns zu er­lan­gen, – sol­che sind im­stan­de, die In­fa­mie ins Rol­len zu brin­gen: sie fin­den Glau­ben, ein­mal weil man an­nimmt, daß sie nichts er­fin­den wür­den, was ih­nen sel­ber Scha­den brin­gen könn­te; so­dann weil sie uns nä­her ken­nen­ge­lernt ha­ben. – Zum Tros­te mag sich der so schlimm ver­leum­de­te sa­gen: Ver­leum­dun­gen sind Krank­hei­ten an­de­rer, die an dei­nem Lei­be aus­bre­chen; sie be­wei­sen, daß die Ge­sell­schaft ein (mo­ra­li­scher) Kör­per ist, so daß du an dir die Kur vor­neh­men kannst, die den An­de­ren nüt­zen soll.

265

Das Kin­der-Him­mel­reich. – Das Glück des Kin­des ist eben­so sehr ein My­thus wie das Glück der Hy­per­bo­re­er, von dem die Grie­chen er­zähl­ten. Wenn das Glück über­haupt auf Er­den wohnt, mein­ten die­se, dann ge­wiß mög­lichst weit von uns, etwa dort am Ran­de der Erde. Eben­so den­ken die äl­te­ren Men­schen: wenn der Mensch über­haupt glück­lich sein kann, dann ge­wiß mög­lichst fern von un­se­rem Al­ter, an den Gren­zen und An­fän­gen des Le­bens. Für man­chen Men­schen ist der An­blick der Kin­der, durch den Schlei­er die­ses My­thus hin­durch, das größ­te Glück, des­sen er teil­haf­tig wer­den kann; er geht sel­ber bis in den Vor­hof des Him­mel­reichs, wenn er sagt "las­set die Kind­lein zu mir kom­men, denn ih­rer ist das Him­mel­reich". – Der My­thus vom Kin­der-Him­mel­reich ist über­all ir­gend­wie tä­tig, wo es in der mo­der­nen Welt et­was von Sen­ti­men­ta­li­tät gibt.

266

Die Un­ge­dul­di­gen. – Gera­de der Wer­den­de will das Wer­den­de nicht: er ist zu un­ge­dul­dig da­für. Der Jüng­ling will nicht war­ten, bis, nach lan­gen Stu­di­en, Lei­den und Ent­beh­run­gen, sein Ge­mäl­de von Men­schen und Din­gen voll wer­de: so nimmt er ein an­de­res, das fer­tig da­steht und ihm an­ge­bo­ten wird, auf Treu und Glau­ben an, als müs­se es ihm die Li­ni­en und Far­ben sei­nes Ge­mäl­des vor­weg ge­ben, er wirft sich ei­nem Phi­lo­so­phen, ei­nem Dich­ter ans Herz und muß nun eine lan­ge Zeit Fron­diens­te tun und sich sel­ber ver­leug­nen. Vie­les lernt er da­bei: aber häu­fig ver­gißt ein Jüng­ling das Ler­nens- und Er­kennt­nis­wer­tes­te dar­über – sich sel­ber; er bleibt zeit­le­bens ein Par­tei­gän­ger. Ach, es ist viel Lan­ge­wei­le zu über­win­den, viel Schweiß nö­tig, bis man sei­ne Far­ben, sei­nen Pin­sel, sei­ne Lein­wand ge­fun­den hat! – Und dann ist man noch lan­ge nicht Meis­ter sei­ner Le­bens­kunst – aber we­nigs­tens Herr in der ei­ge­nen Werk­statt.

267

Es gibt kei­ne Er­zie­her. – Nur von Selbst-Er­zie­hung sol­le man als Den­ker re­den. Die Ju­gend-Er­zie­hung durch an­de­re ist ent­we­der ein Ex­pe­ri­ment, an ei­nem noch Uner­kann­ten, Uner­kenn­ba­ren voll­zo­gen, oder eine grund­sätz­li­che Ni­vel­lie­rung, um das neue We­sen, wel­ches es auch sei, den Ge­wohn­hei­ten und Sit­ten, wel­che herr­schen, ge­mäß zu ma­chen: in bei­den Fäl­len also et­was, das des Den­kers un­wür­dig ist, das Werk der El­tern und Leh­rer, wel­che ei­ner der ver­we­ge­nen Ehr­li­chen nos en­ne­mis na­tu­rels ge­nannt hat. – Ei­nes Ta­ges, wenn man längst, nach der Mei­nung der Welt, er­zo­gen ist, ent- deck­t man sich sel­ber: da be­ginnt die Auf­ga­be des Den­kers; jetzt ist es Zeit, ihn zu Hil­fe zu ru­fen – nicht als einen Er­zie­her, son­dern als einen Selbst-Er­zo­ge­nen, der Er­fah­rung hat.

268

Mit­lei­den mit der Ju­gend. – Es jam­mert uns, wenn wir hö­ren, daß ei­nem Jüng­lin­ge schon die Zäh­ne aus­bre­chen, ei­nem an­dern die Au­gen er­blin­den. Wüß­ten wir al­les Un­wi­der­ruf­li­che und Hoff­nungs­lo­se, das in sei­nem gan­zen We­sen steckt, wie groß wür­de erst der Jam­mer sein! – Wes­halb lei­den wir hier­bei ei­gent­lich? Weil die Ju­gend fort­füh­ren soll, was wir un­ter­nom­men ha­ben, und je­der Ab- und An­bruch ih­rer Kraft un­se­rem Wer­ke, das in ihre Hän­de fällt, zum Scha­den ge­rei­chen will. Es ist der Jam­mer über die schlech­te Ga­ran­tie un­se­rer Uns­terb­lich­keit: oder wenn wir uns nur als Voll­stre­cker der Mensch­heits-Mis­si­on füh­len, der Jam­mer dar­über, daß die­se Mis­si­on in schwä­che­re Hän­de, als die uns­ri­gen sind, über­ge­hen muß.

269

Die Le­bensal­ter. – Die Ver­glei­chung der vier Jah­res­zei­ten mit den vier Le­bensal­tern ist eine ehr­wür­di­ge Al­bern­heit. We­der die ers­ten 20, noch die letz­ten 20 Jah­re des Le­bens ent­spre­chen ei­ner Jah­res­zeit: vor­aus­ge­setzt, daß man sich bei der Ver­glei­chung nicht mit dem Weiß des Haa­res und Schnees und mit ähn­li­chen Far­ben­spie­len be­gnügt. Jene ers­ten zwan­zig Jah­re sind eine Vor­be­rei­tung auf das Le­ben über­haupt, auf das gan­ze Le­bens­jahr, als eine Art lan­gen Neu­jahrs­ta­ges; und die letz­ten zwan­zig über­schau­en, ver­in­ner­li­chen, brin­gen in Fug und Zu­sam­men­klang, was nur al­les vor­her er­lebt wur­de: so wie man es, in klei­nem Maße, an je­dem Sil­ves­ter­ta­ge mit dem gan­zen ver­flos­se­nen Jah­re tut. Zwi­schen inne liegt aber in der Tat ein Zeit­raum, wel­cher die Ver­glei­chung mit den Jah­res­zei­ten na­he­legt der Zeit­raum vom zwan­zigs­ten bis zum fünf­zigs­ten Jah­re (um hier ein­mal in Bausch und Bo­gen nach Jahr­zehn­ten zu rech­nen, wäh­rend es sich von sel­ber ver­steht, daß je­der nach sei­ner Er­fah­rung die­se gro­ben An­sät­ze für sich ver­fei­nern muß). Jene drei­mal zehn Jah­re ent­spre­chen drei­en Jah­res­zei­ten: dem Som­mer, dem Früh­ling und dem Herbs­te, – einen Win­ter hat das mensch­li­che Le­ben nicht, es sei denn, daß man die lei­der nicht sel­ten ein­ge­floch­te­nen har­ten, kal­ten, ein­sa­men, hoff­nungs­ar­men, un­frucht­ba­ren Krank­heits­zei­ten die Win­ter­zei­ten der Men­schen nen­nen will. Die zwan­zi­ger Jah­re: heiß, läs­tig, ge­wit­ter­haft, üp­pig trei­bend, müde ma­chend, Jah­re, in de­nen man den Tag am Abend, wenn er zu Ende ist, preist und sich da­bei die Stirn ab­wischt: Jah­re, in de­nen die Ar­beit uns hart, aber not­wen­dig dünkt, – die­se zwan­zi­ger Jah­re sind der Som­mer des Le­bens. Die drei­ßi­ger da­ge­gen sind sein Früh­ling: die Luft bald zu warm, bald zu kalt, im­mer un­ru­hig und an­rei­zend: quel­len­der Saft, Blät­t­er­fül­le, Blü­ten­duft über­all: vie­le be­zau­bern­de Mor­gen und Näch­te: die Ar­beit, zu der der Vo­gel­ge­sang uns weckt, eine rech­te Her­zens-Ar­beit, eine Art Ge­nuß der ei­ge­nen Rüs­tig­keit, ver­stärkt durch vor­ge­nie­ßen­de Hoff­nun­gen. End­lich die vier­zi­ger Jah­re: ge­heim­nis­voll, wie al­les Stil­le­ste­hen­de; ei­ner ho­hen wei­ten Berg-Ebe­ne glei­chend, an der ein fri­scher Wind hin­läuft; mit ei­nem kla­ren, wol­ken­lo­sen Him­mel dar­über, wel­cher den Tag über und in die Näch­te hin­ein im­mer mit der glei­chen Sanft­mut blickt: die Zeit der Ern­te und der herz­lichs­ten Hei­ter­keit – es ist der Herbst des Le­bens.

270

Der Geist der Frau­en in der jet­zi­gen Ge­sell­schaft. – Wie die Frau­en jetzt über den Geist der Män­ner den­ken, er­rät man dar­aus, daß sie bei ih­rer Kunst des Schmückens an al­les eher den­ken, als den Geist ih­rer Züge oder die geist­rei­chen Ein­zel­hei­ten ih­res Ge­sichts noch be­son­ders zu un­ter­strei­chen: sie ver­ber­gen Der­ar­ti­ges viel­mehr und wis­sen sich da­ge­gen, zum Bei­spiel durch eine An­ord­nung des Haars über der Stirn, den Aus­druck ei­ner le­ben­dig be­geh­ren­den Sinn­lich­keit und Un­geis­tig­keit zu ge­ben, ge­ra­de wenn sie die­se Ei­gen­schaf­ten nur we­nig be­sit­zen. Ihre Über­zeu­gung, daß der Geist bei Wei­bern die Män­ner er­schre­cke, geht so weit, daß sie selbst die Schär­fe des geis­tigs­ten Sin­nes gern ver­leug­nen und den Ruf der Kurz­sich­tig­keit ab­sicht­lich auf sich la­den; da­durch glau­ben sie wohl die Män­ner zu­trau­li­cher zu ma­chen: es ist, als ob sich eine ein­la­den­de sanf­te Däm­me­rung um sie ver­brei­te.

271

Groß und ver­gäng­lich. – Was den Be­trach­ten­den zu Trä­nen rührt, das ist der schwär­me­ri­sche Glückes- Blick, mit dem eine schö­ne jun­ge Frau ih­ren Gat­ten an­sieht. Man emp­fin­det alle Herbst-Weh­mut da­bei, über die Grö­ße so­wohl, als über die Ver­gäng­lich­keit des mensch­li­chen Glückes.

 

272

Op­fer-Sinn. – Man­che Frau hat den in­tel­let­to del sa­cri­fi­zio und wird ih­res Le­bens nicht mehr froh, wenn der Gat­te sie nicht op­fern will: sie weiß dann mit ih­rem Ver­stan­de nicht mehr wo­hin? und wird un­ver­se­hens aus dem Op­fer­tier der Op­fer­pries­ter sel­ber.

273

Das Un­weib­li­che. – "Dumm wie ein Mann" sa­gen die Frau­en: "fei­ge wie ein Weib" sa­gen die Män­ner. Die Dumm­heit ist am Wei­be das Un­weib­li­che.

274

Männ­li­ches und weib­li­ches Tem­pe­ra­ment und die Sterb­lich­keit. – Daß das männ­li­che Ge­schlecht ein schlech­te­res Tem­pe­ra­ment hat, als das weib­li­che, er­gibt sich auch dar­aus, daß die männ­li­chen Kin­der der Sterb­lich­keit mehr aus­ge­setzt sind, als die weib­li­chen, of­fen­bar weil sie leich­ter "aus der Haut fah­ren": ihre Wild­heit und Un­ver­träg­lich­keit ver­schlim­mert alle Übel leicht bis ins Töd­li­che.

275

Die Zeit der Zy­klo­pen-Bau­ten. – Die De­mo­kra­ti­sie­rung Eu­ro­pas ist un­auf­halt­sam: wer sich da­ge­gen stemmt, ge­braucht doch eben die Mit­tel dazu, wel­che erst der de­mo­kra­ti­sche Ge­dan­ke je­der­mann in die Hand gab, und macht die­se Mit­tel sel­ber hand­li­cher und wirk­sa­mer: und die grund­sätz­lichs­ten Geg­ner der De­mo­kra­tie (ich mei­ne die Um­sturz­geis­ter) schei­nen nur des­halb da zu sein, um durch die Angst, wel­che sie er­re­gen, die ver­schie­de­nen Par­tei­en im­mer schnel­ler auf der de­mo­kra­ti­schen Bahn vor­wärts zu trei­ben. Nun kann es ei­nem an­ge­sichts de­rer, wel­che jetzt be­wußt und ehr­lich für die­se Zu­kunft ar­bei­ten, in der Tat ban­ge wer­den: es liegt et­was Ödes und Ein­för­mi­ges in ih­ren Ge­sich­tern, und der graue Staub scheint auch bis in ihre Ge­hir­ne hin­ein ge­weht zu sein. Trotz­dem: es ist mög­lich, daß die Nach­welt über die­ses un­ser Ban­gen ein­mal lacht und an die de­mo­kra­ti­sche Ar­beit ei­ner Rei­he von Ge­schlech­tern etwa so denkt, wie wir an den Bau von Stein­däm­men und Schutz­mau­ern – als an eine Tä­tig­keit, die not­wen­dig viel Staub auf Klei­der und Ge­sich­ter brei­tet und un­ver­meid­lich wohl auch die Ar­bei­ter ein we­nig blöd­sin­nig macht; aber wer wür­de des­we­gen sol­ches Tun un­ge­tan wün­schen! Es scheint, daß die De­mo­kra­ti­sie­rung Eu­ro­pas ein Glied in der Ket­te je­ner un­ge­heu­ren pro­phy­lak- ti­schen Maß­re­geln ist, wel­che der Ge­dan­ke der neu­en Zeit sind und mit de­nen wir uns ge­gen das Mit­tel­al­ter ab­he­ben. Jetzt erst ist das Zeit­al­ter der Zy­klo­pen­bau­ten! End­li­che Si­cher­heit der Fun­da­men­te, da­mit alle Zu­kunft auf ih­nen ohne Ge­fahr bau­en kann! Un­mög­lich­keit für­der­hin, daß die Frucht­fel­der der Kul­tur wie­der über Nacht von wil­den und sinn­lo­sen Berg­wäs­sern zer­stört wer­den! Stein­däm­me und Schutz­mau­ern ge­gen Bar­ba­ren, ge­gen Seu­chen, ge­gen leib­li­che und geis­ti­ge Ver­knech­tung! Und dies al­les zu­nächst wört­lich und gröb­lich, aber all­mäh­lich im­mer hö­her und geis­ti­ger ver­stan­den, so daß alle hier an­ge­deu­te­ten Maß­re­geln die geist­rei­che Ge­samt­vor­be­rei­tung des höchs­ten Künst­lers der Gar­ten­kunst zu sein schei­nen, der sich dann erst zu sei­ner ei­gent­li­chen Auf­ga­be wen­den kann, wenn jene voll­kom­men aus­ge­führt ist! – Frei­lich: bei den wei­ten Zeit­stre­cken, wel­che hier zwi­schen Mit­tel und Zweck lie­gen, bei der großen, über­großen, Kraft und Geist von Jahr­hun­der­ten an­span­nen­den Müh­sal, die schon not tut, um nur je­des ein­zel­ne Mit­tel zu schaf­fen oder her­bei­zu­schaf­fen, darf man es den Ar­bei­tern an der Ge­gen­wart nicht zu hart an­rech­nen, wenn sie laut de­kre­tie­ren, die Mau­er und das Spa­lier sei schon der Zweck und das letz­te Ziel; da ja noch nie­mand den Gärt­ner und die Frucht­pflan­zen sieht, um de­rent­wil­len das Spa­lier da ist.

276

Das Recht des all­ge­mei­nen Stimm­rechts. – Das Volk hat sich das all­ge­mei­ne Stimm­recht nicht ge­ge­ben, es hat das­sel­be, über­all, wo es jetzt in Gel­tung ist, emp­fan­gen und vor­läu­fig an­ge­nom­men: je­den­falls hat es aber das Recht, es wie­der zu­rück­zu­ge­ben, wenn es sei­nen Hoff­nun­gen nicht ge­nug tut. Dies scheint jetzt al­ler­or­ten der Fall zu sein: denn wenn bei ir­gend ei­ner Ge­le­gen­heit, wo es ge­braucht wird, kaum Zwei­drit­tel, ja viel­leicht nicht ein­mal die Ma­jo­ri­tät al­ler Stimm­be­rech­tig­ten an die Stimm-Urne kommt, so ist dies ein Vo­tum ge­gen das gan­ze Stimm­sys­tem über­haupt. – Man muß hier so­gar noch viel stren­ger ur­tei­len. Ein Ge­setz, wel­ches be­stimmt, daß die Ma­jo­ri­tät über das Wohl al­ler die letz­te Ent­schei­dung habe, kann nicht auf der­sel­ben Grund­la­ge, wel­che durch das­sel­be erst ge­ge­ben wird, auf­ge­baut wer­den; es be­darf not­wen­dig ei­ner noch brei­te­ren: und dies ist die Ein­stim­mig­keit al­ler. Das all­ge­mei­ne Stimm­recht darf nicht nur der Aus­druck ei­nes Ma­jo­ri­tä­ten-Wil­lens sein: das gan­ze Land muß es wol­len. Des­halb ge­nügt schon der Wi­der­spruch ei­ner sehr klei­nen Mi­no­ri­tät, das­sel­be als un­tun­lich wie­der bei­sei­te zu stel­len: und die Nicht­be­tei­li­gung an ei­ner Ab­stim­mung ist eben ein sol­cher Wi­der­spruch, der das gan­ze Stimm­sys­tem zum Fal­le bringt. Das "ab­so­lu­te Veto" des ein­zel­nen oder, um nicht ins Klein­li­che zu ver­fal­len, das Veto we­ni­ger Tau­sen­de hängt über die­sem Sys­tem, als die Kon­se­quenz der Ge­rech­tig­keit: bei je­dem Ge­brau­che, den man von ihm macht, muß es, laut der Art von Be­tei­li­gung, erst be­wei­sen, daß es noch zu Recht be­steht.

277

Das schlech­te Schlie­ßen. – Wie schlecht schließt man, auf Ge­bie­ten, wo man nicht zu Hau­se ist, selbst wenn man als Mann der Wis­sen­schaft noch so sehr an das gute Schlie­ßen ge­wöhnt ist! Es ist be­schä­mend! Und nun ist klar, daß im großen Welt­trei­ben, in Sa­chen der Po­li­tik, bei al­lem Plötz­li­chen und Drän­gen­den, wie es fast je­der Tag her­auf­führt, eben die­ses schlech­te Schlie­ßen ent­schei­det: denn nie­mand ist völ­lig in dem zu Hau­se, was über Nacht neu ge­wach­sen ist; al­les Po­li­ti­sie­ren, auch bei den größ­ten Staats­män­nern, ist Im­pro­vi­sie­ren auf gut Glück.

278

Prä­mis­sen des Ma­schi­nen-Zeit­al­ters. – Die Pres­se, die Ma­schi­ne, die Ei­sen­bahn, der Te­le­graph sind Prä­mis­sen, de­ren tau­send­jäh­ri­ge Kon­klu­si­on noch nie­mand zu zie­hen ge­wagt hat.

279

Ein Hemm­schuh der Kul­tur. – Wenn wir hö­ren: dort ha­ben die Män­ner nicht Zeit zu den pro­duk­ti­ven Ge­schäf­ten; Waf­fen­übun­gen und Um­zü­ge neh­men ih­nen den Tag weg, und die üb­ri­ge Be­völ­ke­rung muß sie er­näh­ren und klei­den, ihre Tracht aber ist auf­fal­lend, oft­mals bunt und voll Narr­hei­ten; dort sind nur we­ni­ge un­ter­schei­den­de Ei­gen­schaf­ten an­er­kannt, die ein­zel­nen glei­chen ein­an­der mehr als an­der­wärts oder wer­den doch als Glei­che be­han­delt; dort ver­langt und gibt man Ge­hor­sam ohne Ver­ständ­nis: man be­fiehlt, aber man hü­tet sich zu über­zeu­gen; dort sind die Stra­fen we­ni­ge, die­se we­ni­gen aber sind hart und ge­hen schnell zum Letz­ten, Fürch­ter­lichs­ten; dort gilt der Ver­rat als das größ­te Ver­bre­chen, schon die Kri­tik der Übel­stän­de wird nur von den Mu­tigs­ten ge­wagt; dort ist ein Men­schen­le­ben wohl­feil, und der Ehr­geiz nimmt häu­fig die Form an, daß er das Le­ben in Ge­fahr bringt, – wer dies al­les hört, wird so­fort sa­gen: "es ist das Bild ei­ner bar­ba­ri­schen, in Ge­fahr schwe­ben­den Ge­sell­schaft." Vi­el­leicht, daß der eine hin­zu­fügt: "es ist die Schil­de­rung Spar­tas"; ein an­de­rer wird aber nach­denk­lich wer­den und ver­mei­nen, es sei un­ser mo­der­nes Mi­li­tär­we­sen be­schrie­ben, wie es in­mit­ten uns­rer an­ders­ar­ti­gen Kul­tur und So­zie­tät da­steht – als ein le­ben­di­ger Anachro­nis­mus, als das Bild, wie ge­sagt, ei­ner bar­ba­ri­schen, in Ge­fahr schwe­ben­den Ge­sell­schaft, als ein post­hu­mes Werk der Ver­gan­gen­heit, wel­ches für die Rä­der der Ge­gen­wart nur den Wert ei­nes Hemm­schuhs ha­ben kann. – Mit­un­ter tut aber auch ein Hemm­schuh der Kul­tur auf das Höchs­te not: wenn es näm­lich zu schnell bergab oder, wie in die­sem Fal­le viel­leicht, berg­auf geht.

280

Mehr Ach­tung vor den Wis­sen­den! – Bei der Kon­kur­renz der Ar­beit und der Ver­käu­fer ist das Pub­li­kum zum Rich­ter über das Hand­werk ge­macht: das hat aber kei­ne stren­ge Sach­kennt­nis und ur­teilt nach dem Schei­ne der Güte. Folg­lich wird die Kunst des Schei­nes (und viel­leicht der Ge­schmack) un­ter der Herr­schaft der Kon­kur­renz stei­gen, da­ge­gen die Qua­li­tät al­ler Er­zeug­nis­se sich ver­schlech­tern müs­sen. Folg­lich wird, wo­fern nur die Ver­nunft nicht im Wer­te fällt, ir­gend­wann je­ner Kon­kur­renz ein Ende ge­macht wer­den und ein neu­es Prin­zip den Sieg über sie da­von­tra­gen. Nur der Hand­werks­meis­ter soll­te über das Hand­werk ur­tei­len, und das Pub­li­kum ab­hän­gig sein vom Glau­ben an die Per­son des Ur­tei­len­den und an sei­ne Ehr­lich­keit. Dem­nach kei­ne an­ony­me Ar­beit! Min­des­tens müß­te ein Sach­ken­ner als Bür­ge der­sel­ben da­sein und sei­nen Na­men als Pfand ein­set­zen, wenn der Name des Ur­he­bers fehlt oder klang­los ist. Die Wohl­feil­heit ei­nes Wer­kes ist für den Lai­en eine an­de­re Art Schein und Trug, da erst die Dau­er­haf­tig­keit ent­schei­det, daß und in­wie­fern eine Sa­che wohl­feil ist; jene aber ist schwer und von dem Lai­en gar nicht zu be­ur­tei­len. – Also: was Ef­fekt auf das Auge macht und we­nig kos­tet, das be­kommt jetzt das Über­ge­wicht, – und das wird na­tür­lich die Ma­schi­nen­ar­beit sein. Hin­wie­der­um be­güns­tigt die Ma­schi­ne, das heißt die Ur­sa­che der größ­ten Schnel­lig­keit und Leich­tig­keit der Her­stel­lung, auch ih­rer­seits die ver­käuf­lichs­te Sor­te: sonst ist kein er­heb­li­cher Ge­winn mit ihr zu ma­chen; sie wür­de zu we­nig ge­braucht und zu oft stil­le ste­hen. Was aber am ver­käuf­lichs­ten ist, dar­über ent­schei­det das Pub­li­kum, wie ge­sagt: es muß das Täu­schends­te sein, das heißt das, was ein­mal gut scheint und so­dann auch wohl­feil scheint. Also auch auf dem Ge­bie­te der Ar­beit muß un­ser Lo­sungs­wort sein: "Mehr Ach­tung vor den Wis­sen­den!"

281

Die Ge­fahr der Kö­ni­ge. – Die De­mo­kra­tie hat es in der Hand, ohne alle Ge­walt­mit­tel, nur durch einen ste­tig ge­üb­ten ge­setz­mä­ßi­gen Druck, das Kö­nig- und Kai­ser­tum hohl zu ma­chen: bis eine Null üb­rig bleibt, viel­leicht, wenn man will, mit der Be­deu­tung je­der Null, daß sie, an sich nichts, doch an die rech­te Sei­te ge­stellt, die Wir­kung ei­ner Zahl ver­zehn­facht. Das Kai­ser- und Kö­nig­tum blie­be ein pracht­vol­ler Zier­rat an der schlich­ten und zweck­mä­ßi­gen Ge­wan­dung der De­mo­kra­tie, das schö­ne Über­flüs­si­ge, wel­ches sie sich gönnt, der Rest al­les his­to­risch ehr­wür­di­gen Ur­vä­ter­zier­ra­tes, ja das Sym­bol der His­to­rie sel­ber – und in die­ser Ein­zig­keit et­was höchst Wirk­sa­mes, wenn es, wie ge­sagt, nicht für sich al­lein steht, son­dern rich­tig ge­stell­t wird. – Um der Ge­fahr je­ner Aus­höh­lung vor­zu­beu­gen, hal­ten die Kö­ni­ge jetzt mit den Zäh­nen an ih­rer Wür­de als Kriegs­fürs­ten fest: dazu brau­chen sie Krie­ge, das heißt Aus­nah­me­zu­stän­de, in de­nen je­ner lang­sa­me, ge­setz­mä­ßi­ge Druck der de­mo­kra­ti­schen Ge­wal­ten pau­siert.