Friedrich Wilhelm Nietzsche – Gesammelte Werke

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296

Rech­nen und mes­sen. – Vie­le Din­ge se­hen, mit­ein­an­der er­wä­gen, ge­gen­ein­an­der ab­rech­nen und aus ih­nen einen schnel­len Schluß, eine ziem­lich si­che­re Sum­me bil­den, – das macht den großen Po­li­ti­ker, Feld­herrn, Kauf­mann: also die Ge­schwin­dig­keit in ei­ner Art von Kopf­rech­nen. Ei­ne Sa­che se­hen, in ihr das ein­zi­ge Mo­tiv zum Han­deln, die Rich­te­rin al­les üb­ri­gen Han­delns fin­den, macht den Hel­den, auch den Fa­na­ti­ker – also eine Fer­tig­keit im Mes­sen mit ei­nem Maß­sta­be.

297

Nicht un­zei­tig se­hen wol­len. – So­lan­ge man et­was er­lebt, muß man dem Er­leb­nis sich hin­ge­ben und die Au­gen schlie­ßen, also nicht da­rin schon den Beo­b­ach­ter ma­chen. Das näm­lich wür­de die gute Ver­dau­ung des Er­leb­nis­ses stö­ren: an­statt ei­ner Weis­heit trü­ge man eine In­di­ge­s­ti­on da­von.

298

Aus der Pra­xis des Wei­sen. – Um wei­se zu wer­den, muß man ge­wis­se Er­leb­nis­se er­le­ben wol­len, also ih­nen in den Ra­chen lau­fen. Sehr ge­fähr­lich ist dies frei­lich; man­cher "Wei­se" wur­de da­bei auf­ge­fres­sen.

299

Die Er­mü­dung des Geis­tes. – Un­se­re ge­le­gent­li­che Gleich­gül­tig­keit und Käl­te ge­gen Men­schen, wel­che uns als Här­te und Cha­rak­ter­man­gel aus­ge­legt wird, ist häu­fig nur eine Er­mü­dung des Geis­tes: bei die­ser sind uns die An­de­ren, wie wir uns sel­ber, gleich­gül­tig oder läs­tig.

300

"Eins ist not." – Wenn man klug ist, ist ei­nem al­lein dar­um zu tun, daß man Freu­de im Her­zen habe. – Ach, setz­te je­mand hin­zu, wenn man klug ist, tut man am bes­ten, wei­se zu sein.

301

Ein Zeug­nis der Lie­be. – Je­mand sag­te: "Über zwei Per­so­nen habe ich nie gründ­lich nach­ge­dacht: es ist das Zeug­nis mei­ner Lie­be zu ih­nen."

302

Wie man schlech­te Ar­gu­men­te zu ver­bes­sern sucht – Man­cher wirft sei­nen schlech­ten Ar­gu­men­ten noch ein Stück sei­ner Per­sön­lich­keit hin­ten­nach, wie als ob jene da­durch rich­ti­ger ihre Bahn lau­fen wür­den und sich in ge­ra­de und gute Ar­gu­men­te ver­wan­deln lie­ßen; ganz wie die Ke­gel­schie­ber auch nach dem Wur­fe noch mit Ge­bär­den und Schwen­kun­gen der Ku­gel die Rich­tung zu ge­ben su­chen.

303

Die Recht­lich­keit. – Es ist noch we­nig, wenn man in be­zug auf Rech­te und Ei­gen­tum ein Mus­ter- Mensch ist; wenn man zum Bei­spiel als Kna­be nie Obst in frem­den Gär­ten nimmt, als Mann nicht über un­ge­mäh­te Wie­sen läuft, – um klei­ne Din­ge zu nen­nen, wel­che wie be­kannt, den Be­weis für die­se Art von Mus­ter­haf­tig­keit bes­ser ge­ben als große. Es ist noch we­nig: man ist dann im­mer erst eine "ju­ris­ti­sche Per­son", mit je­nem Grad von Mora­li­tät, de­ren so­gar eine "Ge­sell­schaft", ein Men­schen-Klum­pen fä­hig ist.

304

Mensch! – Was ist die Ei­tel­keit des ei­tels­ten Men­schen ge­gen die Ei­tel­keit, wel­che der Be­schei­dens­te be­sitzt, in Hin­sicht dar­auf, daß er sich in der Na­tur und Welt als "Mensch" fühlt.

305

Nö­tigs­te Gym­nas­tik. – Durch den Man­gel an klei­ner Selbst­be­herr­schung brö­ckelt die Fä­hig­keit zur großen ab. Je­der Tag ist schlecht be­nutzt und eine Ge­fahr für den nächs­ten, an dem man nicht we­nigs­tens ein­mal sich et­was im klei­nen ver­sag­t hat: die­se Gym­nas­tik ist un­ent­behr­lich, wenn man sich die Freu­de, sein ei­ge­ner Herr zu sein, er­hal­ten will.

306

Sich sel­ber ver­lie­ren. – Wenn man erst sich sel­ber ge­fun­den hat, muß man ver­ste­hen, sich von Zeit zu Zeit zu ver­lie­ren – und dann wie­der zu fin­den: vor­aus­ge­setzt daß man ein Den­ker ist. Die­sem ist es näm­lich nach­tei­lig, im­mer­dar an eine Per­son ge­bun­den zu sein.

307

Wann Ab­schied neh­men not tut. – Von dem, was du er­ken­nen und mes­sen willst, mußt du Ab­schied neh­men, we­nigs­tens auf eine Zeit. Erst wenn du die Stadt ver­las­sen hast, siehst du, wie hoch sich ihre Tür­me über die Häu­ser er­he­ben.

308

Am Mit­tag. – Wem ein tä­ti­ger und stür­me­rei­cher Mor­gen des Le­bens be­schie­den war, des­sen See­le über­fällt um den Mit­tag des Le­bens eine selt­sa­me Ru­he­sucht, die mon­den- und jah­re­lang dau­ern kann. Es wird still um ihn, die Stim­men klin­gen fern und fer­ner; die Son­ne scheint steil auf ihn her­ab. Auf ei­ner ver­bor­ge­nen Wald­wie­se sieht er den großen Pan schla­fend; alle Din­ge der Na­tur sind mit ihm ein­ge­schla­fen, einen Aus­druck von Ewig­keit im Ge­sich­te – so dünkt es ihm. Er will nichts, er sorgt sich um nichts, sein Herz steht still, nur sein Auge lebt, – es ist ein Tod mit wa­chen Au­gen. Vie­les sieht da der Mensch, was er nie sah, und so­weit er sieht, ist al­les in ein Licht­netz ein­ge­spon­nen und gleich­sam dar­in be­gra­ben. Er fühlt sich glück­lich da­bei, aber es ist ein schwe­res, schwe­res Glück. – Da end­lich er­hebt sich der Wind in den Bäu­men, Mit­tag ist vor­bei, das Le­ben reißt ihn wie­der an sich, das Le­ben mit blin­den Au­gen, hin­ter dem sein Ge­fol­ge her­stürmt: Wunsch, Trug, Ver­ges­sen, Ge­nie­ßen, Ver­nich­ten, Ver­gäng­lich­keit. Und so kommt der Abend her­auf, stür­me­rei­cher und ta­ten­vol­ler, als selbst der Mor­gen war. – Den ei­gent­lich tä­ti­gen Men­schen er­schei­nen die län­ger wäh­ren­den Zu­stän­de des Er­ken­nens fast un­heim­lich und krank­haft, aber nicht un­an­ge­nehm.

309

Sich vor sei­nem Ma­ler hü­ten. – Ein großer Ma­ler, der in ei­nem Por­trät den volls­ten Aus­druck und Au­gen­blick, des­sen ein Mensch fä­hig ist, ent­hüllt und nie­der­ge­legt hat, wird von die­sem Men­schen, wenn er ihn spä­ter im wirk­li­chen Le­ben wie­der­sieht, fast im­mer nur eine Ka­ri­ka­tur zu se­hen glau­ben.

310

Die zwei Grund­sät­ze des neu­en Le­bens. – Ers­ter Grund­satz: man soll das Le­ben auf das Si­chers­te, Be­weis­bars­te hin ein­rich­ten: nicht wie bis­her auf das Ent­fern­tes­te, Un­be­stimm­tes­te, Ho­ri­zont-Wol­ken- haf­tes­te hin. Zwei­ter Grund­satz: man soll sich die Rei­hen­fol­ge des Nächs­ten und Na­hen, des Si­che­ren und we­ni­ger Si­che­ren fest­stel­len, be­vor man sein Le­ben ein­rich­tet und in eine end­gül­ti­ge Rich­tung bringt.

311

Ge­fähr­li­che Reiz­bar­keit. – Be­gab­te Men­schen, die aber trä­ge sind, wer­den im­mer et­was ge­reizt er­schei­nen, wenn ei­ner ih­rer Freun­de mit ei­ner tüch­ti­gen Ar­beit fer­tig ge­wor­den ist. Ihre Ei­fer­sucht ist rege, sie schä­men sich ih­rer Faul­heit – oder viel­mehr, sie be­fürch­ten, der Tä­ti­ge ver­ach­te sie ge­gen­wär­tig noch mehr als sonst. In die­ser Stim­mung kri­ti­sie­ren sie das neue Werk – und ihre Kri­tik wird zur Ra­che, zum höchs­ten Be­frem­den des Ur­he­bers.

312

Zer­stö­ren der Il­lu­sio­nen. – Die Il­lu­sio­nen sind ge­wiß kost­spie­li­ge Ver­gnü­gun­gen: aber das Zer­stö­ren der Il­lu­sio­nen ist noch kost­spie­li­ger – als Ver­gnü­gen be­trach­tet, was es un­leug­bar für man­chen Men­schen ist.

313

Das Ein­tö­ni­ge des Wei­sen. – Die Kühe ha­ben mit­un­ter den Aus­druck der Ver­wun­de­rung, die auf dem Wege zur Fra­ge ste­hen bleibt. Da­ge­gen liegt im Auge der hö­he­ren In­tel­li­genz das nil ad­mi­ra­ri aus­ge­brei­tet wie die Ein­tö­nig­keit des wol­ken­lo­sen Him­mels.

314

Nicht zu lan­ge krank sein. – Man hüte sich, zu lan­ge krank zu sein: denn bald wer­den die Zuschau­er durch die üb­li­che Ver­pflich­tung, Mit­lei­den zu be­zei­gen, un­ge­dul­dig, weil es ih­nen zu­viel Mühe macht, die­sen Zu­stand lan­ge bei sich auf­recht zu er­hal­ten – und dann ge­hen sie un­mit­tel­bar zur Ver­däch­ti­gung eu­res Cha­rak­ters über, mit dem Schlus­se: "ihr ver­dient es krank zu sein, und wir brau­chen uns nicht mehr mit Mit­lei­den an­zu­stren­gen."

315

Wink für En­thu­sias­ten. – Wer gern hin­ge- ris­sen wer­den will und sich leicht nach oben tra­gen las­sen möch­te, soll zu­se­hen, daß er nicht zu schwer wer­de: das heißt zum Bei­spiel, daß er nicht viel ler­ne und na­ment­lich von der Wis­sen­schaft sich nicht er­fül­len las­se. Die­se macht schwer­fäl­lig! – nehmt euch in Acht, ihr En­thu­sias­ten!

316

Sich zu über­ra­schen wis­sen. – Wer sich sel­ber se­hen will, so wie er ist, muß es ver­ste­hen, sich sel­ber zu über­ra­schen, mit der Fa­ckel in der Hand. Denn es steht mit dem Geis­ti­gen so, wie es mit dem Kör­per­li­chen steht: wer ge­wohnt ist, sich im Spie­gel zu schau­en, ver­gißt im­mer sei­ne Häß­lich­keit: erst durch den Ma­ler be­kommt er den Ein­druck der­sel­ben wie­der. Aber er ge­wöhnt sich auch an das Ge­mäl­de und ver­gißt sei­ne Häß­lich­keit zum zwei­ten Male. – Dies nach dem all­ge­mei­nen Ge­set­ze, daß der Mensch das Un­ver­än­der­lich-Häß­li­che nicht er­träg­t: es sei denn auf einen Au­gen­blick; er ver­gißt es oder leug­net es in al­len Fäl­len. – Die Mora­lis­ten müs­sen auf je­nen "Au­gen­blick" rech­nen, um ihre Wahr­hei­ten vor­brin­gen zu dür­fen.

317

Mei­nun­gen und Fi­sche. – Man ist Be­sit­zer sei­ner Mei­nun­gen, wie man Be­sit­zer von Fi­schen ist, – in­so­fern man näm­lich Be­sit­zer ei­nes Fisch­tei­ches ist. Man muß fi­schen ge­hen und Glück ha­ben, – dann hat man sei­ne Fi­sche, sei­ne Mei­nun­gen. Ich rede hier von le­ben­di­gen Mei­nun­gen, von le­ben­di­gen Fi­schen. An­de­re sind zu­frie­den, wenn sie ein Fos­si­li­en-Ka­bi­nett be­sit­zen – und, in ih­rem Kop­fe, "Über­zeu­gun­gen".

 

318

An­zei­chen von Frei­heit und Un­frei­heit. – Sei­ne not­wen­di­gen Be­dürf­nis­se so­viel wie mög­lich sel­ber be­frie­di­gen, wenn auch un­voll­kom­men, das ist die Rich­tung auf Frei­heit von Geist und Per­son. Vie­le, auch über­flüs­si­ge Be­dürf­nis­se sich be­frie­di­gen las­sen, und so voll­kom­men als mög­lich, – er­zieht zur Un­frei­heit. Der So­phist Hip­pi­as, der al­les was er trug, in­nen und au­ßen, selbst er­wor­ben, sel­ber ge­macht hat­te, ent­spricht eben da­mit der Rich­tung auf höchs­te Frei­heit des Geis­tes und der Per­son. Nicht dar­auf kommt es an, daß al­les gleich gut und voll­kom­men ge­ar­bei­tet ist; der Stolz flickt schon die schad­haf­ten Stel­len aus.

319

Sich sel­ber glau­ben. – In un­se­rer Zeit miß­traut man je­dem, der an sich sel­ber glaubt; ehe­mals ge­nüg­te es, um an sich glau­ben zu ma­chen. Das Re­zept, um jetz­t Glau­ben zu fin­den, heißt: "Scho­ne dich sel­ber nicht! Willst du dei­ne Mei­nung in ein glaub­wür­di­ges Licht set­zen, so zün­de zu­erst die ei­ge­ne Hüt­te an!"

320

Rei­cher und är­mer zu­gleich. – Ich ken­ne einen Men­schen, der als Kind schon sich ge­wöhnt hat­te, gut von der In­tel­lek­tua­li­tät der Men­schen zu den­ken, also von ih­rer wah­ren Hin­ge­bung in be­zug auf geis­ti­ge Din­ge, ih­rer un­ei­gen­nüt­zi­gen Be­vor­zu­gung des als wahr Er­kann­ten und der­glei­chen, da­ge­gen von sei­nem ei­ge­nen Kop­fe (Ur­teil, Ge­dächt­nis, Geis­tes­ge­gen­wart, Phan­ta­sie) be­schei­de­ne, ja nied­ri­ge Be­grif­fe zu ha­ben. Er mach­te sich nichts aus sich, wenn er sich mit an­de­ren ver­glich. Nun wur­de er im Lau­fe der Jah­re erst ein­mal und dann hun­dert­fach ge­zwun­gen, in die­sem Punk­te um­zu­ler­nen, – man soll­te den­ken zu sei­ner großen Freu­de und Ge­nug­tu­ung. Es gab auch in der Tat et­was da­von; aber "doch ist, wie er ein­mal sag­te, eine Bit­ter­keit der bit­ters­ten Art bei­ge­mischt, wel­che ich im frü­he­ren Le­ben nicht kann­te: denn seit ich die Men­schen und mich sel­ber ge­rech­ter schät­ze, scheint mir mein Geist we­ni­ger nüt­ze; ich glau­be da­mit kaum noch et­was Gu­tes er­wei­sen zu kön­nen, weil der Geist der An­de­ren es nicht an­zu­neh­men ver­steht: ich sehe jetzt die schreck­li­che Kluft zwi­schen dem Hil­f­rei­chen und dem Hil­fe­be­dürf­ti­gen im­mer vor mir. Und so quält mich die Not, mei­nen Geist für mich ha­ben und al­lein ge­nie­ßen zu müs­sen, so­weit er ge­nieß­bar ist. Aber ge­ben ist se­li­ger als ha­ben: und was ist der Reichs­te in der Ein­sam­keit ei­ner Wüs­te!"

321

Wie man an­grei­fen soll. – Die Grün­de, um de­rent­wil­len man an et­was glaubt oder nicht glaubt, sind bei den al­ler­sel­tens­ten Men­schen über­haupt so stark, als sie sein kön­nen. Für ge­wöhn­lich hat man, um den Glau­ben an et­was zu er­schüt­tern, durch­aus nicht nö­tig, ohne wei­te­res das schwers­te Ge­schütz des An­griffs vor­zu­fah­ren; bei vie­len führt es schon zum Zie­le, wenn man den An­griff mit et­was Lärm macht: so daß oft Knall­erb­sen ge­nü­gen. Ge­gen sehr eit­le Per­so­nen reicht die Mie­ne des al­ler­schwers­ten An­griffs aus: sie se­hen sich sehr ernst ge­nom­men – und ge­ben gern nach.

322

Tod. – Durch die si­che­re Aus­sicht auf den Tod könn­te je­dem Le­ben ein köst­li­cher, wohl­rie­chen­der Trop­fen von Leicht­sinn bei­ge­mischt sein – und nun habt ihr wun­der­li­chen Apo­the­ker-See­len aus ihm einen übel­schme­cken­den Gift-Trop­fen ge­macht, durch den das gan­ze Le­ben wi­der­lich wird!

323

Reue. – Nie­mals der Reue Raum ge­ben, son­dern sich so­fort sa­gen: dies hie­ße ja der ers­ten Dumm­heit eine zwei­te zu­ge­sel­len. – Hat man Scha­den ge­stif­tet, so sin­ne man dar­auf, Gu­tes zu stif­ten. Wird man we­gen sei­ner Hand­lun­gen ge­straft, dann er­tra­ge man die Stra­fe mit der Emp­fin­dung, da­mit schon et­was Gu­tes zu stif­ten, man schreckt die an­de­ren ab, in die glei­che Tor­heit zu ver­fal­len. Je­der ge­straf­te Übel­tä­ter darf sich als Wohl­tä­ter der Mensch­heit füh­len.

324

Zum Den­ker wer­den. – Wie kann je­mand zum Den­ker wer­den, wenn er nicht min­des­tens den drit­ten Teil je­den Ta­ges ohne Lei­den­schaf­ten, Men­schen und Bü­cher ver­bringt?

325

Das bes­te Heil­mit­tel. – Et­was Ge­sund­heit ab und zu ist das bes­te Heil­mit­tel des Kran­ken.

326

Nicht an­rüh­ren! – Es gibt schreck­li­che Men­schen, wel­che ein Pro­blem, an­statt es zu lö­sen, für alle, wel­che sich mit ihm ab­ge­ben wol­len, ver­fit­zen und schwe­rer lös­bar ma­chen. Wer es nicht ver­steht, den Na­gel auf den Kopf zu tref­fen, soll ja ge­be­ten sein, ihn gar nicht zu tref­fen.

327

Die ver­ges­se­ne Na­tur. – Wir spre­chen von Na­tur und ver­ges­sen uns da­bei: wir sel­ber sind Na­tur, quand memê –. Folg­lich ist Na­tur et­was ganz an­de­res als das, was wir beim Nen­nen ih­res Na­mens emp­fin­den.

328

Tie­fe und Lang­wei­lig­keit. – Bei tie­fen Men­schen wie bei tie­fen Brun­nen dau­ert es lan­ge, bis et­was, das in sie fällt, ih­ren Grund er­reicht. Die Zuschau­er, wel­che ge­wöhn­lich nicht lan­ge ge­nug war­ten, hal­ten sol­che Men­schen leicht für un­be­weg­lich und hart – oder auch für lang­wei­lig.

329

Wann es Zeit ist, sich Treue zu ge­lo­ben. – Man ver­läuft sich mit­un­ter in eine geis­ti­ge Rich­tung, wel­cher un­se­re Be­ga­bung wi­der­spricht; eine Zeit­lang kämpft man he­ro­isch wi­der die Flut und den Wind an, im Grun­de ge­gen sich selbst: man wird müde, keucht; was man voll­bringt, macht ei­nem kei­ne rech­te Freu­de, man meint zu viel bei die­sen Er­fol­gen ein­ge­büßt zu ha­ben. Ja, man ver­zwei­fel­t an sei­ner Frucht­bar­keit, an sei­ner Zu­kunft, mit­ten im Sie­ge viel­leicht. End­lich, end­lich kehr­t man um – und jetzt weht der Wind in un­ser Se­gel und treibt uns in un­ser Fahr­was­ser. Wel­ches Glück! Wie sie­ges­ge­wiß füh­len wir uns! Jetzt erst wis­sen wir, was wir sind und was wir wol­len, jetzt ge­lo­ben wir uns Treue und dür­fen es – als Wis­sen­de.

333

Wet­ter­pro­phe­ten. – Wie die Wol­ken uns ver­ra­ten, wo­hin hoch über uns die Win­de lau­fen, so sind die leich­tes­ten und frei­es­ten Geis­ter in ih­ren Rich­tun­gen vor­aus­ver­kün­dend für das Wet­ter, das kom­men wird. Der Wind im Tale und die Mei­nun­gen des Mark­tes von heu­te be­deu­ten nichts für das, was kommt, son­dern nur für das, was war.

331

Ste­ti­ge Be­schleu­ni­gung. – Jene Per­so­nen, wel­che lang­sam be­gin­nen und schwer in ei­ner Sa­che hei­misch wer­den, ha­ben nach­her mit­un­ter die Ei­gen­schaft der ste­ti­gen Be­schleu­ni­gung, – so daß zu­letzt nie­mand weiß, wo­hin der Strom sie noch rei­ßen kann.

332

Die gu­ten Drei. – Grö­ße, Ruhe, Son­nen­licht- die­se Drei um­fas­sen al­les, was ein Den­ker wünscht und auch von sich for­dert: sei­ne Hoff­nun­gen und Pf­lich­ten, sei­ne An­sprü­che im In­tel­lek­tu­el­len und Mora­li­schen, so­gar in der täg­li­chen Le­bens­wei­se und selbst im Land­schaft­li­chen sei­nes Wohn­sit­zes. Ih­nen ent­spre­chen ein­mal er­he­ben­de Ge­dan­ken, so­dann be­ru­hi­gen­de, drit­tens auf­hel­len­de – vier­tens aber Ge­dan­ken, wel­che an al­len drei Ei­gen­schaf­ten An­teil ha­ben, in de­nen al­les Ir­di­sche zur Ver­klä­rung kommt: es ist das Reich, wo die große Drei­fal­tig­keit der Freu­de herrscht.

333

Für die "Wahr­heit" ster­ben. – Wir wür­den uns für un­se­re Mei­nun­gen nicht ver­bren­nen las­sen: wir sind ih­rer nicht so si­cher. Aber viel­leicht da­für, daß wir un­se­re Mei­nun­gen ha­ben dür­fen und än­dern dür­fen.

334

Sei­ne Taxe ha­ben. – Wenn man ge­ra­de so viel gel­ten will, als man ist, muß man et­was sein, das sei­ne Ta­xe hat. Aber nur das Ge­wöhn­li­che hat eine Taxe. So­mit ist je­nes Ver­lan­gen ent­we­der die Fol­ge ein­sich­ti­ger Be­schei­den­heit – oder dum­mer Un­be­schei­den­heit.

335

Moral für Häu­ser­bau­er. – Man muß die Gerüs­te weg­neh­men, wenn das Haus ge­baut ist.

336

So­pho­kleis­mus. – Wer hat mehr Was­ser in den Wein ge­gos­sen als die Grie­chen! Nüch­tern­heit und Gra­zie ver­bun­den – das war das Adels-Vor­recht des Athe­ners zur Zeit des So­pho­kles und nach ihm. Ma­che es nach, wer da kann! Im Le­ben und Schaf­fen!

337

Das He­ro­i­sche. – Das He­ro­i­sche be­steht dar­in, daß man Gro­ßes tut (oder et­was in großer Wei­se nicht tut), ohne sich im Wett­kamp­fe mit an­de­ren, vor an­de­ren zu füh­len. Der He­ros trägt die Ein­öde und den hei­li­gen un­be­tret­ba­ren Grenz­be­zirk im­mer mit sich, wo­hin er auch gehe.

338

Dop­pel­gän­ge­rei der Na­tur. – In man­cher Na­tur-Ge­gend ent­de­cken wir uns sel­ber wie­der, mit an­ge­neh­mem Grau­sen; es ist die schöns­te Dop­pel­gän­ge­rei. – Wie glück­lich muß der sein kön­nen, wel­cher jene Emp­fin­dung ge­ra­de hier hat, in die­ser be­stän­di­gen son­ni­gen Ok­to­ber­luft, in die­sem schalk­haft glück­li­chen Spie­len des Wind­zu­ges von Früh bis Abend, in die­ser reins­ten Hel­le und mä­ßigs­ten Küh­le, in dem ge­sam­ten an­mu­tig erns­ten Hü­gel-, Seen- und Wald-Cha­rak­ter die­ser Ho­chebe­ne, wel­che sich ohne Furcht ne­ben die Schreck­nis­se des ewi­gen Schnees hin­ge­la­gert hat – hier, wo Ita­li­en und Finn­land zum Bun­de zu­sam­men­ge­kom­men sind und die Hei­mat al­ler sil­ber­nen Far­ben­tö­ne der Na­tur zu sein scheint: wie glück­lich der, wel­cher sa­gen kann: "es gibt ge­wiß viel Grö­ße­res und Schö­ne­res in der Na­tur, dies aber ist mir in­nig und ver­traut, bluts­ver­wandt, ja noch mehr."

339

Leut­se­lig­keit des Wei­sen. – Der Wei­se wird un­will­kür­lich mit den an­de­ren Men­schen leut­se­lig um­ge­hen wie ein Fürst und sie, trotz al­ler Ver­schie­den­heit der Be­ga­bung, des Stan­des und der Ge­sit­tung, leicht als gleich­ar­tig be­han­deln: was man, so­bald es be­merkt wird, ihm sehr übel nimmt.

340

Gold. – Al­les, was Gold ist, glänzt nicht. Die sanf­te Strah­lung ist dem edels­ten Me­tal­le zu ei­gen.

341

Rad und Hemm­schuh. – Das Rad und der Hemm­schuh ha­ben ver­schie­de­ne Pf­lich­ten, aber auch eine glei­che: ein­an­der wehe zu tun.