Störungen des Denkers. – Auf alles, was den Denker in seinen Gedanken unterbricht (stört, wie man sagt), muß er friedfertig hinschauen, wie auf ein neues Modell, das zur Tür hereintritt, um sich dem Künstler anzubieten. Die Unterbrechungen sind die Raben, welche dem Einsamen Speise bringen.
Viel Geist haben. – Viel Geist haben erhält jung: aber man muß es ertragen, damit gerade für älter zu gelten, als man ist. Denn die Menschen lesen die Schriftzüge des Geistes ab als Spuren der Lebenserfahrung, das heißt des Viel- und Schlimm- gelebt-habens, des Leidens, Irrens, Bereuens. Also: man gilt ihnen für älter sowohl als für schlechter, als man ist, wenn man viel Geist hat und zeigt.
Wie man siegen muß. – Man soll nicht siegen wollen, wenn man nur die Aussicht hat, um eines Haa- res Breite seinen Gegner zu überholen. Der gute Sieg muß den Besiegten freudig stimmen, er muß etwas Göttliches haben, welches die Beschämung erspart.
Wahn der überlegenen Geister. – Die überlegenen Geister haben Mühe, sich von einem Wahne frei zu machen: sie bilden sich nämlich ein, daß sie bei den Mittelmäßigen Neid erregen und als Ausnahme empfunden werden. Tatsächlich aber werden sie als das empfunden, was überflüssig ist und was man, wenn es fehlte, nicht entbehren würde.
Forderung der Reinlichkeit. – Daß man seine Meinungen wechselt, ist für die einen Naturen ebenso eine Forderung der Reinlichkeit, wie die, daß man seine Kleider wechselt: für andere Naturen aber nur eine Forderung ihrer Eitelkeit.
Auch eines Heros würdig. – Hier ist ein Heros, der nichts getan hat als den Baum geschüttelt, sobald die Früchte reif waren. Dünkt euch dies zu wenig? So seht euch den Baum erst an, den er schüttelte.
Woran die Weisheit zu messen ist. – Der Zuwachs an Weisheit läßt sich genau nach der Abnahme an Galle bemessen.
Den Irrtum unangenehm sagen. – Es ist nicht nach jedermanns Geschmack, daß die Wahrheit angenehm gesagt werde. Möge aber wenigstens niemand glauben, daß der Irrtum zur Wahrheit werde, wenn man ihn unangenehm sage.
Die goldene Losung. – Dem Menschen sind viele Ketten angelegt worden, damit er es verlerne, sich wie ein Tier zu gebärden: und wirklich, er ist milder, geistiger, freudiger, besonnener geworden, als alle Tiere sind. Nun aber leidet er noch daran, daß er so lange seine Ketten trug, daß es ihm so lange an reiner Luft und freier Bewegung fehlte: – diese Ketten aber sind, ich wiederhole es immer und immer wieder, jene schweren und sinnvollen Irrtümer der moralischen, der religiösen, der metaphysischen Vorstellungen. Erst wenn auch die Ketten-Krankheit überwunden ist, ist das erste große Ziel ganz erreicht: die Abtrennung des Menschen von den Tieren. – Nun stehen wir mitten in unserer Arbeit, die Ketten abzunehmen, und haben dabei die höchste Vorsicht nötig. Nur dem veredelten Menschen darf die Freiheit des Geistes gegeben werden; ihm allein naht die Erleichterung des Lebens und salbt seine Wunden aus; er zuerst darf sagen, daß er um der Freudigkeit willen lebe und um keines weiteren Zieles willen; und in jedem anderen Munde wäre sein Wahlspruch gefährlich: Frieden um mich und ein Wohlgefallen an allen nächsten Dingen. – Bei diesem Wahlspruch für Einzelne gedenkt er eines alten großen und rührenden Wortes, welches allen galt, und das über der gesamten Menschheit stehengeblieben ist, als ein Wahlspruch und Wahrzeichen, an dem jeder zugrunde gehen soll, der damit zu zeitig sein Banner schmückt, – an dem das Christentum zugrunde ging. Noch immer, so scheint es, ist es nicht Zeit, daß es allen Menschen jenen Hirten gleich ergehen dürfe, die den Himmel über sich erhellt sahen und jenes Wort hörten: "Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen an einander." – Immer noch ist es die Zeit der Einzelnen.
*
Der Schatten: Von allem, was du vorgebracht hast, hat mir nichts mehr gefallen als eine Verheißung: ihr wollt wieder gute Nachbarn der nächsten Dinge werden. Dies wird auch uns armen Schatten zugute kommen. Denn, gesteht es nur ein, ihr habt bisher uns allzugern verleumdet. Der Wanderer: Verleumdet? Aber warum habt ihr euch nie verteidigt? Ihr hattet ja unsere Ohren in der Nähe. Der Schatten: Es schien uns, als ob wir euch eben zu nahe wären, um von uns selber reden zu dürfen. Der Wanderer: Delikat! Sehr delikat! Ach, ihr Schatten seid "bessere Menschen" als wir, das merke ich. Der Schatten: Und doch nanntet ihr uns "zudringlich" – uns, die wir mindestens eines gut verstehen: zu schweigen und zu warten – kein Engländer versteht es besser. Es ist wahr, man findet uns sehr, sehr oft in dem Gefolge des Menschen, aber doch nicht in seiner Knechtschaft. Wenn der Mensch das Licht scheut, scheuen wir den Menschen: soweit geht doch unsere Freiheit. Der Wanderer: Ach, das Licht scheut noch viel öfter den Menschen, und dann verlaßt ihr ihn auch. Der Schatten: Ich habe dich oft mit Schmerz verlassen: es ist mir, der ich wißbegierig bin, an dem Menschen vieles dunkel geblieben, weil ich nicht immer um ihn sein kann. Um den Preis der vollen Menschen-Erkenntnis möchte ich auch wohl dein Sklave sein. Der Wanderer: Weißt du denn, weiß ich denn, ob du damit nicht unversehens aus dem Sklaven zum Herrn würdest? Oder zwar Sklave bliebest, aber als Verächter deines Herrn ein Leben der Erniedrigung, des Ekels führtest: Seien wir beide mit der Freiheit zufrieden, so wie sie dir geblieben ist – dir und mir! Denn der Anblick eines Unfreien würde mir meine größten Freuden vergällen; das Beste wäre mir zuwider, wenn es jemand mit mir teilen müßte, – ich will keine Sklaven um mich wissen. Deshalb mag ich auch den Hund nicht, den faulen, schweifwedelnden Schmarotzer, der erst als Knecht des Menschen "hündisch" geworden ist und von dem sie gar noch zu rühmen pflegen, daß er dem Herrn treu sei und ihm folge wie sein – Der Schatten: Wie sein Schatten, so sagen sie. Viel leicht folgte ich dir heute auch schon zu lange? Es war der längste Tag, aber wir sind an seinem Ende, habe eine kleine Weile noch Geduld! Der Rasen ist feucht, mich fröstelt. Der Wanderer: Oh, ist es schon Zeit zu scheiden? Und ich mußte dir zuletzt noch wehe tun; ich sah es, du wurdest dunkler dabei. Der Schatten: Ich errötete, in der Farbe, in welcher ich es vermag. Mir fiel ein, daß ich dir oft zu Füßen gelegen habe wie ein Hund, und daß du dann – Der Wanderer: Und könnte ich dir nicht in aller Geschwindigkeit noch Etwas zu Liebe tun? Hast du keinen Wunsch? Der Schatten: Keinen, außer etwa den Wunsch, welchen der philosophische "Hund" vor dem großen Alexander hatte: gehe mir ein wenig aus der Sonne, es wird mir zu kalt. Der Wanderer: Was soll ich tun? Der Schatten: Tritt unter diese Fichten und schaue dich nach den Bergen um; die Sonne sinkt. Der Wanderer – Wo bist du? Wo bist du?
Aus dem Nachlaß
Schon im Frühjahr 1883, als ich mit meinem Bruder in Rom war, sagte er, daß, wenn einmal der Zarathustra fertig wäre, er sein theoretisch-philosophisches Hauptprosawerk schreiben wollte; und als ich im Herbst 1884 in Zürich auf dieses Gespräch zurückkam und ihn danach fragte, lächelte er geheimnißvoll und deutete an, daß der Aufenthalt im Engadin in dieser Beziehung sehr fruchtbar gewesen sei. Wir wissen schon aus der Einleitung zum achten Band, wie bedeutungsvoll dieser Sommer gerade für dieses Hauptprosawerk gewesen ist. Indessen darf man durchaus nicht annehmen, daß die Grundgedanken dieses Werkes erst damals entstanden wären, nein, sie sind bereits sämmtlich in poetischer Form im Zarathustra enthalten, was sich besonders darin zeigt, daß Pläne und Gedankengänge von Ende 1882, also aus der Zeit vor der Entstehung des ersten Theiles des Zarathustra, die größte Ähnlichkeit mit dem gedanklichen Inhalt des »Willens zur Macht« haben.
Aber es versteht sich von selbst, daß die Welt neuer Gedanken im Zarathustra nicht erschöpft werden konnte und nach einer theoretisch-philosophischen prosaischen Darstellung verlangte, dabei aber von Jahr zu Jahr wuchs und deutlicher wurde. Wir begegnen deshalb in den Plänen des Sommers 1884 immer den gleichen Problemen wie im Zarathustra und wie später im »Willen zur Macht«. Alle Niederschriften von dieser Zeit an sind Erklärungen und Darstellungen jener Hauptgedanken, sodaß man wohl vom »Willen zur Macht« dasselbe sagen kann, was mein Bruder an Jacob Burckhardt von »Jenseits von Gut und Böse« schreibt: »daß es dieselben Dinge sagt, wie der Zarathustra, aber anders, sehr anders«.
Daß sich der Autor mehrere Jahre Zeit lassen wollte (er spricht von sechs und auch von zehn Jahren), ehe er an die endgültige Ausarbeitung dieses ungeheuren Werkes dachte, und zunächst nur die köstlichen Bausteine zusammentrug und die umfassendsten Studien dazu machte, ist nur zu begreiflich. Im Übrigen ist aus den Plänen des Sommers 1884 zu ersehen, daß er damals noch nicht entschlossen war, welchem seiner Hauptgedanken: ob der ewigen Wiederkunft oder der Umwerthung aller bisherigen höchsten Werthe, ob der Rangordnung bis zu ihrem Gipfel, dem Übermenschen, oder dem Willen zur Macht, als Princip des Lebens, Wachsens und Herr-sein-wollens, er den Vorrang lassen wollte, in den Mittelpunkt dieses Werkes gestellt zu werden. Die Erkenntniß aber, daß das ungeheuer complicirte Gewebe des Lebens am besten im Willen zur Macht zusammenzufassen sei, scheint ihm von Jahr zu Jahr immer deutlicher geworden zu sein.
Hier ist wohl die Stelle, wo wir fragen dürfen, wann wohl dem Philosophen zuerst dieser Gedanke des Willens zur Macht als verkörperter Lebenswille erschienen sein mag? Solche Fragen sind außerordentlich schwer zu beantworten, da wir bei meinem Bruder den Keim zu seinen Hauptgedanken immer in sehr entfernter Zeit zu suchen haben. Wie bei einem gesunden, kraftvollen Baum dauerte es viele Jahre, ehe seine Gedanken ihre endgültige Gestalt gewannen und hervortraten, mit Ausnahme eines einzigen: der ewigen Wiederkunft, der ihm im Sommer 1881 zuerst auftauchte und ein Jahr später zur Darstellung kam. Vielleicht ist es mir gestattet, hier eine Erinnerung zu bringen, die einen Fingerzeig zur ersten Entstehung des Gedankens vom Willen zur Macht geben könnte. Im Herbst 1885, ehe ich mit meinem Mann nach Paraguay gieng, machten mein Bruder und ich wundervolle Spaziergänge in die Umgebung Naumburgs, um die Stätten unserer Kindheit noch einmal wiederzusehen. So giengen wir auch einmal über die Höhen zwischen Naumburg und Pforta, die eine herrliche, weite Aussicht bieten, und gerade an jenem Abend in besonders schöner Beleuchtung: der Himmel hatte eine gelbröthliche Färbung mit tiefschwarzen Wolken, was eine merkwürdige Farbenstimmung in der Natur hervorrief. Mein Bruder bemerkte plötzlich, wie sehr ihn diese Wolkenbildung an einen Abend jener Zeit (1870) erinnerte, da er als Krankenpfleger auf dem Kriegsschauplatz gewesen war (die neutrale Schweiz gestattete ihrem Universitätsprofessor nicht, als Soldat mitzuziehen). Nach seiner Ausbildung als Pfleger in Erlangen wurde er von dem dortigen Comité als Vertrauensperson und Führer einer Sanitätskolonne nach dem Kriegsschauplatz geschickt. Es wurden ihm größere Summen anvertraut und eine Fülle persönlicher Aufträge mitgegeben, sodaß er von Lazareth zu Lazareth, von Ambulanz zu Ambulanz, über Schlachtfelder hinweg seinen Weg suchen mußte, sich nur unterbrechend, um Verwundeten und Sterbenden Hilfe zu leisten und ihre letzten Grüße in Empfang zu nehmen. Was das mitfühlende Herz meines Bruders in jener Zeit gelitten hat, ist nicht zu beschreiben; noch monatelang hörte er das Stöhnen und den klagenden Jammerschrei der armen Verwundeten. Es war ihm in den ersten Jahren fast unmöglich, darüber zu sprechen, und als sich Rohde einmal in meiner Gegenwart darüber beklagte, daß er so wenig von des Freundes Erlebnissen als Krankenpfleger gehört habe, brach mein Bruder mit dem schmerzlichsten Ausdruck in jene Worte aus: »Davon kann man nicht sprechen, das ist unmöglich, man muß diese Erinnerungen zu verbannen suchen!« Auch an jenem Herbsttag, von welchem ich soeben sprach, erzählte er nur, wie er eines Abends nach solchen entsetzlichen Wanderungen »das Herz von Mitleid fast gebrochen« in eine kleine Stadt gekommen sei, durch welche eine Heerstraße führte. Als er um eine Steinmauer biegt und einige Schritte vorwärts geht, hört er plötzlich ein Brausen und Donnern, und ein wundervolles Reiterregiment, prachtvoll als Ausdruck des Muthes und Übermuthes eines Volkes, flog wie eine leuchtende Wetterwolke an ihm vorüber. Der Lärm und Donner wird stärker, und es folgt seine geliebte Feldartillerie im schnellsten Tempo – ach, wie es ihn schmerzt, sich nicht auf ein Pferd werfen zu können, sondern thatenlos an dieser Mauer stehen bleiben zu müssen! Zuletzt kam das Fußvolk im Laufschritt: die Augen blitzten, der gleichmäßige Tritt klang wie wuchtige Hammerschläge auf den harten Boden. Und als dieser ganze Zug an ihm vorüberstürmte, der Schlacht, vielleicht dem Tode entgegen, so wundervoll in seiner Lebenskraft, in seinem Kampfesmuth, so vollständig der Ausdruck einer Rasse, die siegen, herrschen oder untergehen will – »da fühlte ich wohl, meine Schwester,« fügte mein Bruder hinzu, »daß der stärkste und höchste Wille zum Leben nicht in einem elenden Ringen um’s Dasein zum Ausdruck kommt, sondern als Wille zum Kampf, als Wille zur Macht und Übermacht!« »Aber,« fuhr er nach einer Weile fort, während er in den glühenden Abendhimmel hinausschaute, »ich fühlte auch, wie gut es ist, daß Wotan den Feldherren ein hartes Herz in den Busen legt, wie könnten sie sonst die ungeheure Verantwortung tragen, Tausende in den Tod zu schicken, um ihr Volk und damit sich selbst zur Herrschaft zu bringen.« – Viele, unendlich Viele haben damals Ähnliches erlebt, aber die Augen des Philosophen sehen anders, als andere Leute, und finden neue Erkenntnisse in Erlebnissen, die Andere zu entgegengesetzten Resultaten führen. Wenn mein Bruder später an diese Vorgänge zurückdachte, wie anders und vielgestaltig mag ihm da das von Schopenhauer so gepriesene Gefühl des Mitleids erschienen sein, im Vergleich mit jenem wundervollen Anblick des Lebens-, Kampfes- und Machtwillens. Hier sah er einen Zustand, bei welchem der Mensch seine stärksten Triebe, sein gutes Gewissen und seine Ideale als identisch fühlt, und er sah diesen Zustand nicht bloß in den Ausführenden jenes Machtwillens, sondern vor Allem auch in dem Zustande des Feldherrn selbst. Damals mag ihm das Problem zuerst aufgestiegen sein, wie furchtbar und verderblich das Mitleid als Schwäche in den höchsten und schwierigsten Augenblicken, welche Völkerschicksale entscheiden, wirken kann, und wie richtig es deshalb ist, daß dem großen Menschen, dem Feldherrn, das Recht zugestanden wird, Menschen zu opfern, um ihre höchsten Ziele zu erreichen. Wie ergreifend erscheint der Gedanke des Willens zur Macht zuerst in der poetischen Form des »Zarathustra«; beim Lesen des Kapitels »Von der Selbstüberwindung« steigt mir immer eine leise Erinnerung an die eben geschilderten Erlebnisse empor, besonders bei den nachfolgenden Worten:
»Wo ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht; und noch im Willen des Dienenden fand ich den Willen, Herr zu sein.
»Daß dem Stärkeren diene das Schwächere, dazu überredet es sein Wille, der über noch Schwächeres Herr sein will: dieser Lust allein mag es nicht entrathen.
»Und wie das Kleinere sich dem Größeren hingiebt, daß es Lust und Macht am Kleinsten habe: also giebt sich auch das Größte noch hin und setzt um der Macht willen – das Leben dran.
»Das ist die Hingebung des Größten, daß es Wagniß ist und Gefahr, und um den Tod ein Würfelspielen.« –
Im Frühjahre 1885, nach der Vollendung des vierten Theiles des Zarathustra, scheint mein Bruder bereits, den Aufzeichnungen nach, entschlossen gewesen zu sein, den Willen zur Macht als Lebensprincip zum Mittelpunkt seines theoretisch-philosophischen Hauptwerkes zu machen. Wir finden den Titel: »Der Wille zur Macht, eine Auslegung alles Geschehens«. Im Winter 1885/86 wollte er aber zunächst eine kleine Schrift darüber zusammenstellen, zu der wir eine ganze Reihe Aufzeichnungen haben. Er nennt sie: »Der Wille zur Macht. Versuch einer neuen Weltauslegung.« Es ist so begreiflich, daß er vor der ungeheueren Aufgabe schauderte, den Willen zur Macht in der Natur, Leben, Gesellschaft, als Wille zur Wahrheit, Religion, Kunst, Moral, bis in alle Consequenzen hinein darzustellen. Ach, wie oft wird er sich verzweifelt gesagt haben: »ein Einzelner! ach nur ein Einzelner! und dieser große Wald und Urwald!« So versucht er immer wieder, um sich die Aufgabe etwas leichter und übersichtlicher zu machen, das große Werk in kleinere, weniger umfangreiche Schriften zu zerlegen. Er plant z.B. im Frühjahr 1886 zehn neue Schriften zu verfassen und vielleicht als neue »Unzeitgemäße Betrachtungen« zu veröffentlichen.
Aber während seines Aufenthaltes in Leipzig, Mai-Juni 1886, während er mit dem Verleger wegen der Drucklegung des »Jenseits« verhandelte, kam er doch zu dem festen Entschluß, außer dem »Jenseits«, das eine Vorbereitung auf das große Werk sein sollte (in Wahrheit aber ein Stück davon ist), die nächsten Jahre ganz allein der Ausarbeitung und Drucklegung des »Willens zur Macht« zu widmen. Ich darf vielleicht mit Recht die Vermuthung aussprechen, daß dieser Aufenthalt Mai-Juni 1886 in Leipzig ihm die letzte Hoffnung geraubt hat, daß es ihm möglich sein würde, Mitarbeiter und Genossen zu diesem großen Werke zu finden. Diese Hoffnung auf mitarbeitende Freunde, die bei der Schwäche seiner Augen doppelt verführerisch war, und welche immer wieder auftauchte, trotz der großen Enttäuschungen, war von Jugend an der entzückende Traum seiner Seele gewesen – ein Traum, der sich niemals erfüllen sollte. Er schreibt:
»Die Probleme, vor welche ich gestellt bin, scheinen mir von so radikaler Wichtigkeit, daß ich mich beinahe jedes Jahr ein paar Mal zu der Einbildung verstieg, daß die geistigen Menschen, denen ich diese Probleme sichtbar machte, darüber ihre eigene Arbeit bei Seite legen müßten, um sich einstweilen ganz meinen Angelegenheiten zu widmen. Das, was dann jedes Mal statt dessen geschah, war in so komischer und unheimlicher Weise das Gegentheil dessen, was ich erwartet hatte, daß ich alter Menschenkenner mich meiner selber zu schämen lernte und ich immer von Neuem wieder in der Anfänger-Lehre umzulernen hatte, daß die Menschen ihre Gewohnheiten hunderttausend Mal wichtiger nehmen als selbst – ihren Vortheil…«
Alle tüchtigen Leute, ehemalige Freunde und Bekannte, fand er mit ihren eignen Arbeiten beschäftigt; selbst Peter Gast, der einzige helfende Freund, legte doch, nach meines Bruders eigenem Wunsch, den Hauptaccent seines Lebens und seiner Thätigkeit auf seine Musik. Andere Mitarbeiter, als die allertüchtigsten, konnte er nicht gebrauchen. So ergriff ihn die schmerzliche Gewißheit, daß er niemals einen Genossen für seine schwierigsten Arbeiten finden würde, daß er Alles, Alles allein thun und in absoluter Einsamkeit seinen schweren Weg gehen müßte.
Während der Correkturen des »Jenseits«, Sommer 1886, die er von Sils-Maria aus besorgte, benutzte er jede freie Stunde, den bereits vorhandenen Stoff zu dem in vier Bänden geplanten Hauptwerk zu sichten. Er stellte den ganzen Plan des ungeheuren Werkes zusammen, mit einem Gedankengange, der das ganze Werk umfaßt und im Wesentlichen mit kleinen Verschiebungen beibehalten worden ist. (Der Inhalt des dritten Buches ist später in das vierte übergegangen und ein ganz neues drittes Buch eingefügt worden.) Der Plan vom Sommer 1886 lautet folgendermaaßen:
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»Der Wille zur Macht.
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Versuch einer Umwerthung aller Werthe. In vier Büchern.
Erstes Buch: Die Gefahr der Gefahren (Darstellung des Nihilismus als der nothwendigen Consequenz der bisherigen Werthschätzungen). Ungeheure Gewalten sind entfesselt: aber sich widersprechend; die entfesselten Kräfte sich gegenseitig vernichtend. Im demokratischen Gemeinwesen, wo Jedermann Specialist ist, fehlt das Wozu? Für-Wen? der Stand, in dem alle die tausendfältige Verkümmerung aller Einzelnen (zu Funktionen) Sinn bekommt.
Zweites Buch: Kritik der Werthe (der Logik usw.). Überall die Disharmonie aufzuzeigen zwischen dem Ideal und seinen einzelnen Bedingungen (z.B. Redlichkeit bei Christen, welche fortwährend zur Lüge gezwungen sind).
Drittes Buch: Das Problem des Gesetzgebers (darin die Geschichte der Einsamkeit). Die entfesselten Kräfte neu zu binden, daß sie sich nicht gegenseitig vernichten; Augen aufmachen für die wirkliche Vermehrung an Kraft!
Viertes Buch: Der Hammer. Wie müssen Menschen beschaffen sein, die umgekehrt werthschätzen? – Menschen, die alle Eigenschaften der modernen Seele haben, aber stark genug sind, sie in lauter Gesundheit umzuwandeln; ihre Mittel zu ihrer Aufgabe.
Sils-Maria. Sommer 1886.«
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Es wäre ganz falsch, wenn man nun annehmen wollte, daß der Autor des »Willens zur Macht« in diesem Werke sein System hätte geben wollen. Wir wissen, wie sehr er allen Systemen mißtraute, und wie es ihm als ein trauriges Zeichen für einen Philosophen galt, wenn er seine Gedanken zu einem System erstarren läßt. »Ein Systematiker ist ein Philosoph«, ruft er aus, »der seinem Geist nicht länger mehr zugestehen will, daß er lebt, daß er wie ein Baum mächtig in die Breite und unersättlich um sich greift, der schlechterdings keine Ruhe kennt, bis er aus ihm etwas Lebloses, etwas Hölzernes, eine viereckige Dummheit, ein »System« herausgeschnitzt hat!«
Gewiß wollte er seine Philosophie, seine Weltanschauung in diesem großen Werke darstellen, aber sicherlich nicht als Dogma, sondern als vorläufige Regulative der Forschung.
Im Herbst 1886 wurde die Arbeit am »Willen zur Macht« für mehrere Monate unterbrochen, da mein Bruder für eine neue Ausgabe seiner bis dahin erschienenen Schriften Vorreden und das V. Buch zur »Fröhlichen Wissenschaft« schrieb, aber im Januar 1887 war Alles druckfertig abgeschickt; er kehrte wieder zur Arbeit an seinem Hauptwerke zurück. Der Februar 1887 brachte jenes furchtbare Erdbeben in Nizza, das er mit einer merkwürdigen Ruhe und Geistesgegenwart durchlebte. Er schreibt darüber an Gast am 24. Februar 1887: »Lieber Freund, vielleicht sind Sie durch die Nachrichten über unser Erdbeben beunruhigt: hier ein Wort, das Ihnen wenigstens sagen soll, wie es bei mir steht. Die Stadt ist voll zerrütteter Nervensysteme, die Panik in den Hôtels kaum glaublich. Diese Nacht, gegen 2-3 Uhr, habe ich eine Rundtour gemacht und einige mir befreundete Personen besucht, die im Freien, auf Bänken oder in Droschken, der Gefahr vorzubeugen glaubten. Mir selbst geht es gut; noch keinen Augenblick Schrecken – und sogar sehr viel Ironie!«
Nizza verödete vollständig nach diesem Ereigniß, mein Bruder ließ sich aber nicht abhalten, seine bestimmte Zeit dort zu bleiben, auch nach der Wiederholung eines Erdstoßes. Er war so wenig von diesen äußern Verhältnissen berührt gewesen, daß er unter all den Aufregungen, die das Erdbeben in Nizza hervorrief, ungestört sein großes Hauptwerk im Geiste zusammenzufassen gesucht hatte und zwar unter dem nachfolgenden Plan:
*
»Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwerthung aller Werthe.
*
Erstes Buch.
Der europäische Nihilismus.
*
Zweites Buch.
Kritik der bisherigen höchsten Werthe.
*
Drittes Buch.
Princip einer neuen Werthsetzung.
*
Viertes Buch.
Zucht und Züchtung.
*
Entworfen den 17. März 1887, Nizza.«
Dieser Plan, der mit dem aus dem Sommer 1886 in seiner Gesammtanordnung fast identisch ist, wurde bis Ende Winter 1888 festgehalten. Im Nachbericht wird noch ausführlich von späteren Plänen und den einzelnen Phasen der Entstehung des »Willens zur Macht« die Rede sein.
Wir waren aber genöthigt, den Plan vom 17. März 1887 zur Grundlage dieser Ausgabe zu nehmen, da er der einzige ist, der eine ziemlich deutliche Anweisung zur Zusammenstellung des Werkes giebt. Außerdem bietet er, durch die großen allgemeinen Gesichtspunkte der Eintheilung, den weitesten Spielraum das reiche Material, das zu andern Plänen vorhanden ist, sinngemäß einzuordnen. Der Plan hat sich gerade bei der neuen hier vorliegenden Ausgabe besonders günstig erwiesen, sodaß viele Kapitel einen fortlaufenden Gedankengang zeigen. Doch giebt es natürlich auch jetzt noch Lücken, sodaß der intelligente Leser selbst mit bauen muß, um eine Gesammtübersicht zu gewinnen.
Das vorliegende Werk bietet in seiner jetzigen Gestalt einen nicht unwichtigen Vortheil: es gewährt in viel höherem Grade als die erste Ausgabe einen Einblick in des Autors Geisteswerkstatt. Wir sehen gleichsam die Gedanken vor unsern Augen entstehen und können zugleich beobachten, wie unbefangen mein Bruder seine eigenen Gedanken prüft und sich nie zu verhehlen sucht, welche schlimmen oder unbeweisbaren Seiten diese Probleme haben könnten. Die Ausführlichkeit, mit der sie hier und da behandelt werden, würde der Autor in dem vollendeten Werk vielleicht vermieden haben (obgleich dies nicht sicher ist), für uns ist sie aber ein großer Vorzug, weil wir dadurch seine Gedanken so viel besser verstehen lernen. Wie viele Mißverständnisse die Kürze der Darstellung seiner Gedanken hervorrufen kann, dafür ist die »Götzendämmerung« ein beweisendes Beispiel. Der Autor bezeichnet die »Götzendämmerung« direkt als einen Auszug des »Willens zur Macht«; – aber wie ist dieses kleine Buch gerade seiner Kürze wegen falsch aufgefaßt worden! Die Leser schienen zu glauben, daß diese grundlegenden neuen Gedanken nur so flüchtig hingeworfen wären; Niemand schien zu ahnen, auf welch umfassenden Studien sie beruhten. Davon giebt hoffentlich diese neue Ausgabe des »Willens zur Macht« eine bessere Vorstellung.
Die Anzahl der Aphorismen ist in der neuen Ausgabe um ungefähr 570 Nummern vermehrt. Es giebt dabei allerdings Wiederholungen, die aber immer »anders nuancirt und in anderem Zusammenhang« ungemein zur Verdeutlichung eines Gedankens beitragen; manches Impromptu und manche sozusagen versuchsweise Aufstellung von Fragen und Problemen wird sich der verständnißvolle Leser richtig zu deuten wissen und selbst eine Lösung zu geben versuchen. »Bewundern aber wird er vor Allem, wie Peter Gast sagt, die Unerschöpflichkeit des Nietzsche’schen Geistes in der Behandlung seiner Themen: wie er sie immer von Neuem umkreist, ihnen immer unerwartetere Seiten abgewinnt und sie in Worte zu fassen weiß, die ihr Innerstes aussprechen.«
Das Riesenwerk, wie es dem Autor vorgeschwebt hat, ist unvollendet geblieben. Uns Herausgebern des Nietzsche-Archivs war es mit unsern schwachen Kräften vorbehalten, die köstlichen Bausteine nach den Angaben des Autors, wie sie noch vorhanden sind, gewissenhaft zusammenzustellen. Es ist nicht sogleich bei der ersten Ausgabe in übersichtlicher Weise gelungen, und es war schwer, wenn man an die Absichten des Autors dachte, dieses Werk damals in dieser unvollkommenen Form in die Welt zu schicken. Vielleicht ist diese neue, so bereicherte Ausgabe etwas besser gerathen: aber man stelle sich vor, daß seine eigene Meisterhand diesen ungeheuren Stoff mit all der logischen Folgerichtigkeit wie z.B. in der »Genealogie der Moral« ausgearbeitet und mit dem Glanze seines unerreichbaren Stiles verklärt hätte – welches Werk stünde jetzt vor uns! Und was unsere Trauer noch erhöht, ist, daß wir durch seine persönlichen Aufzeichnungen wissen, wie er sich die Ausführung seines philosophisch-theoretischen Hauptwerkes gedacht hat: