Friedrich Wilhelm Nietzsche – Gesammelte Werke

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

342

Stö­run­gen des Den­kers. – Auf al­les, was den Den­ker in sei­nen Ge­dan­ken un­ter­bricht (stört, wie man sagt), muß er fried­fer­tig hin­schau­en, wie auf ein neu­es Mo­dell, das zur Tür her­ein­tritt, um sich dem Künst­ler an­zu­bie­ten. Die Un­ter­bre­chun­gen sind die Ra­ben, wel­che dem Ein­sa­men Spei­se brin­gen.

343

Viel Geist ha­ben. – Viel Geist ha­ben er­hält jung: aber man muß es er­tra­gen, da­mit ge­ra­de für äl­ter zu gel­ten, als man ist. Denn die Men­schen le­sen die Schrift­zü­ge des Geis­tes ab als Spu­ren der Le­bens­er­fah­rung, das heißt des Viel- und Schlimm- ge­leb­t-ha­bens, des Lei­dens, Ir­rens, Be­reu­ens. Also: man gilt ih­nen für äl­ter so­wohl als für schlech­ter, als man ist, wenn man viel Geist hat und zeigt.

344

Wie man sie­gen muß. – Man soll nicht sie­gen wol­len, wenn man nur die Aus­sicht hat, um ei­nes Haa- res Brei­te sei­nen Geg­ner zu über­ho­len. Der gute Sieg muß den Be­sieg­ten freu­dig stim­men, er muß et­was Gött­li­ches ha­ben, wel­ches die Be­schä­mung er­spart.

345

Wahn der über­le­ge­nen Geis­ter. – Die über­le­ge­nen Geis­ter ha­ben Mühe, sich von ei­nem Wah­ne frei zu ma­chen: sie bil­den sich näm­lich ein, daß sie bei den Mit­tel­mä­ßi­gen Neid er­re­gen und als Aus­nah­me emp­fun­den wer­den. Tat­säch­lich aber wer­den sie als das emp­fun­den, was über­flüs­sig ist und was man, wenn es fehl­te, nicht ent­beh­ren wür­de.

346

For­de­rung der Rein­lich­keit. – Daß man sei­ne Mei­nun­gen wech­selt, ist für die einen Na­tu­ren eben­so eine For­de­rung der Rein­lich­keit, wie die, daß man sei­ne Klei­der wech­selt: für an­de­re Na­tu­ren aber nur eine For­de­rung ih­rer Ei­tel­keit.

347

Auch ei­nes He­ros wür­dig. – Hier ist ein He­ros, der nichts ge­tan hat als den Baum ge­schüt­telt, so­bald die Früch­te reif wa­ren. Dünkt euch dies zu we­nig? So seht euch den Baum erst an, den er schüt­tel­te.

348

Woran die Weis­heit zu mes­sen ist. – Der Zu­wachs an Weis­heit läßt sich ge­nau nach der Ab­nah­me an Gal­le be­mes­sen.

349

Den Irr­tum un­an­ge­nehm sa­gen. – Es ist nicht nach je­der­manns Ge­schmack, daß die Wahr­heit an­ge­nehm ge­sagt wer­de. Möge aber we­nigs­tens nie­mand glau­ben, daß der Irr­tum zur Wahr­heit wer­de, wenn man ihn un­an­ge­nehm sage.

350

Die gol­de­ne Lo­sung. – Dem Men­schen sind vie­le Ket­ten an­ge­legt wor­den, da­mit er es ver­ler­ne, sich wie ein Tier zu ge­bär­den: und wirk­lich, er ist mil­der, geis­ti­ger, freu­di­ger, be­son­ne­ner ge­wor­den, als alle Tie­re sind. Nun aber lei­det er noch dar­an, daß er so lan­ge sei­ne Ket­ten trug, daß es ihm so lan­ge an rei­ner Luft und frei­er Be­we­gung fehl­te: – die­se Ket­ten aber sind, ich wie­der­ho­le es im­mer und im­mer wie­der, jene schwe­ren und sinn­vol­len Irr­tü­mer der mo­ra­li­schen, der re­li­gi­ösen, der me­ta­phy­si­schen Vor­stel­lun­gen. Erst wenn auch die Ket­ten-Krank­heit über­wun­den ist, ist das ers­te große Ziel ganz er­reicht: die Ab­tren­nung des Men­schen von den Tie­ren. – Nun ste­hen wir mit­ten in un­se­rer Ar­beit, die Ket­ten ab­zu­neh­men, und ha­ben da­bei die höchs­te Vor­sicht nö­tig. Nur dem ver­edel­ten Men­schen darf die Frei­heit des Geis­tes ge­ge­ben wer­den; ihm al­lein naht die Er­leich­te­rung des Le­bens und salbt sei­ne Wun­den aus; er zu­erst darf sa­gen, daß er um der Freu­dig­keit wil­len lebe und um kei­nes wei­te­ren Zie­les wil­len; und in je­dem an­de­ren Mun­de wäre sein Wahl­spruch ge­fähr­lich: Frie­den um mich und ein Wohl­ge­fal­len an al­len nächs­ten Din­gen. – Bei die­sem Wahl­spruch für Ein­zel­ne ge­denkt er ei­nes al­ten großen und rüh­ren­den Wor­tes, wel­ches al­len galt, und das über der ge­sam­ten Mensch­heit ste­hen­ge­blie­ben ist, als ein Wahl­spruch und Wahr­zei­chen, an dem je­der zu­grun­de ge­hen soll, der da­mit zu zei­tig sein Ban­ner schmückt, – an dem das Chris­ten­tum zu­grun­de ging. Noch im­mer, so scheint es, ist es nicht Zeit, daß es al­len Men­schen je­nen Hir­ten gleich er­ge­hen dür­fe, die den Him­mel über sich er­hellt sa­hen und je­nes Wort hör­ten: "Frie­de auf Er­den und den Men­schen ein Wohl­ge­fal­len an ein­an­der." – Im­mer noch ist es die Zeit der Ein­zel­nen.

*

Der Schat­ten: Von al­lem, was du vor­ge­bracht hast, hat mir nichts mehr ge­fal­len als eine Ver­hei­ßung: ihr wollt wie­der gute Nach­barn der nächs­ten Din­ge wer­den. Dies wird auch uns ar­men Schat­ten zu­gu­te kom­men. Denn, ge­steht es nur ein, ihr habt bis­her uns all­zu­gern ver­leum­det. Der Wan­de­rer: Ver­leum­det? Aber warum habt ihr euch nie ver­tei­digt? Ihr hat­tet ja un­se­re Ohren in der Nähe. Der Schat­ten: Es schi­en uns, als ob wir euch eben zu nahe wä­ren, um von uns sel­ber re­den zu dür­fen. Der Wan­de­rer: De­li­kat! Sehr de­li­kat! Ach, ihr Schat­ten seid "bes­se­re Men­schen" als wir, das mer­ke ich. Der Schat­ten: Und doch nann­tet ihr uns "zu­dring­lich" – uns, die wir min­des­tens ei­nes gut ver­ste­hen: zu schwei­gen und zu war­ten – kein Eng­län­der ver­steht es bes­ser. Es ist wahr, man fin­det uns sehr, sehr oft in dem Ge­fol­ge des Men­schen, aber doch nicht in sei­ner Knecht­schaft. Wenn der Mensch das Licht scheut, scheu­en wir den Men­schen: so­weit geht doch un­se­re Frei­heit. Der Wan­de­rer: Ach, das Licht scheut noch viel öf­ter den Men­schen, und dann ver­laßt ihr ihn auch. Der Schat­ten: Ich habe dich oft mit Schmerz ver­las­sen: es ist mir, der ich wiß­be­gie­rig bin, an dem Men­schen vie­les dun­kel ge­blie­ben, weil ich nicht im­mer um ihn sein kann. Um den Preis der vol­len Men­schen-Er­kennt­nis möch­te ich auch wohl dein Skla­ve sein. Der Wan­de­rer: Weißt du denn, weiß ich denn, ob du da­mit nicht un­ver­se­hens aus dem Skla­ven zum Herrn wür­dest? Oder zwar Skla­ve blie­best, aber als Veräch­ter dei­nes Herrn ein Le­ben der Er­nied­ri­gung, des Ekels führ­test: Sei­en wir bei­de mit der Frei­heit zu­frie­den, so wie sie dir ge­blie­ben ist – dir und mir! Denn der An­blick ei­nes Un­frei­en wür­de mir mei­ne größ­ten Freu­den ver­gäl­len; das Bes­te wäre mir zu­wi­der, wenn es je­mand mit mir tei­len müß­te, – ich will kei­ne Skla­ven um mich wis­sen. Des­halb mag ich auch den Hund nicht, den fau­len, schweif­we­deln­den Schma­rot­zer, der erst als Knecht des Men­schen "hün­disch" ge­wor­den ist und von dem sie gar noch zu rüh­men pfle­gen, daß er dem Herrn treu sei und ihm fol­ge wie sein – Der Schat­ten: Wie sein Schat­ten, so sa­gen sie. Viel leicht folg­te ich dir heu­te auch schon zu lan­ge? Es war der längs­te Tag, aber wir sind an sei­nem Ende, habe eine klei­ne Wei­le noch Ge­duld! Der Ra­sen ist feucht, mich frös­telt. Der Wan­de­rer: Oh, ist es schon Zeit zu schei­den? Und ich muß­te dir zu­letzt noch wehe tun; ich sah es, du wur­dest dunk­ler da­bei. Der Schat­ten: Ich er­rö­te­te, in der Far­be, in wel­cher ich es ver­mag. Mir fiel ein, daß ich dir oft zu Fü­ßen ge­le­gen habe wie ein Hund, und daß du dann – Der Wan­de­rer: Und könn­te ich dir nicht in al­ler Ge­schwin­dig­keit noch Et­was zu Lie­be tun? Hast du kei­nen Wunsch? Der Schat­ten: Kei­nen, au­ßer etwa den Wunsch, wel­chen der phi­lo­so­phi­sche "Hund" vor dem großen Alex­an­der hat­te: gehe mir ein we­nig aus der Son­ne, es wird mir zu kalt. Der Wan­de­rer: Was soll ich tun? Der Schat­ten: Tritt un­ter die­se Fich­ten und schaue dich nach den Ber­gen um; die Son­ne sinkt. Der Wan­de­rer – Wo bist du? Wo bist du?

Der Wille zur Macht I

Aus dem Nach­laß

Einleitung.

Schon im Früh­jahr 1883, als ich mit mei­nem Bru­der in Rom war, sag­te er, daß, wenn ein­mal der Za­ra­thustra fer­tig wäre, er sein theo­re­tisch-phi­lo­so­phi­sches Haupt­pro­sa­werk schrei­ben woll­te; und als ich im Herbst 1884 in Zü­rich auf die­ses Ge­spräch zu­rück­kam und ihn da­nach frag­te, lä­chel­te er ge­heim­niß­voll und deu­te­te an, daß der Auf­ent­halt im En­ga­din in die­ser Be­zie­hung sehr frucht­bar ge­we­sen sei. Wir wis­sen schon aus der Ein­lei­tung zum ach­ten Band, wie be­deu­tungs­voll die­ser Som­mer ge­ra­de für die­ses Haupt­pro­sa­werk ge­we­sen ist. In­des­sen darf man durch­aus nicht an­neh­men, daß die Grund­ge­dan­ken die­ses Wer­kes erst da­mals ent­stan­den wä­ren, nein, sie sind be­reits sämmt­lich in poe­ti­scher Form im Za­ra­thustra ent­hal­ten, was sich be­son­ders dar­in zeigt, daß Plä­ne und Ge­dan­ken­gän­ge von Ende 1882, also aus der Zeit vor der Ent­ste­hung des ers­ten Thei­les des Za­ra­thustra, die größ­te Ähn­lich­keit mit dem ge­dank­li­chen In­halt des »Wil­lens zur Macht« ha­ben.

Aber es ver­steht sich von selbst, daß die Welt neu­er Ge­dan­ken im Za­ra­thustra nicht er­schöpft wer­den konn­te und nach ei­ner theo­re­tisch-phi­lo­so­phi­schen pro­sa­i­schen Dar­stel­lung ver­lang­te, da­bei aber von Jahr zu Jahr wuchs und deut­li­cher wur­de. Wir be­geg­nen des­halb in den Plä­nen des Som­mers 1884 im­mer den glei­chen Pro­ble­men wie im Za­ra­thustra und wie spä­ter im »Wil­len zur Macht«. Alle Nie­der­schrif­ten von die­ser Zeit an sind Er­klä­run­gen und Dar­stel­lun­gen je­ner Haupt­ge­dan­ken, so­daß man wohl vom »Wil­len zur Macht« das­sel­be sa­gen kann, was mein Bru­der an Ja­cob Burck­hardt von »Jen­seits von Gut und Böse« schreibt: »daß es die­sel­ben Din­ge sagt, wie der Za­ra­thustra, aber an­ders, sehr an­ders«.

 

Daß sich der Au­tor meh­re­re Jah­re Zeit las­sen woll­te (er spricht von sechs und auch von zehn Jah­ren), ehe er an die end­gül­ti­ge Aus­ar­bei­tung die­ses un­ge­heu­ren Wer­kes dach­te, und zu­nächst nur die köst­li­chen Bau­stei­ne zu­sam­men­trug und die um­fas­sends­ten Stu­di­en dazu mach­te, ist nur zu be­greif­lich. Im Üb­ri­gen ist aus den Plä­nen des Som­mers 1884 zu er­se­hen, daß er da­mals noch nicht ent­schlos­sen war, wel­chem sei­ner Haupt­ge­dan­ken: ob der ewi­gen Wie­der­kunft oder der Um­wer­thung al­ler bis­he­ri­gen höchs­ten Wert­he, ob der Rang­ord­nung bis zu ih­rem Gip­fel, dem Über­menschen, oder dem Wil­len zur Macht, als Prin­cip des Le­bens, Wach­sens und Herr-sein-wol­lens, er den Vor­rang las­sen woll­te, in den Mit­tel­punkt die­ses Wer­kes ge­stellt zu wer­den. Die Er­kennt­niß aber, daß das un­ge­heu­er com­pli­cir­te Ge­we­be des Le­bens am bes­ten im Wil­len zur Macht zu­sam­men­zu­fas­sen sei, scheint ihm von Jahr zu Jahr im­mer deut­li­cher ge­wor­den zu sein.

Hier ist wohl die Stel­le, wo wir fra­gen dür­fen, wann wohl dem Phi­lo­so­phen zu­er­st die­ser Ge­dan­ke des Wil­lens zur Macht als ver­kör­per­ter Le­bens­wil­le er­schie­nen sein mag? Sol­che Fra­gen sind au­ßer­or­dent­lich schwer zu be­ant­wor­ten, da wir bei mei­nem Bru­der den Keim zu sei­nen Haupt­ge­dan­ken im­mer in sehr ent­fern­ter Zeit zu su­chen ha­ben. Wie bei ei­nem ge­sun­den, kraft­vol­len Baum dau­er­te es vie­le Jah­re, ehe sei­ne Ge­dan­ken ihre end­gül­ti­ge Ge­stalt ge­wan­nen und her­vor­tra­ten, mit Aus­nah­me ei­nes ein­zi­gen: der ewi­gen Wie­der­kunft, der ihm im Som­mer 1881 zu­erst auf­tauch­te und ein Jahr spä­ter zur Dar­stel­lung kam. Vi­el­leicht ist es mir ge­stat­tet, hier eine Erin­ne­rung zu brin­gen, die einen Fin­ger­zeig zur ers­ten Ent­ste­hung des Ge­dan­kens vom Wil­len zur Macht ge­ben könn­te. Im Herbst 1885, ehe ich mit mei­nem Mann nach Pa­ra­guay gieng, mach­ten mein Bru­der und ich wun­der­vol­le Spa­zier­gän­ge in die Um­ge­bung Naum­burgs, um die Stät­ten un­se­rer Kind­heit noch ein­mal wie­der­zu­se­hen. So gien­gen wir auch ein­mal über die Hö­hen zwi­schen Naum­burg und Pfor­ta, die eine herr­li­che, wei­te Aus­sicht bie­ten, und ge­ra­de an je­nem Abend in be­son­ders schö­ner Be­leuch­tung: der Him­mel hat­te eine gel­brö­th­li­che Fär­bung mit tief­schwar­zen Wol­ken, was eine merk­wür­di­ge Far­ben­stim­mung in der Na­tur her­vor­rief. Mein Bru­der be­merk­te plötz­lich, wie sehr ihn die­se Wol­ken­bil­dung an einen Abend je­ner Zeit (1870) er­in­ner­te, da er als Kran­ken­pfle­ger auf dem Kriegs­schau­platz ge­we­sen war (die neu­tra­le Schweiz ge­stat­te­te ih­rem Uni­ver­si­täts­pro­fes­sor nicht, als Sol­dat mit­zu­zie­hen). Nach sei­ner Aus­bil­dung als Pfle­ger in Er­lan­gen wur­de er von dem dor­ti­gen Co­mité als Ver­trau­ens­per­son und Füh­rer ei­ner Sa­ni­täts­ko­lon­ne nach dem Kriegs­schau­platz ge­schickt. Es wur­den ihm grö­ße­re Sum­men an­ver­traut und eine Fül­le per­sön­li­cher Auf­trä­ge mit­ge­ge­ben, so­daß er von La­za­reth zu La­za­reth, von Am­bu­lanz zu Am­bu­lanz, über Schlacht­fel­der hin­weg sei­nen Weg su­chen muß­te, sich nur un­ter­bre­chend, um Ver­wun­de­ten und Ster­ben­den Hil­fe zu leis­ten und ihre letz­ten Grü­ße in Empfang zu neh­men. Was das mit­füh­len­de Herz mei­nes Bru­ders in je­ner Zeit ge­lit­ten hat, ist nicht zu be­schrei­ben; noch mo­na­te­lang hör­te er das Stöh­nen und den kla­gen­den Jam­mer­schrei der ar­men Ver­wun­de­ten. Es war ihm in den ers­ten Jah­ren fast un­mög­lich, dar­über zu spre­chen, und als sich Roh­de ein­mal in mei­ner Ge­gen­wart dar­über be­klag­te, daß er so we­nig von des Freun­des Er­leb­nis­sen als Kran­ken­pfle­ger ge­hört habe, brach mein Bru­der mit dem schmerz­lichs­ten Aus­druck in jene Wor­te aus: »Da­von kann man nicht spre­chen, das ist un­mög­lich, man muß die­se Erin­ne­run­gen zu ver­ban­nen su­chen!« Auch an je­nem Herbst­tag, von wel­chem ich so­eben sprach, er­zähl­te er nur, wie er ei­nes Abends nach sol­chen ent­setz­li­chen Wan­de­run­gen »das Herz von Mit­leid fast ge­bro­chen« in eine klei­ne Stadt ge­kom­men sei, durch wel­che eine Heer­stra­ße führ­te. Als er um eine Stein­mau­er biegt und ei­ni­ge Schrit­te vor­wärts geht, hört er plötz­lich ein Brau­sen und Don­nern, und ein wun­der­vol­les Rei­ter­re­gi­ment, pracht­voll als Aus­druck des Mu­thes und Über­mu­thes ei­nes Vol­kes, flog wie eine leuch­ten­de Wet­ter­wol­ke an ihm vor­über. Der Lärm und Don­ner wird stär­ker, und es folgt sei­ne ge­lieb­te Feld­ar­til­le­rie im schnells­ten Tem­po – ach, wie es ihn schmerzt, sich nicht auf ein Pferd wer­fen zu kön­nen, son­dern tha­ten­los an die­ser Mau­er ste­hen blei­ben zu müs­sen! Zu­letzt kam das Fuß­volk im Lauf­schritt: die Au­gen blitz­ten, der gleich­mä­ßi­ge Tritt klang wie wuch­ti­ge Ham­mer­schlä­ge auf den har­ten Bo­den. Und als die­ser gan­ze Zug an ihm vor­über­stürm­te, der Schlacht, viel­leicht dem Tode ent­ge­gen, so wun­der­voll in sei­ner Le­bens­kraft, in sei­nem Kamp­fes­muth, so voll­stän­dig der Aus­druck ei­ner Ras­se, die sie­gen, herr­schen oder un­ter­ge­hen will – »da fühl­te ich wohl, mei­ne Schwes­ter,« füg­te mein Bru­der hin­zu, »daß der stärks­te und höchs­te Wil­le zum Le­ben nicht in ei­nem elen­den Rin­gen um’s Da­sein zum Aus­druck kommt, son­dern als Wil­le zum Kampf, als Wil­le zur Macht und Über­macht!« »Aber,« fuhr er nach ei­ner Wei­le fort, wäh­rend er in den glü­hen­den Abend­him­mel hin­aus­schau­te, »ich fühl­te auch, wie gut es ist, daß Wo­tan den Feld­her­ren ein har­tes Herz in den Bu­sen legt, wie könn­ten sie sonst die un­ge­heu­re Verant­wor­tung tra­gen, Tau­sen­de in den Tod zu schi­cken, um ihr Volk und da­mit sich selbst zur Herr­schaft zu brin­gen.« – Vie­le, un­end­lich Vie­le ha­ben da­mals Ähn­li­ches er­lebt, aber die Au­gen des Phi­lo­so­phen se­hen an­ders, als an­de­re Leu­te, und fin­den neue Er­kennt­nis­se in Er­leb­nis­sen, die An­de­re zu ent­ge­gen­ge­setz­ten Re­sul­ta­ten füh­ren. Wenn mein Bru­der spä­ter an die­se Vor­gän­ge zu­rück­dach­te, wie an­ders und viel­ge­stal­tig mag ihm da das von Scho­pen­hau­er so ge­prie­se­ne Ge­fühl des Mit­leids er­schie­nen sein, im Ver­gleich mit je­nem wun­der­vol­len An­blick des Le­bens-, Kamp­fes- und Macht­wil­lens. Hier sah er einen Zu­stand, bei wel­chem der Mensch sei­ne stärks­ten Trie­be, sein gu­tes Ge­wis­sen und sei­ne Idea­le als iden­tisch fühlt, und er sah die­sen Zu­stand nicht bloß in den Aus­füh­ren­den je­nes Macht­wil­lens, son­dern vor Al­lem auch in dem Zu­stan­de des Feld­herrn selbst. Da­mals mag ihm das Pro­blem zu­erst auf­ge­stie­gen sein, wie furcht­bar und ver­derb­lich das Mit­leid als Schwä­che in den höchs­ten und schwie­rigs­ten Au­gen­bli­cken, wel­che Völ­ker­schick­sa­le ent­schei­den, wir­ken kann, und wie rich­tig es des­halb ist, daß dem großen Men­schen, dem Feld­herrn, das Recht zu­ge­stan­den wird, Men­schen zu op­fern, um ihre höchs­ten Zie­le zu er­rei­chen. Wie er­grei­fend er­scheint der Ge­dan­ke des Wil­lens zur Macht zu­erst in der poe­ti­schen Form des »Za­ra­thustra«; beim Le­sen des Ka­pi­tels »Von der Selb­st­über­win­dung« steigt mir im­mer eine lei­se Erin­ne­rung an die eben ge­schil­der­ten Er­leb­nis­se em­por, be­son­ders bei den nach­fol­gen­den Wor­ten:

»Wo ich Le­ben­di­ges fand, da fand ich Wil­len zur Macht; und noch im Wil­len des Die­nen­den fand ich den Wil­len, Herr zu sein.

»Daß dem Stär­ke­ren die­ne das Schwä­che­re, dazu über­re­det es sein Wil­le, der über noch Schwä­che­res Herr sein will: die­ser Lust al­lein mag es nicht ent­rat­hen.

»Und wie das Klei­ne­re sich dem Grö­ße­ren hin­giebt, daß es Lust und Macht am Kleins­ten habe: also giebt sich auch das Größ­te noch hin und setzt um der Macht wil­len – das Le­ben dran.

»Das ist die Hin­ge­bung des Größ­ten, daß es Wa­g­niß ist und Ge­fahr, und um den Tod ein Wür­fel­spie­len.« –

Im Früh­jah­re 1885, nach der Vollen­dung des vier­ten Thei­les des Za­ra­thustra, scheint mein Bru­der be­reits, den Auf­zeich­nun­gen nach, ent­schlos­sen ge­we­sen zu sein, den Wil­len zur Macht als Le­ben­sprin­cip zum Mit­tel­punkt sei­nes theo­re­tisch-phi­lo­so­phi­schen Haupt­wer­kes zu ma­chen. Wir fin­den den Ti­tel: »Der Wil­le zur Macht, eine Aus­le­gung al­les Ge­sche­hens«. Im Win­ter 1885/86 woll­te er aber zu­nächst eine klei­ne Schrift dar­über zu­sam­men­stel­len, zu der wir eine gan­ze Rei­he Auf­zeich­nun­gen ha­ben. Er nennt sie: »Der Wil­le zur Macht. Ver­such ei­ner neu­en Wel­t­aus­le­gung.« Es ist so be­greif­lich, daß er vor der un­ge­heue­ren Auf­ga­be schau­der­te, den Wil­len zur Macht in der Na­tur, Le­ben, Ge­sell­schaft, als Wil­le zur Wahr­heit, Re­li­gi­on, Kunst, Moral, bis in alle Con­se­quen­zen hin­ein dar­zu­stel­len. Ach, wie oft wird er sich ver­zwei­felt ge­sagt ha­ben: »ein Ein­zel­ner! ach nur ein Ein­zel­ner! und die­ser große Wald und Ur­wald!« So ver­sucht er im­mer wie­der, um sich die Auf­ga­be et­was leich­ter und über­sicht­li­cher zu ma­chen, das große Werk in klei­ne­re, we­ni­ger um­fang­rei­che Schrif­ten zu zer­le­gen. Er plant z.B. im Früh­jahr 1886 zehn neue Schrif­ten zu ver­fas­sen und viel­leicht als neue »Un­zeit­ge­mä­ße Be­trach­tun­gen« zu ver­öf­fent­li­chen.

Aber wäh­rend sei­nes Auf­ent­hal­tes in Leip­zig, Mai-Juni 1886, wäh­rend er mit dem Ver­le­ger we­gen der Druck­le­gung des »Jen­seits« ver­han­del­te, kam er doch zu dem fes­ten Ent­schluß, au­ßer dem »Jen­seits«, das eine Vor­be­rei­tung auf das große Werk sein soll­te (in Wahr­heit aber ein Stück da­von ist), die nächs­ten Jah­re ganz al­lein der Aus­ar­bei­tung und Druck­le­gung des »Wil­lens zur Macht« zu wid­men. Ich darf viel­leicht mit Recht die Ver­mut­hung aus­spre­chen, daß die­ser Auf­ent­halt Mai-Juni 1886 in Leip­zig ihm die letz­te Hoff­nung ge­raubt hat, daß es ihm mög­lich sein wür­de, Mit­ar­bei­ter und Ge­nos­sen zu die­sem großen Wer­ke zu fin­den. Die­se Hoff­nung auf mit­ar­bei­ten­de Freun­de, die bei der Schwä­che sei­ner Au­gen dop­pelt ver­füh­re­risch war, und wel­che im­mer wie­der auf­tauch­te, trotz der großen Ent­täu­schun­gen, war von Ju­gend an der ent­zücken­de Traum sei­ner See­le ge­we­sen – ein Traum, der sich nie­mals er­fül­len soll­te. Er schreibt:

»Die Pro­ble­me, vor wel­che ich ge­stellt bin, schei­nen mir von so ra­di­ka­ler Wich­tig­keit, daß ich mich bei­na­he je­des Jahr ein paar Mal zu der Ein­bil­dung ver­stieg, daß die geis­ti­gen Men­schen, de­nen ich die­se Pro­ble­me sicht­bar mach­te, dar­über ihre ei­ge­ne Ar­beit bei Sei­te le­gen müß­ten, um sich einst­wei­len ganz mei­nen An­ge­le­gen­hei­ten zu wid­men. Das, was dann je­des Mal statt des­sen ge­sch­ah, war in so ko­mi­scher und un­heim­li­cher Wei­se das Ge­gent­heil des­sen, was ich er­war­tet hat­te, daß ich al­ter Men­schen­ken­ner mich mei­ner sel­ber zu schä­men lern­te und ich im­mer von Neu­em wie­der in der An­fän­ger-Leh­re um­zu­ler­nen hat­te, daß die Men­schen ihre Ge­wohn­hei­ten hun­dert­tau­send Mal wich­ti­ger neh­men als selbst – ih­ren Vort­heil…«

Alle tüch­ti­gen Leu­te, ehe­ma­li­ge Freun­de und Be­kann­te, fand er mit ih­ren eig­nen Ar­bei­ten be­schäf­tigt; selbst Pe­ter Gast, der ein­zi­ge hel­fen­de Freund, leg­te doch, nach mei­nes Bru­ders ei­ge­nem Wunsch, den Haupt­ac­cent sei­nes Le­bens und sei­ner Thä­tig­keit auf sei­ne Mu­sik. An­de­re Mit­ar­bei­ter, als die al­ler­tüch­tigs­ten, konn­te er nicht ge­brau­chen. So er­griff ihn die schmerz­li­che Ge­wiß­heit, daß er nie­mals einen Ge­nos­sen für sei­ne schwie­rigs­ten Ar­bei­ten fin­den wür­de, daß er Al­les, Al­les al­lein thun und in ab­so­lu­ter Ein­sam­keit sei­nen schwe­ren Weg ge­hen müß­te.

Wäh­rend der Cor­rek­tu­ren des »Jen­seits«, Som­mer 1886, die er von Sils-Ma­ria aus be­sorg­te, be­nutz­te er jede freie Stun­de, den be­reits vor­han­de­nen Stoff zu dem in vier Bän­den ge­plan­ten Haupt­werk zu sich­ten. Er stell­te den gan­zen Plan des un­ge­heu­ren Wer­kes zu­sam­men, mit ei­nem Ge­dan­ken­gan­ge, der das gan­ze Werk um­faßt und im We­sent­li­chen mit klei­nen Ver­schie­bun­gen bei­be­hal­ten wor­den ist. (Der In­halt des drit­ten Bu­ches ist spä­ter in das vier­te über­ge­gan­gen und ein ganz neu­es drit­tes Buch ein­ge­fügt wor­den.) Der Plan vom Som­mer 1886 lau­tet fol­gen­der­maa­ßen:

*

»Der Wil­le zur Macht.

*

Ver­such ei­ner Um­wer­thung al­ler Wert­he. In vier Bü­chern.

Ers­tes Buch: Die Ge­fahr der Ge­fah­ren (Dar­stel­lung des Ni­hi­lis­mus als der no­thwen­di­gen Con­se­quenz der bis­he­ri­gen Wert­h­schät­zun­gen). Un­ge­heu­re Ge­wal­ten sind ent­fes­selt: aber sich wi­der­spre­chend; die ent­fes­sel­ten Kräf­te sich ge­gen­sei­tig ver­nich­ten­d. Im de­mo­kra­ti­schen Ge­mein­we­sen, wo Je­der­mann Spe­cia­list ist, fehlt das Wozu? Für-Wen? der Stan­d, in dem alle die tau­send­fäl­ti­ge Ver­küm­me­rung al­ler Ein­zel­nen (zu Funk­tio­nen) Sinn be­kommt.

 

Zwei­tes Buch: Kri­tik der Wert­he (der Lo­gik usw.). Über­all die Dis­har­mo­nie auf­zu­zei­gen zwi­schen dem Ide­al und sei­nen ein­zel­nen Be­din­gun­gen (z.B. Red­lich­keit bei Chris­ten, wel­che fort­wäh­rend zur Lüge ge­zwun­gen sind).

Drit­tes Buch: Das Pro­blem des Ge­setz­ge­ber­s (dar­in die Ge­schich­te der Ein­sam­keit). Die ent­fes­sel­ten Kräf­te neu zu bin­den, daß sie sich nicht ge­gen­sei­tig ver­nich­ten; Au­gen auf­ma­chen für die wirk­li­che Ver­meh­rung an Kraft!

Vier­tes Buch: Der Ham­mer. Wie müs­sen Men­schen be­schaf­fen sein, die um­ge­kehrt wert­h­schät­zen? – Men­schen, die al­le Ei­gen­schaf­ten der mo­der­nen See­le ha­ben, aber stark ge­nug sind, sie in lau­ter Ge­sund­heit um­zu­wan­deln; ihre Mit­tel zu ih­rer Auf­ga­be.

Sils-Ma­ria. Som­mer 1886.«

*

Es wäre ganz falsch, wenn man nun an­neh­men woll­te, daß der Au­tor des »Wil­lens zur Macht« in die­sem Wer­ke sein Sys­tem hät­te ge­ben wol­len. Wir wis­sen, wie sehr er al­len Sys­te­men miß­trau­te, und wie es ihm als ein trau­ri­ges Zei­chen für einen Phi­lo­so­phen galt, wenn er sei­ne Ge­dan­ken zu ei­nem Sys­tem er­star­ren läßt. »Ein Sys­te­ma­ti­ker ist ein Phi­lo­soph«, ruft er aus, »der sei­nem Geist nicht län­ger mehr zu­ge­ste­hen will, daß er leb­t, daß er wie ein Baum mäch­tig in die Brei­te und un­er­sätt­lich um sich greift, der schlech­ter­dings kei­ne Ruhe kennt, bis er aus ihm et­was Leb­lo­ses, et­was Höl­zer­nes, eine vier­e­cki­ge Dumm­heit, ein »Sys­tem« her­aus­ge­schnitzt hat!«

Ge­wiß woll­te er sei­ne Phi­lo­so­phie, sei­ne Wel­t­an­schau­ung in die­sem großen Wer­ke dar­stel­len, aber si­cher­lich nicht als Dog­ma, son­dern als vor­läu­fi­ge Re­gu­la­ti­ve der For­schung.

Im Herbst 1886 wur­de die Ar­beit am »Wil­len zur Macht« für meh­re­re Mo­na­te un­ter­bro­chen, da mein Bru­der für eine neue Aus­ga­be sei­ner bis da­hin er­schie­ne­nen Schrif­ten Vor­re­den und das V. Buch zur »Fröh­li­chen Wis­sen­schaft« schrieb, aber im Ja­nu­ar 1887 war Al­les druck­fer­tig ab­ge­schickt; er kehr­te wie­der zur Ar­beit an sei­nem Haupt­wer­ke zu­rück. Der Fe­bru­ar 1887 brach­te je­nes furcht­ba­re Erd­be­ben in Niz­za, das er mit ei­ner merk­wür­di­gen Ruhe und Geis­tes­ge­gen­wart durch­leb­te. Er schreibt dar­über an Gast am 24. Fe­bru­ar 1887: »Lie­ber Freund, viel­leicht sind Sie durch die Nach­rich­ten über un­ser Erd­be­ben be­un­ru­higt: hier ein Wort, das Ih­nen we­nigs­tens sa­gen soll, wie es bei mir steht. Die Stadt ist voll zer­rüt­te­ter Ner­ven­sys­te­me, die Pa­nik in den Hôtels kaum glaub­lich. Die­se Nacht, ge­gen 2-3 Uhr, habe ich eine Rund­tour ge­macht und ei­ni­ge mir be­freun­de­te Per­so­nen be­sucht, die im Frei­en, auf Bän­ken oder in Drosch­ken, der Ge­fahr vor­zu­beu­gen glaub­ten. Mir selbst geht es gut; noch kei­nen Au­gen­blick Schre­cken – und so­gar sehr viel Iro­nie!«

Niz­za ver­öde­te voll­stän­dig nach die­sem Er­eigniß, mein Bru­der ließ sich aber nicht ab­hal­ten, sei­ne be­stimm­te Zeit dort zu blei­ben, auch nach der Wie­der­ho­lung ei­nes Erd­sto­ßes. Er war so we­nig von die­sen äu­ßern Ver­hält­nis­sen be­rührt ge­we­sen, daß er un­ter all den Auf­re­gun­gen, die das Erd­be­ben in Niz­za her­vor­rief, un­ge­stört sein großes Haupt­werk im Geis­te zu­sam­men­zu­fas­sen ge­sucht hat­te und zwar un­ter dem nach­fol­gen­den Plan:

*

»Der Wil­le zur Macht. Ver­such ei­ner Um­wer­thung al­ler Wert­he.

*

Ers­tes Buch.

Der eu­ro­päi­sche Ni­hi­lis­mus.

*

Zwei­tes Buch.

Kri­tik der bis­he­ri­gen höchs­ten Wert­he.

*

Drit­tes Buch.

Prin­cip ei­ner neu­en Wert­h­set­zung.

*

Vier­tes Buch.

Zucht und Züch­tung.

*

Ent­wor­fen den 17. März 1887, Niz­za.«

Die­ser Plan, der mit dem aus dem Som­mer 1886 in sei­ner Ge­samm­t­an­ord­nung fast iden­tisch ist, wur­de bis Ende Win­ter 1888 fest­ge­hal­ten. Im Nach­be­richt wird noch aus­führ­lich von spä­te­ren Plä­nen und den ein­zel­nen Pha­sen der Ent­ste­hung des »Wil­lens zur Macht« die Rede sein.

Wir wa­ren aber ge­nö­thigt, den Plan vom 17. März 1887 zur Grund­la­ge die­ser Aus­ga­be zu neh­men, da er der ein­zi­ge ist, der eine ziem­lich deut­li­che An­wei­sung zur Zu­sam­men­stel­lung des Wer­kes giebt. Au­ßer­dem bie­tet er, durch die großen all­ge­mei­nen Ge­sichts­punk­te der Ein­t­hei­lung, den wei­tes­ten Spiel­raum das rei­che Ma­te­ri­al, das zu an­dern Plä­nen vor­han­den ist, sinn­ge­mäß ein­zu­ord­nen. Der Plan hat sich ge­ra­de bei der neu­en hier vor­lie­gen­den Aus­ga­be be­son­ders güns­tig er­wie­sen, so­daß vie­le Ka­pi­tel einen fort­lau­fen­den Ge­dan­ken­gang zei­gen. Doch giebt es na­tür­lich auch jetzt noch Lücken, so­daß der in­tel­li­gen­te Le­ser selbst mit bau­en muß, um eine Ge­sammt­über­sicht zu ge­win­nen.

Das vor­lie­gen­de Werk bie­tet in sei­ner jet­zi­gen Ge­stalt einen nicht un­wich­ti­gen Vort­heil: es ge­währt in viel hö­he­rem Gra­de als die ers­te Aus­ga­be einen Ein­blick in des Au­tors Geis­tes­werk­statt. Wir se­hen gleich­sam die Ge­dan­ken vor un­sern Au­gen ent­ste­hen und kön­nen zu­gleich be­ob­ach­ten, wie un­be­fan­gen mein Bru­der sei­ne ei­ge­nen Ge­dan­ken prüft und sich nie zu ver­heh­len sucht, wel­che schlim­men oder un­be­weis­ba­ren Sei­ten die­se Pro­ble­me ha­ben könn­ten. Die Aus­führ­lich­keit, mit der sie hier und da be­han­delt wer­den, wür­de der Au­tor in dem vollen­de­ten Werk viel­leicht ver­mie­den ha­ben (ob­gleich dies nicht si­cher ist), für uns ist sie aber ein großer Vor­zug, weil wir da­durch sei­ne Ge­dan­ken so viel bes­ser ver­ste­hen ler­nen. Wie vie­le Miß­ver­ständ­nis­se die Kür­ze der Dar­stel­lung sei­ner Ge­dan­ken her­vor­ru­fen kann, da­für ist die »Göt­zen­däm­me­rung« ein be­wei­sen­des Bei­spiel. Der Au­tor be­zeich­net die »Göt­zen­däm­me­rung« di­rekt als einen Aus­zug des »Wil­lens zur Macht«; – aber wie ist die­ses klei­ne Buch ge­ra­de sei­ner Kür­ze we­gen falsch auf­ge­faßt wor­den! Die Le­ser schie­nen zu glau­ben, daß die­se grund­le­gen­den neu­en Ge­dan­ken nur so flüch­tig hin­ge­wor­fen wä­ren; Nie­mand schi­en zu ah­nen, auf welch um­fas­sen­den Stu­di­en sie be­ruh­ten. Da­von giebt hof­fent­lich die­se neue Aus­ga­be des »Wil­lens zur Macht« eine bes­se­re Vor­stel­lung.

Die An­zahl der Apho­ris­men ist in der neu­en Aus­ga­be um un­ge­fähr 570 Num­mern ver­mehrt. Es giebt da­bei al­ler­dings Wie­der­ho­lun­gen, die aber im­mer »an­ders nu­an­cirt und in an­de­rem Zu­sam­men­hang« un­ge­mein zur Ver­deut­li­chung ei­nes Ge­dan­kens bei­tra­gen; man­ches Im­promp­tu und man­che so­zu­sa­gen ver­suchs­wei­se Auf­stel­lung von Fra­gen und Pro­ble­men wird sich der ver­ständ­niß­vol­le Le­ser rich­tig zu deu­ten wis­sen und selbst eine Lö­sung zu ge­ben ver­su­chen. »Be­wun­dern aber wird er vor Al­lem, wie Pe­ter Gast sagt, die Uner­schöpf­lich­keit des Nietz­sche’­schen Geis­tes in der Be­hand­lung sei­ner The­men: wie er sie im­mer von Neu­em um­kreist, ih­nen im­mer un­er­war­te­te­re Sei­ten ab­ge­winnt und sie in Wor­te zu fas­sen weiß, die ihr In­ners­tes aus­spre­chen.«

Das Rie­sen­werk, wie es dem Au­tor vor­ge­schwebt hat, ist un­voll­en­det ge­blie­ben. Uns Her­aus­ge­bern des Nietz­sche-Archivs war es mit un­sern schwa­chen Kräf­ten vor­be­hal­ten, die köst­li­chen Bau­stei­ne nach den An­ga­ben des Au­tors, wie sie noch vor­han­den sind, ge­wis­sen­haft zu­sam­men­zu­stel­len. Es ist nicht so­gleich bei der ers­ten Aus­ga­be in über­sicht­li­cher Wei­se ge­lun­gen, und es war schwer, wenn man an die Ab­sich­ten des Au­tors dach­te, die­ses Werk da­mals in die­ser un­voll­kom­me­nen Form in die Welt zu schi­cken. Vi­el­leicht ist die­se neue, so be­rei­cher­te Aus­ga­be et­was bes­ser ge­rat­hen: aber man stel­le sich vor, daß sei­ne ei­ge­ne Meis­ter­hand die­sen un­ge­heu­ren Stoff mit all der lo­gi­schen Fol­ge­rich­tig­keit wie z.B. in der »Ge­nea­lo­gie der Moral« aus­ge­ar­bei­tet und mit dem Glan­ze sei­nes un­er­reich­ba­ren Sti­les ver­klärt hät­te – wel­ches Werk stün­de jetzt vor uns! Und was un­se­re Trau­er noch er­höht, ist, daß wir durch sei­ne per­sön­li­chen Auf­zeich­nun­gen wis­sen, wie er sich die Aus­füh­rung sei­nes phi­lo­so­phisch-theo­re­ti­schen Haupt­wer­kes ge­dacht hat: