Friedrich Wilhelm Nietzsche – Gesammelte Werke

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b) Die letzten Jahrhunderte.

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91.

Die Ver­düs­te­rung, die pes­si­mis­ti­sche Fär­bung kommt nothwen­dig im Ge­fol­ge der Auf­klä­rung. Ge­gen 1770 be­merk­te man be­reits die Ab­nah­me der Hei­ter­keit; Frau­en dach­ten, mit je­nem weib­li­chen In­stinkt, der im­mer zu Guns­ten der Tu­gend Par­tei nimmt, daß die Im­mo­ra­li­tät dar­an Schuld sei. Ga­lia­ni traf in’s Schwar­ze: er ci­tirt Vol­tai­re’s Vers:

Un mons­tre gai vaut mieux

Qu’un sen­ti­men­tal en­nuy­eux.

Wenn ich nun ver­mei­ne, jetzt um ein paar Jahr­hun­der­te Vol­tai­ren und so­gar Ga­lia­ni – der et­was viel Tie­fe­res war – in der Auf­klä­rung vor­aus zu sein: wie weit muß­te ich also gar in der Ver­düs­te­rung ge­langt sein! Dies ist auch wahr: und ich nahm zei­tig mich mit ei­ner Art Be­dau­ern in Acht vor der deut­schen und christ­li­chen Enge und Fol­ge-Un­rich­tig­keit des Scho­pen­hau­er’­schen oder gar Leo­par­di’­schen Pes­si­mis­mus und such­te die prin­ci­pi­ells­ten For­men auf (– Asi­en –). Um aber die­sen ex­tre­men Pes­si­mis­mus zu er­tra­gen (wie er hier und da aus mei­ner »Ge­burt der Tra­gö­die« her­aus­klingt), »ohne Gott und Moral« al­lein zu le­ben, muß­te ich mir ein Ge­gen­stück er­fin­den. Vi­el­leicht weiß ich am bes­ten, warum der Mensch al­lein lacht: er al­lein lei­det so tief, daß er das La­chen er­fin­den muß­te. Das un­glück­lichs­te und me­lan­cho­lischs­te Thier ist, wie bil­lig, das hei­ters­te.

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92.

In Be­zug auf deut­sche Cul­tur habe ich das Ge­fühl des Nie­der­gangs im­mer ge­habt. Das hat mich oft un­bil­lig ge­gen das gan­ze Phä­no­men der eu­ro­päi­schen Cul­tur ge­macht, daß ich eine nie­der­ge­hen­de Art ken­nen lern­te. Die Deut­schen kom­men im­mer spä­ter hin­ter­drein: sie tra­gen Et­was in der Tie­fe, z. B. –

Ab­hän­gig­keit vom Aus­land: z. B. Kant – Rous­seau, Sen­sua­lis­ten, Hume, Swe­den­borg.

Scho­pen­hau­er – In­der und Ro­man­tik, Vol­taire.

Wa­gner – fran­zö­si­scher Cul­tus des Gräß­li­chen und der großen Oper, Pa­ris und Flucht in Ur­zu­stän­de (die Schwes­ter-Ehe).

– Ge­setz der Nach­züg­ler (Pro­vinz nach Pa­ris, Deutsch­land nach Frank­reich). Wie­so ge­ra­de Deut­sche das Grie­chi­sche ent­deck­ten (: je stär­ker man einen Trieb ent­wi­ckelt, umso an­zie­hen­der wird es, sich ein­mal in sei­nen Ge­gen­satz zu stür­zen).

Mu­sik ist Ausklin­gen.

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93.

Re­naissance und Re­for­ma­ti­on. – Was be­weist die Re­naissance? Daß das Reich des »In­di­vi­du­ums« nur kurz sein kann. Die Ver­schwen­dung ist zu groß: es fehlt die Mög­lich­keit selbst, zu sam­meln, zu ca­pi­ta­li­si­ren, und die Er­schöp­fung folgt auf dem Fuße. Es sind Zei­ten, wo Al­les vert­han wird, wo die Kraft selbst verthan wird, mit der man sam­melt, ca­pi­ta­li­sirt, Reicht­hum auf Reicht­hum häuft … Selbst die Geg­ner sol­cher Be­we­gun­gen sind zu ei­ner un­sin­ni­gen Kraft­ver­geu­dung ge­zwun­gen; auch sie wer­den als­bald er­schöpft, aus­ge­braucht, öde.

Wir ha­ben in der Re­for­ma­ti­on ein wüs­tes und pö­bel­haf­tes Ge­gen­stück zur Re­naissance Ita­li­ens, ver­wand­ten An­trie­ben ent­sprun­gen, nur daß die­se im zu­rück­ge­blie­be­nen, ge­mein ge­blie­be­nen Nor­den sich re­li­gi­ös ver­klei­den muß­ten, – dort hat­te sich der Be­griff des hö­he­ren Le­bens von dem des re­li­gi­ösen Le­bens noch nicht ab­ge­löst.

Auch mit der Re­for­ma­ti­on will das In­di­vi­du­um zur Frei­heit; »Je­der sein eig­ner Pries­ter« ist auch nur eine For­mel der Li­ber­ti­na­ge. In Wahr­heit ge­nüg­te Ein Wort – »evan­ge­li­sche Frei­heit« – und alle In­stink­te, die Grund hat­ten, im Ver­bor­ge­nen zu blei­ben, bra­chen wie wil­de Hun­de her­aus, die bru­tals­ten Be­dürf­nis­se be­ka­men mit Ei­nem Male den Muth zu sich, Al­les schi­en ge­recht­fer­tigt … Man hü­te­te sich zu be­grei­fen, wel­che Frei­heit man im Grun­de ge­meint hat­te, man schloß die Au­gen vor sich … Aber daß man die Au­gen zu­mach­te und die Lip­pen mit schwär­me­ri­schen Re­den be­netz­te, hin­der­te nicht, daß die Hän­de zu­grif­fen, wo Et­was zu grei­fen war, daß der Bauch der Gott des »frei­en Evan­ge­li­ums« wur­de, daß alle Ra­che- und Neid-Ge­lüs­te sich in un­er­sätt­li­cher Wuth be­frie­dig­ten …

Dies dau­er­te eine Wei­le: dann kam die Er­schöp­fung, ganz so wie sie im Sü­den Eu­ro­pa’s ge­kom­men war; und auch hier wie­der eine ge­mei­ne Art Er­schöp­fung, ein all­ge­mei­nes rue­re in ser­vi­tu­tem … Es kam das u­n­an­stän­di­ge Jahr­hun­dert Deutsch­lands …

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94.

Die Rit­ter­lich­keit als die er­run­ge­ne Po­si­ti­on der Macht: ihr all­mäh­li­ches Zer­bre­chen (und zum Theil Über­gang in’s Brei­te­re, Bür­ger­li­che). Bei Lar­oche­fou­cauld ist Be­wußt­sein über die ei­gent­li­chen Trieb­fe­dern der No­bles­se des Ge­müths da – und christ­lich ver­düs­ter­te Beurt­hei­lung die­ser Trieb­fe­dern.

Fort­set­zung des Chris­tent­hums durch die fran­zö­si­sche Re­vo­lu­ti­on. Der Ver­füh­rer ist Rous­seau: er ent­fes­selt das Weib wie­der, das von da an im­mer in­ter­essan­ter – lei­den­d – dar­ge­stellt wird. Dann die Scla­ven und Mistreß Bee­cher-Sto­we. Dann die Ar­men und die Ar­bei­ter. Dann die Las­ter­haf­ten und Kran­ken, – Al­les das wird in den Vor­der­grund ge­stellt (selbst um für das Ge­nie ein­zu­neh­men, wis­sen sie seit fünf­hun­dert Jah­ren es nicht an­ders als den großen Leid­trä­ger dar­zu­stel­len!). Dann kommt der Fluch auf die Wol­lust (Bau­de­laire und Scho­pen­hau­er); die ent­schie­dens­te Über­zeu­gung, daß Herrsch­sucht das größ­te Las­ter ist; voll­kom­me­ne Si­cher­heit dar­in, daß Moral und dé­sintéres­se­ment iden­ti­sche Be­grif­fe sind; daß das »Glück Al­ler« ein er­stre­bens­wert­hes Ziel sei (d.h. das Him­mel­reich Chris­ti). Wir sind auf dem bes­ten Wege: das Him­mel­reich der Ar­men des Geis­tes hat be­gon­nen. – Zwi­schen­stu­fen: der Bour­geois (in Fol­ge des Gel­des Par­ve­nu) und der Ar­bei­ter (in Fol­ge der Ma­schi­ne).

Ver­gleich der grie­chi­schen Cul­tur und der fran­zö­si­schen zur Zeit Lud­wig’s XIV. Ent­schie­de­ner Glau­be an sich sel­ber. Ein Stand von Mü­ßi­gen, die es sich schwer ma­chen und viel Selb­st­über­win­dung üben. Die Macht der Form, Wil­le, sich zu for­men. »Glück« als Ziel ein­ge­stan­den. Viel Kraft und Ener­gie hin­ter dem For­men­we­sen. Der Ge­nuß am An­blick ei­nes so leicht schei­nen­den Le­bens. – Die Grie­chen sa­hen den Fran­zo­sen wie Kin­der aus.

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95.

Die drei Jahr­hun­der­te.

Ihre ver­schie­de­ne Sen­si­bi­li­tät drückt sich am bes­ten so aus:

Ari­sto­kra­tis­mus: Des­car­tes, Herr­schaft der Ver­nunft, Zeug­niß von der Sou­ve­rä­ne­tät des Wil­lens;

Fe­mi­nis­mus: Rous­seau, Herr­schaft des Ge­fühls, Zeug­niß von der Sou­ve­rä­ne­tät der Sin­ne, ver­lo­gen;

Ani­ma­lis­mus: Scho­pen­hau­er, Herr­schaft der Be­gier­de, Zeug­niß von der Sou­ve­rä­ne­tät der A­ni­ma­li­tät, red­li­cher, aber düs­ter.

Das 17. Jahr­hun­dert ist a­ri­sto­kra­tisch, ord­nend, hoch­müthig ge­gen das Ani­ma­li­sche, streng ge­gen das Herz, »un­ge­müth­lich«, so­gar ohne Ge­müth, »un­deutsch«, dem Bur­les­ken und dem Na­tür­li­chen ab­hold, ge­ne­ra­li­si­rend und sou­ve­rän ge­gen Ver­gan­gen­heit: denn es glaubt an sich. Viel Raubt­hier au fon­d, viel as­ke­ti­sche Ge­wöh­nung, um Herr zu blei­ben. Das wil­lens­star­ke Jahr­hun­dert; auch das der star­ken Lei­den­schaft.

Das 18. Jahr­hun­dert ist vom Wei­be be­herrscht, schwär­me­risch, geist­reich, flach, aber mit ei­nem Geis­te im Dienst der Wünsch­bar­keit, des Her­zens, li­ber­tin im Ge­nus­se des Geis­tigs­ten, alle Au­to­ri­tä­ten un­ter­mi­ni­rend; be­rauscht, hei­ter, klar, hu­man, falsch vor sich, viel Ca­nail­le au fon­d, ge­sell­schaft­lich …

Das 19. Jahr­hun­dert ist a­ni­ma­li­scher, un­ter­ir­di­scher, häß­li­cher, rea­lis­ti­scher, pö­bel­haf­ter, und eben­des­halb »bes­ser«, »ehr­li­cher«, vor der »Wirk­lich­keit« je­der Art un­ter­wür­fi­ger, wah­rer; aber wil­lens­schwach, aber trau­rig und dun­kel-be­gehr­lich, aber fa­ta­lis­tisch. We­der vor der »Ver­nunft«, noch vor dem »Her­zen« in Scheu und Hochach­tung; tief über­zeugt von der Herr­schaft der Be­gier­de (Scho­pen­hau­er sag­te »Wil­le«; aber Nichts ist cha­rak­te­ris­ti­scher für sei­ne Phi­lo­so­phie, als daß das ei­gent­li­che Wol­len in ihr fehlt). Selbst die Moral auf Ei­nen In­stinkt re­du­cirt (»Mit­leid«).

Au­gus­te Com­te ist Fort­set­zung des 18. Jahr­hun­derts (Herr­schaft von cœur über la tête, Sen­sua­lis­mus in der Er­kennt­nis­theo­rie, al­truis­ti­sche Schwär­me­rei).

Daß die Wis­sen­schaft in dem Gra­de sou­ve­rän ge­wor­den ist, das be­weist, wie das 19. Jahr­hun­dert sich von der Do­mi­na­ti­on der Idea­le los­ge­macht hat. Eine ge­wis­se »Be­dürf­niß­lo­sig­keit« im Wün­schen er­mög­licht uns erst un­se­re wis­sen­schaft­li­che Neu­gier­de und Stren­ge – die­se un­se­re Art Tu­gend …

Die Ro­man­tik ist Nach­schlag des 18. Jahr­hun­derts; eine Art auf­get­hürm­tes Ver­lan­gen nach des­sen Schwär­me­rei großen Stils (– that­säch­lich ein gut Stück Schau­spie­le­rei und Selbst­be­trü­ge­rei: man woll­te die star­ke Na­tur, die große Lei­den­schaft dar­stel­len).

Das 19. Jahr­hun­dert sucht in­stink­tiv nach Theo­ri­en, mit de­nen es sei­ne fa­ta­lis­ti­sche Un­ter­wer­fung un­ter das Tat­säch­li­che ge­recht­fer­tigt fühlt. Schon He­gel’s Er­folg ge­gen die »Emp­find­sam­keit« und den ro­man­ti­schen Idea­lis­mus lag im Fa­ta­lis­ti­schen sei­ner Denk­wei­se, in sei­nem Glau­ben an die grö­ße­re Ver­nunft auf Sei­ten des Sieg­rei­chen, in sei­ner Recht­fer­ti­gung des wirk­li­chen »Staa­tes« (an Stel­le von »Mensch­heit« u.s.w.). – Scho­pen­hau­er: wir sind et­was Dum­mes und, bes­ten Falls, so­gar et­was Sich-selbst-Auf­he­ben­des. Er­folg des De­ter­mi­nis­mus, der ge­nea­lo­gi­schen Ablei­tung der frü­her als ab­so­lut gel­ten­den Ver­bind­lich­kei­ten, die Leh­re vom mi­lieu und der An­pas­sung, die Re­duk­ti­on des Wil­lens auf Re­flex­be­we­gun­gen, die Leug­nung des Wil­lens als »wir­ken­der Ur­sa­che«; end­lich – eine wirk­li­che Um­tau­fung: man sieht so we­nig Wil­le, daß das Wort frei wird, um et­was An­de­res zu be­zeich­nen. Wei­te­re Theo­ri­en: die Leh­re von der Ob­jek­ti­vi­tät, »wil­len­lo­sen« Be­trach­tung, als ein­zi­gem Weg zur Wahr­heit; auch zur Schön­heit (– auch der Glau­be an das »Ge­nie«, um ein Recht auf Un­ter­wer­fung zu ha­ben); der Mecha­nis­mus, die aus­re­chen­ba­re Starr­heit des me­cha­ni­schen Pro­ces­ses; der an­geb­li­che »Na­tu­ra­lis­mus«, Eli­mi­na­ti­on des wäh­len­den, rich­ten­den, in­ter­pre­ti­ren­den Sub­jekts als Prin­cip –

 

Kant, mit sei­ner »prak­ti­schen Ver­nunft«, mit sei­nem Moral-Fa­na­tis­mus ist ganz 18. Jahr­hun­dert; noch völ­lig au­ßer­halb der his­to­ri­schen Be­we­gung; ohne je­den Blick für die Wirk­lich­keit sei­ner Zeit, z. B. Re­vo­lu­ti­on; un­be­rührt von der grie­chi­schen Phi­lo­so­phie; Phan­tast des Pf­licht­be­griffs; Sen­sua­list, mit dem Hin­ter­hang der dog­ma­ti­schen Ver­wöh­nung –.

Die Rück­be­we­gung auf Kant in un­se­rem Jahr­hun­dert ist eine Rück­be­we­gung zum acht­zehn­ten Jahr­hun­der­t: man will sich ein Recht wie­der auf die al­ten Idea­le und die alte Schwär­me­rei ver­schaf­fen, – dar­um eine Er­kennt­niß­theo­rie, wel­che »Gren­zen setzt«, das heißt er­laubt, ein Jen­seits der Ver­nunft nach Be­lie­ben an­zu­set­zen

Die Denk­wei­se He­gel’s ist von der Goethe’­schen nicht sehr ent­fernt: man höre Goe­the über Spi­no­za. Wil­le zur Ver­gött­li­chung des Alls und des Le­bens, um in sei­nem An­schau­en und Er­grün­den Ru­he und Glück zu fin­den; He­gel sucht Ver­nunft über­all, – vor der Ver­nunft darf man sich er­ge­ben und be­schei­den. Bei Goe­the eine Art von fast freu­di­gem und ver­trau­en­dem Fa­ta­lis­mus, der nicht re­vol­tirt, der nicht er­mat­tet, der aus sich eine To­ta­li­tät zu bil­den sucht, im Glau­ben, daß erst in der To­ta­li­tät Al­les sich er­löst, als gut und ge­recht­fer­tigt er­scheint.

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96.

Pe­ri­ode der Auf­klä­rung, – dar­auf Pe­ri­ode der Emp­find­sam­keit. In­wie­fern Scho­pen­hau­er zur »Emp­find­sam­keit« ge­hört (He­gel zur Geis­tig­keit).

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97.

Das 17. Jahr­hun­dert lei­det am Men­schen wie an ei­ner Sum­me von Wi­der­sprü­chenl’a­mas de con­tra­dic­ti­ons«, der wir sind); es sucht den Men­schen zu ent­de­cken, zu ord­nen, aus­zu­gra­ben: wäh­rend das 18. Jahr­hun­dert zu ver­ges­sen sucht, was man von der Na­tur des Men­schen weiß, um ihn an sei­ne Uto­pie an­zu­pas­sen. »Ober­fläch­lich, weich, hu­man«, – schwärmt für »den Men­schen« –

Das 17. Jahr­hun­dert sucht die Spu­ren des In­di­vi­du­ums aus­zu­wi­schen, da­mit das Werk dem Le­ben so ähn­lich als mög­lich sehe. Das 18. sucht durch das Werk für den Au­tor zu in­ter­es­si­ren. Das 17. Jahr­hun­dert sucht in der Kunst Kunst, ein Stück Cul­tur: das 18. treibt mit der Kunst Pro­pa­gan­da für Re­for­men so­cia­ler und po­li­ti­scher Na­tur.

Die »Uto­pie«, der »idea­le Mensch«, die Na­tur-An­gött­li­chung, die Ei­tel­keit des Sich-in-Sce­ne-set­zens, die Un­ter­ord­nung un­ter die Pro­pa­gan­da so­cia­ler Zie­le, die Char­la­ta­ne­rie – das ha­ben wir vom 18. Jahr­hun­dert.

Der Stil des 17. Jahr­hun­derts: pro­p­re, ex­act et li­b­re.

Das star­ke In­di­vi­du­um, sich selbst ge­nü­gend oder vor Gott in eif­ri­ger Be­mü­hung – und jene mo­der­ne Au­to­ren-Zu­dring­lich­keit und -Zu­spring­lich­keit – das sind Ge­gen­sät­ze. »Sich-pro­du­ci­ren« – da­mit ver­glei­che man die Ge­lehr­ten von Port-Roy­al.

Al­fie­ri hat­te einen Sinn für großen Stil.

Der Haß ge­gen das Bur­les­ke (Wür­de­lo­se), der Man­gel an Na­tur­sinn ge­hört zum 17. Jahr­hun­dert.

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98.

Ge­gen Rous­seau. – Der Mensch ist lei­der nicht mehr böse ge­nug; die Geg­ner Rous­seau’s, wel­che sa­gen »der Mensch ist ein Raubt­hier«, ha­ben lei­der nicht Recht. Nicht die Ver­derb­niß des Men­schen, son­dern sei­ne Ver­zärt­li­chung und Ver­mo­ra­li­si­rung ist der Fluch. In der Sphä­re, wel­che von Rous­seau am hef­tigs­ten be­kämpft wur­de, war ge­ra­de die re­la­ti­v noch star­ke und wohl­ge­rat­he­ne Art Mensch (– die, wel­che noch die großen Af­fek­te un­ge­bro­chen hat­te: Wil­le zur Macht, Wil­le zum Ge­nuß, Wil­le und Ver­mö­gen zu com­man­di­ren). Man muß den Men­schen des 18. Jahr­hun­derts mit dem Men­schen der Re­naissance ver­glei­chen (auch dem des 17. Jahr­hun­derts in Frank­reich), um zu spü­ren, worum es sich han­delt: Rous­seau ist ein Sym­ptom der Selbst­ver­ach­tung und der er­hitz­ten Ei­tel­keit – bei­des An­zei­chen, daß es am do­mi­ni­ren­den Wil­len fehlt: er mo­ra­li­sirt und sucht die Ur­sa­che sei­ner Mi­se­ra­bi­li­tät als Ran­cu­ne-Mensch in den herr­schen­den Stän­den.

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99.

Vol­tai­reRous­seau. – Der Zu­stand der Na­tur ist furcht­bar, der Mensch ist Raubt­hier; un­se­re Ci­vi­li­sa­ti­on ist ein un­er­hör­ter Tri­um­ph über die­se Raubt­hier-Na­tur: – so schloß Vol­tai­re. Er emp­fand die Mil­de­rung, die Raf­fi­ne­ments, die geis­ti­gen Freu­den des ci­vi­li­sir­ten Zu­stan­des; er ver­ach­te­te die Bor­nirt­heit, auch in der Form der Tu­gend; den Man­gel an De­li­ka­tes­se auch bei den As­ke­ten und Mön­chen.

Die mo­ra­li­sche Ver­werf­lich­keit des Men­schen schi­en Rous­seau zu präoc­cu­pi­ren; man kann mit den Wor­ten »un­ge­recht«, »grau­sam« am meis­ten die In­stink­te der Un­ter­drück­ten auf­rei­zen, die sich sonst un­ter dem Bann des ve­ti­tum und der Un­gna­de be­fin­den: so­daß ihr Ge­wis­sen ih­nen die auf­rüh­re­ri­schen Be­gier­den wi­der­räth. Die­se Eman­ci­pa­to­ren su­chen vor Al­lem Eins: ih­rer Par­tei die großen Ac­cen­te und At­ti­tü­den der hö­he­ren Na­tur zu ge­ben.

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100.

Rous­seau: die Re­gel grün­dend auf das Ge­fühl; die Na­tur als Quel­le der Ge­rech­tig­keit; der Mensch ver­voll­komm­net sich in dem Maa­ße, in dem er sich der Na­tur nä­her­t (– nach Vol­taire in dem Maa­ße, in dem er sich von der Na­tur ent­fernt). Die­sel­ben Epo­chen für den Ei­nen die des Fort­schritts der Hu­ma­ni­tät, für den An­dern Zei­ten der Ver­schlim­me­rung von Un­ge­rech­tig­keit und Un­gleich­heit.

Vol­taire noch die u­ma­nità, im Sin­ne der Re­naissance be­grei­fend, ins­glei­chen die vir­tù (als »hohe Cul­tur«), er kämpft für die Sa­che der »honnêtes gens« und »de la bon­ne com­pa­gnie«, die Sa­che des Ge­schmacks, der Wis­sen­schaft, der Küns­te, die Sa­che des Fort­schritts selbst und der Ci­vi­li­sa­ti­on.

Der Kampf ge­gen 1760 ent­brannt: der Gen­fer Bür­ger und le seigneur de Fer­ney. Erst von da an wird Vol­taire der Mann sei­nes Jahr­hun­derts, der Phi­lo­soph, der Ver­tre­ter der To­le­ranz und des Un­glau­bens (bis da­hin nur un bel es­prit). Der Neid und der Haß auf Rous­seau’s Er­folg trieb ihn vor­wärts, »in die Höhe«.

Pour »la ca­nail­le« un dieu ré­munéra­teur et ven­geur – Vol­taire.

Kri­tik bei­der Stand­punk­te in Hin­sicht auf den Werth der Ci­vi­li­sa­tion. Die so­cia­le Er­fin­dung die schöns­te, die es für Vol­taire giebt: es giebt kein hö­he­res Ziel, als sie zu un­ter­hal­ten und zu ver­voll­komm­nen; eben Das ist die honnêteté, die so­cia­len Ge­bräu­che zu ach­ten; Tu­gend ein Ge­hor­sam ge­gen ge­wis­se nothwen­di­ge »Vor­urt­hei­le« zu Guns­ten der Er­hal­tung der »Ge­sell­schaft«. Cul­tur-Mis­sio­när, Ari­sto­krat, Ver­tre­ter der sieg­rei­chen, herr­schen­den Stän­de und ih­rer Wer­thun­gen. Aber Rous­seau blieb Ple­be­jer, auch als hom­me de lett­res, das war un­er­hör­t; sei­ne un­ver­schäm­te Ver­ach­tung al­les Des­sen, was nicht er selbst war.

Das Krank­haf­te an Rous­seau am meis­ten be­wun­dert und nach­ge­ahm­t. (Lord By­ron ihm ver­wandt; auch sich zu er­ha­be­nen At­ti­tü­den auf­schrau­bend, zum ran­cunö­sen Groll; Zei­chen der »Ge­mein­heit«; spä­ter, durch Ve­ne­dig in’s Gleich­ge­wicht ge­bracht, be­griff er, was mehr er­leich­ter­t und wohl­thut, … l’in­sou­cian­ce.)

Rous­seau ist stolz in Hin­sicht aus Das, was er ist, trotz sei­ner Her­kunft; aber er ge­räth au­ßer sich, wenn man ihn dar­an er­in­ner­t…

Bei Rous­seau un­zwei­fel­haft die Geis­tes­stö­rung, bei Vol­taire eine un­ge­wöhn­li­che Ge­sund­heit und Leich­tig­keit. Die Ran­cu­ne des Kran­ken; die Zei­ten sei­nes Irr­sinns auch die sei­ner Men­schen­ver­ach­tung und sei­nes Miß­trau­ens.

Die Vert­hei­di­gung der Pro­vi­denz durch Rous­seau (ge­gen den Pes­si­mis­mus Vol­tai­re’s): er brauch­te Gott, um den Fluch auf die Ge­sell­schaft und die Ci­vi­li­sa­ti­on wer­fen zu kön­nen; Al­les muß­te an sich gut sein, da Gott es ge­schaf­fen; nur der Mensch hat den Men­schen ver­dor­ben. Der »gute Mensch« als Na­tur­mensch war eine rei­ne Phan­ta­sie; aber mit dem Dog­ma von der Au­tor­schaft Got­tes et­was Wahr­schein­li­ches und Be­grün­de­tes.

Ro­man­tik à la Rous­seau: die Lei­den­schaft (»das sou­ve­rä­ne Recht der Pas­si­on«); die »Na­tür­lich­keit«; die Fas­ci­na­ti­on der Ver­rückt­heit (die Narr­heit zur Grö­ße ge­rech­net); die un­sin­ni­ge Ei­tel­keit des Schwa­chen; die Pö­bel-Ran­cu­ne als Rich­te­rin (»in der Po­li­tik hat man seit hun­dert Jah­ren einen Kran­ken als Füh­rer ge­nom­men«)

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101.

Kant: macht den er­kennt­niß­theo­re­ti­schen Skep­ti­cis­mus der Eng­län­der mög­lich für Deut­sche:

1) in­dem er die mo­ra­li­schen und re­li­gi­ösen Be­dürf­nis­se der Deut­schen für den­sel­ben in­ter­es­sirt: so wie aus glei­chem Grun­de die neue­ren Aka­de­mi­ker die Skep­sis be­nutz­ten als Vor­be­rei­tung für den Pla­to­nis­mus (vi­de Au­gus­tin); so wie Pas­cal so­gar die mo­ra­lis­ti­sche Skep­sis be­nutz­te, um das Be­dürf­niß nach Glau­ben zu ex­ci­ti­ren (»zu recht­fer­ti­gen«);

2) in­dem er ihn scho­las­tisch ver­schnör­kel­te und ver­kräu­sel­te und da­durch dem wis­sen­schaft­li­chen Form-Ge­schmack der Deut­schen an­nehm­bar mach­te (denn Lo­cke und Hume an sich wa­ren zu hell, zu klar, d. h. nach deut­schen Wert­hin­stink­ten geurt­heilt »zu ober­fläch­lich« –).

Kant: ein ge­rin­ger Psy­cho­log und Men­schen­ken­ner; grob fehl­grei­fend in Hin­sicht auf große his­to­ri­sche Wert­he (fran­zö­si­sche Re­vo­lu­ti­on); Moral-Fa­na­ti­ker à la Rous­seau; mit un­ter­ir­di­scher Christ­lich­keit der Wert­he; Dog­ma­ti­ker durch und durch, aber mit ei­nem schwer­fäl­li­gen Über­druß an die­sem Hang, bis zum Wun­sche, ihn zu ty­ran­ni­si­ren, aber auch der Skep­sis so­fort müde; noch von kei­nem Hau­che kos­mo­po­li­ti­schen Ge­schmacks und an­ti­ker Schön­heit an­ge­weht … ein Ver­zö­ge­rer und Ver­mitt­ler, nichts Ori­gi­nel­les (– so wie Leib­nitz zwi­schen Mecha­nik und Spi­ri­tua­lis­mus, wie Goethe zwi­schen dem Ge­schmack des 18. Jahr­hun­derts und dem des »his­to­ri­schen Sin­nes« (– der we­sent­lich ein Sinn des Exo­tis­mus ist), wie die deut­sche Mu­si­k zwi­schen fran­zö­si­scher und ita­lie­ni­scher Mu­sik, wie Kar­l der Gro­ße zwi­schen im­pe­ri­um Ro­ma­num und Na­tio­na­lis­mus ver­mit­tel­te, über­brück­te, – Ver­zö­ge­rer par ex­cel­lence).

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102.

In­wie­fern die christ­li­chen Jahr­hun­der­te mit ih­rem Pes­si­mis­mus stär­ke­re Jahr­hun­der­te wa­ren als das 18. Jahr­hun­dert – ent­spre­chend das tra­gi­sche Zeit­al­ter der Grie­chen –.

 

Das 19. Jahr­hun­dert ge­gen das 18. Jahr­hun­dert. Wo­rin Erbe, – worin Rück­gang ge­gen das­sel­be (: »geist«lo­ser, ge­schmack­lo­ser), – worin Fort­schritt über das­sel­be (: düs­te­rer, rea­lis­ti­scher, stär­ker).

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103.

Was be­deu­tet daß, daß wir die Cam­pa­gna ro­mana nach­füh­len? Und das Hoch­ge­bir­ge? Cha­teau­bri­and 1803 in ei­nem Brief an M. de Fon­ta­nes giebt den ers­ten Ein­druck der Cam­pa­gna ro­mana.

Der Prä­si­dent de Bros­ses sagt von der Cam­pa­gna ro­ma­na: «il fal­lait que Ro­mu­lus fût ivre, quand il sou­gea à bâtir une ville dans un ter­rain aus­si laid.«

Auch De­la­croix woll­te Rom nicht, es mach­te ihm Furcht. Er schwärm­te für Ve­ne­dig, wie Sha­ke­s­pea­re, wie By­ron, wie Ge­or­ge Sand. Die Ab­nei­gung ge­gen Rom auch bei Theoph. Gau­tier – und bei Rich. Wa­gner.

La­mar­ti­ne hat für Sor­rent und den Po­sil­ipp die Spra­che –

Vic­tor Hugo schwärmt für Spa­ni­en, »par­ce que au­cu­ne au­tre na­ti­on n’a moins em­prunté à l’an­ti­quité, par­ce qu’el­le n’a subi au­cu­ne in­flu­ence clas­si­que.«

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104.

Die bei­den großen Ten­ta­ti­ven, die ge­macht wor­den sind, das 18. Jahr­hun­dert zu über­win­den:

Na­po­leon, in­dem er den Mann, den Sol­da­ten und den großen Kampf um Macht wie­der auf­weck­te – Eu­ro­pa als po­li­ti­sche Ein­heit con­ci­pi­rend;

Goethe, in­dem er eine eu­ro­päi­sche Cul­tur ima­gi­nir­te, die die vol­le Erb­schaft der schon er­reich­ten Hu­ma­ni­tät macht.

Die deut­sche Cul­tur die­ses Jahr­hun­derts er­weckt Miß­trau­en – in der Mu­sik fehlt je­nes vol­le, er­lö­sen­de und bin­den­de Ele­ment Goe­the –

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105.

Das Über­ge­wicht der Mu­si­k in den Ro­man­ti­kern von 1830 und 1840. De­la­croix. In­gres, ein lei­den­schaftlt­cher Mu­si­ker (Cul­tus für Gluck, Haydn, Beetho­ven, Mo­zart) sag­te sei­nen Schü­lern in Rom »si je pou­vais vous rend­re tous mu­si­ciens, vous y ga­gne­riez com­me pein­tres« –; ins­glei­chen Horace Ver­net, mit ei­ner be­son­de­ren Lei­den­schaft für den Don Juan (wie Men­dels­sohn be­zeugt 1831); ins­glei­chen Stendhal, der von sich sagt: Com­bi­en de lieu­es ne ferais-je pas à pied, et à com­bi­en de jours de pri­son ne me sou­met­terais-je pas pour en­tend­re *Don Juan ou le Ma­tri­mo­nio se­gre­to; et je ne sais pour quel­le au­tre cho­se je ferais cet ef­fort.* Da­mals war er 56 Jah­re alt.

Die ent­lie­he­nen For­men, z. B. Brahms als ty­pi­scher »Epi­go­ne«, Men­dels­sohn’s ge­bil­de­ter Pro­tes­tan­tis­mus eben­falls (eine frü­he­re »See­le« wird nach­ge­dich­tet …)

– die mo­ra­li­schen und poe­ti­schen Sub­sti­tu­tio­nen bei Wa­gner, die ei­ne Kunst als No­th­be­helf für Män­gel in der an­de­ren,

– der »his­to­ri­sche Sinn«, die In­spi­ra­ti­on durch Dich­ten, Sa­gen,

– jene ty­pi­sche Ver­wand­lung, für die un­ter Fran­zo­sen G. Flau­bert, un­ter Deut­schen Richard Wa­gner das deut­lichs­te Bei­spiel ist, wie der ro­man­ti­sche Glau­be an die Lie­be und die Zu­kunft in das Ver­lan­gen zum Nichts sich ver­wan­delt, 1830 in 1850.

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106.

Wa­rum cul­mi­nirt die deut­sche Mu­sik zur Zeit der deut­schen Ro­man­tik? Wa­rum fehlt Goe­the in der deut­schen Mu­sik? Wie viel Schil­ler, ge­nau­er wie viel »The­kla« ist da­ge­gen in Beetho­ven!

Schu­mann hat Ei­chen­dorff, Uh­land, Hei­ne, Hoff­mann, Tieck in sich. Richard Wa­gner hat Frei­schütz, Hoff­mann, Grimm, die ro­man­ti­sche Sage, den mys­ti­schen Ka­tho­li­cis­mus des In­stinkts, den Sym­bo­lis­mus, die »Frei­geis­te­rei der Lei­den­schaft« (Rous­seau’s Ab­sicht). Der »Flie­gen­de Hol­län­der« schmeckt nach Frank­reich, wo le téné­breux 1830 der Ver­füh­rer-Ty­pus war.

Cul­tus der Mu­si­k, der re­vo­lu­tio­nären Ro­man­tik der Form. Wa­gner re­sü­mir­t die Ro­man­tik, die deut­sche und die fran­zö­si­sche –

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107.

Richard Wa­gner bleibt, bloß in Hin­sicht auf sei­nen Werth für Deutsch­land und deut­sche Cul­tur ab­ge­schätzt, ein großes Fra­ge­zei­chen, ein deut­sches Un­glück viel­leicht, ein Schick­sal in je­dem Fal­le: aber was liegt dar­an? Ist er nicht sehr viel mehr, als bloß ein deut­sches Er­eigniß? Es will mir so­gar schei­nen, daß er nir­gends­wo we­ni­ger hin­ge­hört als nach Deutsch­land: Nichts ist da­selbst auf ihn vor­be­rei­tet, sein gan­zer Ty­pus steht un­ter Deut­schen ein­fach fremd, wun­der­lich, un­ver­stan­den, un­ver­ständ­lich da. Aber man hü­tet sich, das sich ein­zu­ge­ste­hen: dazu ist man zu gut­müthig, zu vier­e­ckig, zu deutsch. »Cre­do quia ab­sur­dus est«: so will es und woll­te es auch in die­sem Fal­le der deut­sche Geist – und so glaubt er einst­wei­len Al­les, was Wa­gner über sich selbst ge­glaubt ha­ben woll­te. Der deut­sche Geist hat zu al­len Zei­ten in psy­cho­lo­gi­cis der Fein­heit und Di­vi­na­ti­on er­man­gelt. Heu­te, wo er un­ter dem Hoch­druck der Va­ter­län­de­rei und Selbst­be­wun­de­rung steht, ver­dickt und ver­grö­bert er sich zu­se­hends; wie soll­te er dem Pro­blem Wa­gner ge­wach­sen sein! –

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108.

Die Deut­schen sind noch Nichts, aber sie wer­den Et­was; also ha­ben sie noch kei­ne Cul­tur, – also kön­nen sie noch lei­ne Cul­tur ha­ben! – Sie sind noch Nichts: das heißt sie sind Al­ler­lei. Sie wer­den Et­was: das heißt sie hö­ren ein­mal auf, Al­ler­lei zu sein. Das letz­te ist im Grun­de nur ein Wunsch, kaum noch eine Hoff­nung; glück­li­cher­wei­se ein Wunsch, auf dem man le­ben kann, eine Sa­che des Wil­lens, der Ar­beit, der Zucht, der Züch­tung so gut als eine Sa­che des Un­wil­lens, des Ver­lan­gens, der Ent­beh­rung, des Un­be­ha­gens, ja der Er­bit­te­rung, – kurz, wir Deut­schen wol­len Et­was von uns, was man von uns noch nicht woll­te – wir wol­len Et­was mehr!

Daß die­sem »Deut­schen, wie er noch nicht ist« – et­was Bes­se­res zu­kommt, als die heu­ti­ge deut­sche »Bil­dung«; daß alle »Wer­den­den« er­grimmt sein müs­sen, wo sie eine Zufrie­den­heit auf die­sem Be­rei­che, ein dreis­tes »Sich-zur-Ruhe-set­zen« oder »Sich-selbst-an­räu­chern« wahr­neh­men: das ist mein zwei­ter Satz, über den ich auch noch nicht um­ge­lernt habe.