Friedrich Wilhelm Nietzsche – Gesammelte Werke

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183.

Der Sym­bo­lis­mus des Chris­ten­tums ruht auf dem jü­di­schen, der auch schon die gan­ze Rea­li­tät (His­to­rie, Na­tur) in eine hei­li­ge Un­na­tür­lich­keit und Un­rea­li­tät auf­ge­löst hat­te … der die wirk­li­che Ge­schich­te nicht mehr se­hen woll­te –, der sich für den na­tür­li­chen Er­folg nicht mehr in­ter­es­sir­te –

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184.

Die Ju­den ma­chen den Ver­such, sich durch­zu­set­zen, nach­dem ih­nen zwei Kas­ten, die der Krie­ger und die der Acker­bau­er, ver­lo­ren ge­gan­gen sind;

sie sind in die­sem Sin­ne die »Ver­schnit­te­nen«: sie ha­ben den Pries­ter – und dann so­fort den Tschan­dala…

Wie bil­lig kommt es bei ih­nen zu ei­nem Bruch, zu ei­nem Auf­stand des Tschan­da­la: der Ur­sprung des Chris­tent­hums.

Da­mit, daß sie den Krie­ger nur als ih­ren Herrn kann­ten, brach­ten sie in ihre Re­li­gi­on die Feind­schaft ge­gen den Vor­neh­men, ge­gen den Ed­len, Stol­zen, ge­gen die Macht, ge­gen die herr­schen­den Stän­de –: sie sind Ent­rüs­tungs-Pes­si­mis­ten…

Da­mit schu­fen sie eine wich­ti­ge neue Po­si­ti­on: der Pries­ter an der Spit­ze der Tschan­dala’s, – ge­gen die vor­neh­men Stän­de

Das Chris­tent­hum zog die letz­te Con­se­quenz die­ser Be­we­gung: auch im jü­di­schen Pries­ter­thum emp­fand es noch die Kas­te, den Pri­vi­le­gir­ten, den Vor­neh­men – es strich den Pries­ter aus

Der Christ ist der Tschan­da­la, der den Pries­ter ab­lehnt … der Tschan­da­la, der sich selbst er­löst…

Des­halb ist die fran­zö­si­sche Re­vo­lu­ti­on die Toch­ter und Fort­set­ze­rin des Chris­tent­hums … sie hat den In­stinkt ge­gen die Kas­te, ge­gen die Vor­neh­men, ge­gen die letz­ten Pri­vi­le­gi­en – –

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185.

Das »christ­li­che Ide­al«: jü­disch klug in Sce­ne ge­setzt. Die psy­cho­lo­gi­schen Grundtrie­be, sei­ne »Na­tur«:

der Auf­stand ge­gen die herr­schen­de geist­li­che Macht; Ver­such, die Tu­gen­den, un­ter de­nen das Glück der Nied­rigs­ten mög­lich ist, zum rich­ter­li­chen Ide­al al­ler Wert­he zu ma­chen, – es Got­t zu hei­ßen: der Er­hal­tungs-In­stinkt der le­ben­särms­ten Schich­ten;

die ab­so­lu­te Ent­hal­tung von Krieg und Wi­der­stand aus dem Ide­al zu recht­fer­ti­gen, – ins­glei­chen den Ge­hor­sam;

die Lie­be un­ter ein­an­der, als Fol­ge der Lie­be zu Gott.

Kunst­griff: alle na­tür­li­chen *mo­bi­lia ab­leug­nen* und um­keh­ren in’s Geist­lich-Jen­sei­ti­ge …

die Tu­gen­d und de­ren Ver­eh­rung ganz und gar für sich aus­nüt­zen, schritt­wei­se sie al­lem Nicht-Christ­li­chen ab­spre­chen.

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186.

Die tie­fe Ver­ach­tung, mit der der Christ in der vor­nehm ge­blie­be­nen an­ti­ken Welt be­han­delt wur­de, ge­hört eben­da­hin, wo­hin heu­te noch die In­stinkt-Ab­nei­gung ge­gen den Ju­den ge­hört: es ist der Haß der frei­en und selbst­be­wuß­ten Stän­de ge­gen Die, wel­che sich durch­drücken und schüch­ter­ne, lin­ki­sche Ge­bär­den mit ei­nem un­sin­ni­gen Selbst­ge­fühl ver­bin­den.

Das neue Te­sta­ment ist das Evan­ge­li­um ei­ner gänz­lich un­vor­neh­men Art Mensch; ihr An­spruch, mehr Werth zu ha­ben, ja al­len Werth zu ha­ben, hat in der That et­was Em­pö­ren­des, – auch heu­te noch.

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187.

Wie we­nig liegt am Ge­gen­stand! Der Geist ist es, der le­ben­dig macht! Wel­che kran­ke und ver­stock­te Luft mit­ten aus all dem auf­ge­reg­ten Ge­re­de von »Er­lö­sung«, Lie­be, Se­lig­keit, Glau­be, Wahr­heit, »ewi­gem Le­ben«! Man neh­me ein­mal ein ei­gent­lich heid­nisches Buch da­ge­gen, z. B. Pe­tro­ni­us, wo im Grun­de Nichts gethan, ge­sagt, ge­wollt und ge­schätzt wird, was nicht, nach ei­nem christ­lich-mucke­ri­schen Wert­h­maaß, Sün­de, selbst Tod­sün­de ist. Und trotz­dem: wel­ches Wohl­ge­fühl in der rei­ne­ren Luft, der über­le­ge­nen Geis­tig­keit des schnel­le­ren Schrit­tes, der frei­ge­wor­de­nen und über­schüs­si­gen zu­kunfts­ge­wis­sen Kraft! Im gan­zen neu­en Te­sta­ment kommt kei­ne ein­zi­ge bouf­fon­ne­rie vor: aber da­mit ist ein Buch wi­der­leg­t…

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188.

Die tie­fe Un­wür­dig­keit, mit der al­les Le­ben au­ßer­halb des christ­li­chen be­urt­heilt wird: es ge­nügt ih­nen nicht, ihre ei­gent­li­chen Geg­ner sich ge­mein zu den­ken, sie brau­chen nichts we­ni­ger als eine Ge­sammt­ver­leum­dung von Al­lem, was nicht sie sin­d… Mit der Ar­ro­ganz der Hei­lig­keit ver­trägt sich auf­’s Bes­te eine nie­der­träch­ti­ge und ver­schmitz­te See­le: Zeug­niß die ers­ten Chris­ten.

Die Zu­kunft: sie las­sen es sich tüch­tig be­zah­len… Es ist die unsau­bers­te Art Geist, die es giebt. Das gan­ze Le­ben Chris­ti wird so dar­ge­stellt, daß er den Weis­sa­gun­gen zum Recht ver­hilft: er han­delt so, da­mit sie Recht be­kom­men…

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189.

Die lüg­ne­ri­sche Aus­le­gung der Wor­te, Ge­bär­den und Zu­stän­de Ster­ben­der: da wird z.B. die Furcht vor dem Tode mit der Furcht vor dem »Nach-dem-Tode« grund­sätz­lich ver­wech­selt …

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190.

Auch die Chris­ten ha­ben es ge­macht wie die Ju­den und Das, was sie als Exis­tenz­be­din­gung und Neue­rung emp­fan­den, ih­rem Meis­ter in den Mund ge­legt und sein Le­ben da­mit in­krustirt. Ins­glei­chen ha­ben sie die gan­ze Spruch­weis­heit ihm zu­rück­ge­ge­ben –: kurz, ihr that­säch­li­ches Le­ben und Trei­ben als einen Ge­hor­sam dar­ge­stellt und da­durch für ihre Pro­pa­gan­da ge­hei­ligt.

Woran Al­les hängt, das er­giebt sich bei Pau­lus: es ist we­nig. Das An­de­re ist die Aus­ge­stal­tung ei­nes Ty­pus von Hei­li­gen, aus Dem, was ih­nen als hei­lig galt.

Die gan­ze »Wun­der­leh­re«, ein­ge­rech­net die Au­fer­ste­hung, ist eine Con­se­quenz der Selbst­ver­herr­li­chung der Ge­mein­de, wel­che Das, was sie sich sel­ber zu­trau­te, in hö­he­rem Gra­de ih­rem Meis­ter zu­trau­te (resp. aus ihm ihre Kraft ab­lei­te­te…).

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191.

Die Chris­ten ha­ben nie­mals die Hand­lun­gen prak­ti­cirt, wel­che ih­nen Je­sus vor­ge­schrie­ben hat, und das un­ver­schäm­te Ge­re­de von der »Recht­fer­ti­gung durch den Glau­ben« und des­sen obers­ter und ein­zi­ger Be­deut­sam­keit ist nur die Fol­ge da­von, daß die Kir­che nicht den Muth, noch den Wil­len hat­te, sich zu den Wer­ken zu be­ken­nen, wel­che Je­sus for­der­te.

Der Bud­dhist han­delt an­ders als der Nicht­bud­dhist! der Christ han­delt wie alle Wel­t und hat ein Chris­tent­hum der Ce­re­mo­ni­en und der Stim­mun­gen.

Die tie­fe und ver­ächt­li­che Ver­lo­gen­heit des Chris­tent­hums in Eu­ro­pa –: wir wer­den wirk­lich die Ver­ach­tung der Ara­ber, Hin­du’s, Chi­ne­sen… Man höre die Re­den des ers­ten deut­schen Staats­man­nes über Das, was jetzt 40 Jah­re Eu­ro­pa ei­gent­lich be­schäf­tigt hat…

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192.

»Glau­be« oder »Wer­te«? – Aber daß zum »Wer­ke«, zur Ge­wohn­heit be­stimm­ter Wer­ke sich eine be­stimm­te Wert­schät­zung und end­lich Ge­sin­nung hin­zu­er­zeugt, ist eben­so na­tür­lich, als es un­na­tür­lich ist, daß aus ei­ner blo­ßen Wert­schät­zung »Wer­ke« her­vor­gehn. Man muß sich üben, nicht in der Ver­stär­kung von Wert­h­ge­füh­len, son­dern im Thun; man muß erst Et­was kön­nen… Der christ­li­che Di­let­tan­tis­mus Luther’s. Der Glau­be ist eine Esels­brücke. Der Hin­ter­grund ist eine tie­fe Über­zeu­gung Luther’s und sei­nes Glei­chen von ih­rer Un­fä­hig­keit zu christ­li­chen Wer­ken, eine per­sön­li­che That­sa­che, ver­hüllt un­ter ei­nem ex­tre­men Miß­trau­en dar­über, ob nicht über­haupt jed­we­des Thun Sün­de und vom Teu­fel ist: so­daß der Werth der Exis­tenz auf ein­zel­ne hoch­ge­spann­te Zu­stän­de der Unt­hä­tig­keit fällt (Ge­bet, Ef­fu­si­on u.s.w.). – Zu­letzt hät­te er Recht: die In­stink­te, wel­che sich im gan­zen Thun der Re­for­ma­to­ren aus­drücken, sind die bru­tals­ten, die es giebt. Nur in der ab­so­lu­ten Weg­wen­dung von sich, in der Ver­sen­kung in den Ge­gen­satz, nur als Il­lu­sion (»Glau­be«) war ih­nen das Da­sein aus­zu­hal­ten.

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193.

– »Was thun, um zu glau­ben?« – eine ab­sur­de Fra­ge. Was im Chris­ten­tum fehlt, das ist die Ent­hal­tung von Al­le­dem, was Chris­tus be­foh­len hat zu thun.

Es ist das mes­qui­ne Le­ben, aber mit ei­nem Auge der Ver­ach­tung in­ter­pre­tirt.

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194.

Der Ein­tritt in das wah­re Le­ben– man ret­tet sein per­sön­li­ches Le­ben vom Tode, in­dem man das all­ge­mei­ne Le­ben leb­t

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195.

Das »Chris­tent­hum« ist et­was Grund­ver­schie­de­nes von Dem ge­wor­den, was sein Stif­ter that und woll­te. Es ist die große an­ti­heid­nische Be­we­gung des Al­ter­thums, for­mu­lirt mit Be­nut­zung von Le­ben, Leh­re und »Wor­ten« des Stif­ters des Chris­tent­hums, aber in ei­ner ab­so­lut will­kür­li­chen In­ter­pre­ta­ti­on nach dem Sche­ma grund­ver­schie­de­ner Be­dürf­nis­se: über­setzt in die Spra­che al­ler schon be­ste­hen­den un­ter­ir­di­schen Re­li­gio­nen

Es ist die Her­auf­kunft des Pes­si­mis­mus (– wäh­rend Je­sus den Frie­den und das Glück der Läm­mer brin­gen woll­te): und zwar des Pes­si­mis­mus der Schwa­chen, der Un­ter­le­ge­nen, der Lei­den­den, der Un­ter­drück­ten.

Ihr Tod­feind ist 1) die Macht in Cha­rak­ter, Geist und Ge­schmack; die »Welt­lich­keit«: 2) das clas­si­sche »Glück«, die vor­neh­me Leicht­fer­tig­keit und Skep­sis, der har­te Stolz, die ex­zen­tri­sche Aus­schwei­fung und die küh­le Selbst­ge­nüg­sam­keit des Wei­sen, das grie­chi­sche Raf­fi­ne­ment in Ge­bär­de, Wort und Form. Ihr Tod­feind ist der Rö­mer eben­so­sehr als der Grie­che.

 

Ver­such des An­ti­hei­dent­hums, sich phi­lo­so­phisch zu be­grün­den und mög­lich zu ma­chen: Wit­te­rung für die zwei­deu­ti­gen Fi­gu­ren der al­ten Cul­tur, vor Al­lem für Pla­to, die­sen An­ti­hel­le­nen und Se­mi­ten von In­stink­t… Ins­glei­chen für den Stoi­cis­mus, der we­sent­lich das Werk von Se­mi­ten ist (– die »Wür­de« als Stren­ge, Ge­setz, die Tu­gend als Grö­ße, Selbst­ver­ant­wor­tung, Au­to­ri­tät, als höchs­te Per­so­nal-Sou­ve­rä­ne­tät – das ist se­mi­tisch. Der Stoi­ker ist ein ara­bi­scher Scheich in grie­chi­sche Win­deln und Be­grif­fe ge­wi­ckelt).

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196.

Das Chris­tent­hum nimmt den Kampf nur auf, der schon ge­gen das clas­si­sche Ide­al, ge­gen die vor­neh­me Re­li­gi­on be­stand. That­säch­lich ist die­se gan­ze Um­bil­dung eine Über­set­zung in die Be­dürf­nis­se und das Ver­ständ­niß-Ni­veau der da­ma­li­gen re­li­gi­ösen Mas­se: je­ner Mas­se, wel­che an Isis, Mi­thras, Dio­ny­sos, die »große Mut­ter« glaub­te und wel­che von ei­ner Re­li­gi­on ver­lang­te: 1) die Jen­seits-Hoff­nung, 2) die blu­ti­ge Phan­tas­ma­go­ne des Op­fert­hiers (das Mys­te­ri­um), 3) die er­lö­sen­de That, die hei­li­ge Le­gen­de, 4) den As­ke­tis­mus, die Welt­ver­nei­nung, die aber­gläu­bi­sche »Rei­ni­gung«, 5) die Hier­ar­chie, eine Form der Ge­mein­de­bil­dung. Kurz: das Chris­tent­hum paßt sich an das schon be­ste­hen­de, über­all ein­ge­wach­se­ne An­ti-Hei­dent­hum an, an die Cul­te, wel­che von Epi­kur be­kämpft wor­den sind … ge­nau­er, an die Re­li­gio­nen der nie­de­ren Mas­se, der Frau­en, der Skla­ven, der nicht-vor­neh­men Stän­de.

Wir ha­ben also als Miß­ver­ständ­niß:

1. die Uns­terb­lich­keit der Per­son;

2. die an­geb­li­che an­de­re Welt; 3. die Ab­sur­di­tät des Straf­be­griffs und Süh­ne­be­griffs im Cen­trum der Da­seins-In­ter­pre­ta­ti­on; 4. die Ent­gött­li­chung des Men­schen statt sei­ner Ver­gött­li­chung, die Auf­rei­ßung der tiefs­ten Kluft, über die nur das Wun­der, nur die Pro­stra­ti­on der tiefs­ten Selbst­ver­ach­tung hin­weg­hilft; 5. die gan­ze Welt der ver­dor­be­nen Ima­gi­na­ti­on und des krank­haf­ten Af­fekts, statt der lie­be­vol­len, ein­fäl­ti­gen Pra­xis, statt ei­nes auf Er­den er­reich­ba­ren bud­dhis­ti­schen Glückes; 6. eine kirch­li­che Ord­nung mit Pries­ter­schaft, Theo­lo­gie, Cul­tus, Sa­cra­ment; kurz, al­les Das, was Je­sus von Na­za­reth be­kämpft hat­te; 7. das Wun­der in Al­lem und Je­dem, der Aber­glau­be: wäh­rend ge­ra­de das Aus­zeich­nen­de des Ju­dent­hums und des äl­tes­ten Chris­tent­hums sein Wi­der­wil­le ge­gen das Wun­der ist, sei­ne re­la­ti­ve Ra­tio­na­li­tät.

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197.

Die psy­cho­lo­gi­sche Voraus­set­zung: die Un­wis­sen­heit und Un­cul­tur, die Igno­ranz, die jede Scham ver­lernt hat: man den­ke sich die­se un­ver­schäm­ten Hei­li­gen mit­ten in Athen;

der jü­di­sche »Au­ser­wähl­ten-In­stink­t: sie neh­men al­le Tu­gen­den ohne Wei­te­res für sich in An­spruch und rech­nen den Rest der Welt als ih­ren Ge­gen­satz; tie­fes Zei­chen der Ge­mein­heit der See­le;

der voll­kom­me­ne Man­gel an wirk­li­chen Zie­len, an wirk­li­chen Auf­ga­ben, zu de­nen man an­de­re Tu­gen­den als die der Mu­cker braucht, – der Staat nahm ih­nen die­se Ar­beit ab: das un­ver­schäm­te Volk that trotz­dem, als ob sie ihn nicht nö­thig hät­ten.

»So ihr nicht wer­det wie die Kin­der –«: oh wie fern wir von die­ser psy­cho­lo­gi­schen Nai­ve­tät sind!

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198.

Der Stif­ter des Chris­tent­hums hat es bü­ßen müs­sen, daß er sich an die nied­rigs­te Schicht der jü­di­schen Ge­sell­schaft und In­tel­li­genz ge­wen­det hat. Sie hat ihn nach dem Geis­te con­ci­pirt, den sie be­griff … Es ist eine wah­re Schan­de, eine Heils­ge­schich­te, einen per­sön­li­chen Gott, einen per­sön­li­chen Er­lö­ser, eine per­sön­li­che Uns­terb­lich­keit her­aus­fa­bri­cirt zu ha­ben und die gan­ze Mes­qui­ne­rie der »Per­son« und der »His­to­rie« üb­rig be­hal­ten zu ha­ben aus ei­ner Leh­re, die al­lem Per­sön­li­chen und His­to­ri­schen die Rea­li­tät be­strei­tet …

Die Heils-Le­gen­de an Stel­le der sym­bo­li­schen Jetzt- und All­zeit, des Hier und Über­all; das Mi­ra­kel an Stel­le des psy­cho­lo­gi­schen Sym­bols.

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199.

Nichts ist we­ni­ger un­schul­dig als das neue Te­sta­ment. Man weiß, auf wel­chem Bo­den es ge­wach­sen ist. Dies Volk, mit ei­nem un­er­bitt­li­chen Wil­len zu sich selbst, das sich, nach­dem es je­den na­tür­li­chen Halt ver­lo­ren und sein Recht auf Da­sein längst ein­ge­büßt hat­te, den­noch durch­zu­set­zen wuß­te und dazu nö­thig hat­te, sich ganz und gar auf un­na­tür­li­che, rein ima­gi­näre Voraus­set­zun­gen (als aus­er­wähl­tes Volk, als Ge­mein­de der Hei­li­gen, als Volk der Ver­hei­ßung, als »Kir­che«) auf­zu­bau­en: dies Volk hand­hab­te die pia fraus mit ei­ner Vollen­dung, mit ei­nem Grad »gu­ten Ge­wis­sens«, daß man nicht vor­sich­tig ge­nug sein kann, wenn es Moral pre­digt. Wenn Ju­den als die Un­schuld sel­ber auf­tre­ten, da ist die Ge­fahr groß ge­wor­den: man soll sei­nen klei­nen Fond Ver­stand, Miß­trau­en, Bos­heit im­mer in der Hand ha­ben, wenn man das neue Te­sta­ment liest.

Leu­te nied­rigs­ter Her­kunft, zum Theil Ge­sin­del, die Aus­ge­sto­ße­nen nicht nur der gu­ten, son­dern auch der acht­ba­ren Ge­sell­schaft, ab­seits selbst vom Ge­ru­che der Cul­tur auf­ge­wach­sen, ohne Zucht, ohne Wis­sen, ohne jede Ah­nung da­von, daß es in geis­ti­gen Din­gen Ge­wis­sen ge­ben könn­te, eben – Ju­den: in­stink­tiv klug, mit al­len aber­gläu­bi­schen Voraus­set­zun­gen, mit der Un­wis­sen­heit selbst, einen Vor­zug, eine Ver­füh­rung zu schaf­fen.

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200.

Ich be­trach­te das Chris­tent­hum als die ver­häng­niß­volls­te Lüge der Ver­füh­rung, die es bis­her ge­ge­ben hat, als die große un­hei­li­ge Lü­ge: ich zie­he sei­nen Nach­wuchs und Aus­schlag von Ide­al noch un­ter al­len sons­ti­gen Ver­klei­dun­gen her­aus, ich weh­re alle Halb- und Drei­vier­tels-Stel­lun­gen zu ihm ab, – ich zwin­ge zum Krieg mit ihm.

Die Klei­ne-Leu­te-Mora­li­tät als Maaß der Din­ge: das ist die ekel­haf­tes­te Ent­ar­tung, wel­che die Cul­tur bis­her auf­zu­wei­sen hat. Und die­se Art Ideal als »Gott« hän­gen blei­bend über der Mensch­heit!!

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201.

Wenn man auch noch so be­schei­den in sei­nem An­spruch auf in­tel­lek­tu­el­le Sau­ber­keit ist, man kann nicht ver­hin­dern, bei der Berüh­rung mit dem neu­en Te­sta­ment et­was wie ein un­aus­sprech­li­ches Miß­be­ha­gen zu emp­fin­den: denn die zü­gel­lo­se Frech­heit des Mit­re­den­wol­lens Un­be­ru­fens­ter über die großen Pro­ble­me, ja ihr An­spruch auf Rich­ter­thum in sol­chen Din­gen über­steigt je­des Maaß. Die un­ver­schäm­te Leicht­fer­tig­keit, mit der hier von den un­zu­gäng­lichs­ten Pro­ble­men (Le­ben, Welt, Gott, Zweck des Le­bens) ge­re­det wird, wie als ob sie kei­ne Pro­ble­me wä­ren, son­dern ein­fach Sa­chen, die die­se klei­nen Mu­cker wis­sen!

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202.

Dies war die ver­häng­niß­volls­te Art Grö­ßen­wahn, die bis­her auf Er­den da­ge­we­sen ist: – wenn die­se ver­lo­ge­nen klei­nen Miß­ge­bur­ten von Mu­ckern an­fan­gen, die Wor­te »Gott«, »jüngs­tes Ge­richt«, »Wahr­heit«, »Lie­be«, »Weis­heit«, »hei­li­ger Geist« für sich in An­spruch zu neh­men und sich da­mit ge­gen »die Welt« ab­zu­gren­zen, wenn die­se Art Mensch an­fängt, die Wert­he nach sich um­zu­dre­hen, wie als ob sie der Sinn, das Salz, das Maaß und Ge­wicht vom gan­zen Rest wä­ren: so soll­te man ih­nen Ir­ren­häu­ser bau­en und Nichts wei­ter thun. Daß man sie ver­folg­te, das war eine an­ti­ke Dumm­heit großen Stils: da­mit nahm man sie zu ernst, da­mit mach­te man aus ih­nen einen Ernst.

Das gan­ze Ver­häng­nis; war da­durch er­mög­licht, daß schon eine ver­wand­te Art von Grö­ßen­wahn in der Welt war, der jü­di­sche (– nach­dem ein­mal die Kluft zwi­schen den Ju­den und den Chris­ten-Ju­den auf­ge­ris­sen, muß­ten die Chris­ten-Ju­den die Pro­ce­dur der Selbs­t­er­hal­tung, wel­che der jü­di­sche In­stinkt er­fun­den hat­te, noch­mals und in ei­ner letz­ten Stei­ge­rung zu ih­rer Selbs­t­er­hal­tung an­wen­den –); an­de­rer­seits da­durch, daß die grie­chi­sche Phi­lo­so­phie der Moral Al­les gethan hat­te, um einen Moral-Fa­na­tis­mus selbst un­ter Grie­chen und Rö­mern vor­zu­be­rei­ten und schmack­haft zu ma­chen … Pla­to, die große Zwi­schen­brücke der Ver­derb­niß, der zu­erst die Na­tur in der Moral nicht ver­ste­hen woll­te, der be­reits die grie­chi­schen Göt­ter mit sei­nem Be­griff »gut« ent­wert­het hat­te, der be­reits jü­disch – an­ge­mu­cker­t war (– in Ägyp­ten?).

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203.

Die­se klei­nen He­er­dent­hier-Tu­gen­den füh­ren ganz und gar nicht zum »ewi­gen Le­ben«: sie der­ge­stalt in Sce­ne set­zen, und sich mit ih­nen, mag sehr klug sein, aber für Den, der hier noch sei­ne Au­gen auf hat, bleibt es trotz­al­le­dem das lä­cher­lichs­te al­ler Schau­spie­le. Man ver­dient ganz und gar nicht ein Vor­recht auf Er­den und im Him­mel, wenn man es zur Voll­kom­men­heit ei­ner klei­nen, lie­ben Schafs­mä­ßig­keit ge­bracht hat; man bleibt da­mit, güns­ti­gen Falls, im­mer bloß ein klei­nes, lie­bes, ab­sur­des Schaf mit Hör­nern – vor­aus­ge­setzt, daß man nicht vor Ei­tel­keit platzt und durch rich­ter­li­che At­ti­tü­den skan­da­li­sirt.

Die un­ge­heu­re Far­ben-Ver­klä­rung, mit der hier die klei­nen Tu­gen­den il­lu­mi­nirt wer­ben – wie als Wi­der­glanz gött­li­cher Qua­li­tä­ten!

Die na­tür­li­che Ab­sicht und Nütz­lich­keit je­der Tu­gend grund­sätz­lich ver­schwie­gen; sie ist nur in Hin­sicht auf ein gött­li­ches Ge­bot, ein gött­li­ches Vor­bild wert­h­voll, nur in Hin­sicht auf jen­sei­ti­ge und geist­li­che Gü­ter. (Pracht­voll: als ob sich’s um’s »Heil der See­le« han­del­te: aber es war ein Mit­tel, um es hier mit mög­lichst viel schö­nen Ge­füh­len »aus­zu­hal­ten«.)

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204.

Das Ge­setz, die gründ­lich rea­lis­ti­sche For­mu­lirung ge­wis­ser Er­hal­tungs­be­din­gun­gen ei­ner Ge­mein­de, ver­bie­tet ge­wis­se Hand­lun­gen in ei­ner be­stimm­ten Rich­tung, na­ment­lich in­so­fern sie ge­gen die Ge­mein­de sich wen­den: sie ver­bie­tet nicht die Ge­sin­nung, aus der die­se Hand­lun­gen flie­ßen, – denn sie hat die­sel­ben Hand­lun­gen in ei­ner an­de­ren Rich­tung nö­thig, näm­lich ge­gen die Fein­de der Ge­mein­schaft. Nun tritt der Moral-Idea­list auf und sagt »Gott ste­het das Herz an: die Hand­lung selbst ist noch Nichts; man muß die feind­li­che Ge­sin­nung aus­rot­ten, aus der sie fließt …« Dar­über lacht man in nor­ma­len Ver­hält­nis­sen; nur in je­nen Aus­nah­me­fäl­len, wo eine Ge­mein­schaft ab­so­lut au­ßer­halb der Nö­thi­gung lebt, Krieg für ihre Exis­tenz zu füh­ren, hat man über­haupt das Ohr für sol­che Din­ge. Man läßt eine Ge­sin­nung fah­ren, de­ren Nütz­lich­keit nicht mehr ab­zu­se­hen ist.

Dies war z. B. beim Auf­tre­ten Bud­dha’s der Fall, in­ner­halb ei­ner sehr fried­li­chen und selbst geis­tig über­mü­de­ten Ge­sell­schaft.

Dies war ins­glei­chen bei der ers­ten Chris­ten­ge­mein­de (auch Ju­den­ge­mein­de) der Fall, de­ren Voraus­set­zung die ab­so­lut un­po­li­ti­sche jü­di­sche Ge­sell­schaft ist. Das Chris­tent­hum konn­te nur auf dem Bo­den des Ju­dent­hums wach­sen, d. h. in­ner­halb ei­nes Vol­kes, das po­li­tisch schon Ver­zicht ge­leis­tet hat­te und eine Art Pa­ra­si­ten-Da­sein in­ner­halb der rö­mi­schen Ord­nung der Din­ge leb­te. Das Chris­tent­hum ist um einen Schritt wei­ter: man darf sich noch viel mehr »ent­man­nen«, – die Um­stän­de er­lau­ben es. – Man treibt die Na­tur aus der Moral her­aus, wenn man sagt »lie­bet eure Fein­de«: denn nun ist die Na­tur »du sollst dei­nen Nächs­ten lie­ben, dei­nen Feind has­sen« in dem Ge­setz (im In­stinkt) sinn­los ge­wor­den: nun muß auch die Lie­be zu dem Nächs­ten sich erst neu be­grün­den (als eine Art Lie­be zu Got­t). Über­all Got­t hin­ein­ge­steckt und die Nütz­lich­keit her­aus­ge­zo­gen; über­all ge­leug­net, wo­her ei­gent­lich alle Moral stammt: die Na­tur­wür­di­gung, wel­che eben in der A­ner­ken­nung ei­ner Na­tur-Moral liegt, in Grund und Bo­den ver­nich­tet

 

Wo­her kommt der Ver­füh­rungs­rei­z ei­nes sol­chen ent­mann­ten Mensch­heits-Ideals? Wa­rum de­gou­tirt es nicht, wie uns etwa die Vor­stel­lung des Ka­stra­ten de­gou­tirt? … Eben hier liegt die Ant­wort: die Stim­me des Ca­stra­ten de­gou­tirt uns auch nicht, trotz der grau­sa­men Ver­stüm­me­lung, wel­che die Be­din­gung ist: sie ist sü­ßer ge­wor­den … Eben da­mit, daß der Tu­gend die »männ­li­chen Glie­der« aus­ge­schnit­ten sind, ist ein fe­mi­ni­ni­scher Stimm­klang in die Tu­gend ge­bracht, den sie vor­her nicht hat­te.

Den­ken wir an­de­rer­seits an die furcht­ba­re Här­te, Ge­fahr und Un­be­re­chen­bar­keit, die ein Le­ben der männ­li­chen Tu­gen­den mit sich bringt – das Le­ben ei­nes Cor­sen heu­te noch oder das der heid­nischen Ara­ber (wel­ches bis auf die Ein­zel­hei­ten dem Le­ben der Cor­sen gleich ist: die Lie­der könn­ten von Cor­sen ge­dich­tet sein) – so be­greift man, wie ge­ra­de die ro­bus­tes­te Art Mensch von die­sem wol­lüs­ti­gen Klang der »Güte«, der »Rein­heit« fa­s­ci­nirt und er­schüt­tert wird … Eine Hir­ten­wei­se … ein Idyll … der »gute Mensch«: der­glei­chen wirkt am stärks­ten in Zei­ten, wo die Tra­gö­die durch die Gas­sen läuft.

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Hier­mit ha­ben wir aber auch er­kannt, in­wie­fern der »Idea­list« (– Ide­al-Ca­strat) auch aus ei­ner ganz be­stimm­ten Wirk­lich­keit her­aus­geht und nicht bloß ein Phan­tast ist … Er ist ge­ra­de zur Er­kennt­niß ge­kom­men, daß für sei­ne Art Rea­li­tät eine sol­che gro­be Vor­schrift des Ver­bo­tes be­stimm­ter Hand­lun­gen kei­nen Sinn hat (weil der In­stinkt ge­ra­de zu die­sen Hand­lun­gen ge­schwächt ist, durch lan­gen Man­gel an Übung, an Nö­thi­gung zur Übung). Der Ca­stra­tist for­mu­lirt eine Sum­me von neu­en Er­hal­tungs­be­din­gun­gen für Men­schen ei­ner ganz be­stimm­ten Spe­cies: dar­in ist er Rea­list. Die Mit­tel zu sei­ner Le­gis­la­tur sind die glei­chen, wie für die äl­te­ren Le­gis­la­tu­ren: der Ap­pell an alle Art Au­to­ri­tät, an »Gott«, die Be­nut­zung des Be­griffs »Schuld und Stra­fe«, – d. h. er macht sich den gan­zen Zu­be­hör des äl­te­ren Ideals zu nutz: nur in ei­ner neu­en Aus­deu­tung, die Stra­fe z. B. in­ner­li­cher ge­macht (etwa als Ge­wis­sens­biß).

In pra­xi geht die­se Spe­cies Mensch zu Grun­de, so­bald die Aus­nah­me­be­din­gun­gen ih­rer Exis­tenz auf­hö­ren – eine Art Ta­hi­ti und In­sel­glück, wie es das Le­ben der klei­nen Ju­den in der Pro­vinz war. Ihre ein­zi­ge na­tür­li­che Geg­ner­schaft ist der Bo­den, aus dem sie wuch­sen: ge­gen ihn ha­ben sie nö­thig zu kämp­fen, ge­gen ihn müs­sen sie die Of­fen­siv- und De­fen­siv-Af­fek­te wie­der wach­sen las­sen: ihre Geg­ner sind die An­hän­ger des al­ten Ideals (– die­se Spe­cies Feind­schaft ist groß­ar­tig durch Pau­lus im Ver­hält­nis zum Jü­di­schen ver­tre­ten, durch Luther im Ver­hält­nis zum pries­ter­lich-as­ke­ti­schen Ide­al). Die mil­des­te Form die­ser Geg­ner­schaft ist si­cher­lich die der ers­ten Bud­dhis­ten: viel­leicht ist auf Nichts mehr Ar­beit ver­wen­det wor­den, als die feind­se­li­gen Ge­füh­le zu ent­muthi­gen und schwach zu ma­chen. Der Kampf ge­gen das Res­sen­ti­ment er­scheint fast als ers­te Auf­ga­be des Bud­dhis­ten: erst da­mit ist der Frie­den der See­le ver­bürgt. Sich los­lö­sen, aber ohne Ran­cu­ne: das setzt al­ler­dings eine er­staun­lich ge­mil­der­te und süß ge­wor­de­ne Men­sch­lich­keit vor­aus, – Hei­li­ge …

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Die Klug­heit des Moral-Ca­stra­tis­mus. – Wie führt man Krieg ge­gen die männ­li­chen Af­fek­te und Wer­thun­gen? Man hat kei­ne phy­si­schen Ge­walt­mit­tel, man kann nur einen Krieg der List, der Ver­zau­be­rung, der Lüge, kurz »des Geis­tes« füh­ren.

Ers­tes Re­cept: man nimmt die Tu­gend über­haupt für sein Ide­al in An­spruch; man ne­gir­t das äl­te­re Ide­al bis zum Ge­gen­satz zu al­lem Ideal. Dazu ge­hört eine Kunst der Ver­leum­dung.

Zwei­tes Re­cept: man setzt sei­nen Ty­pus als Wert­h­maaß über­haupt an; man pro­ji­cirt ihn in die Din­ge hin­ter die Din­ge, hin­ter das Ge­schick der Din­ge – als Gott.

Drit­tes Re­cept: man setzt die Geg­ner sei­nes Ideals als Geg­ner Got­tes an; man er­fin­det sich das Recht zum großen Pa­thos, zur Macht, zu flu­chen und zu seg­nen.

Vier­tes Re­cept: man lei­tet al­les Lei­den, al­les Un­heim­li­che, Furcht­ba­re und Ver­häng­niß­vol­le des Da­seins aus der Geg­ner­schaft ge­gen sein Ide­al ab: – al­les Lei­den folgt als Stra­fe, und selbst bei den An­hän­gern (– es sei denn, daß es eine Prü­fung ist u. s. w.).

Fünf­tes Re­cept: man geht so weit, die Na­tur als Ge­gen­satz zum eig­nen Ide­al zu fas­sen: man be­trach­tet es als eine große Ge­dulds­pro­be, als eine Art Mar­ty­ri­um, so lan­ge im Na­tür­li­chen aus­zu­hal­ten; man übt sich auf den dédain, in der Mie­nen und Ma­nie­ren in Hin­sicht auf alle »na­tür­li­chen Din­ge« ein.

Sechs­tes Re­cept: der Sieg der Wi­der­na­tur, des idea­len Ca­stra­tis­mus, der Sieg der Welt des Rei­nen, Gu­ten, Sünd­lo­sen, Se­li­gen wird pro­ji­cirt in die Zu­kunft, als Ende, Fina­le, große Hoff­nung, als »Kom­men des Rei­ches Got­tes«.

– – Ich hof­fe, man kann über die­se Em­por­schrau­bung ei­ner klei­nen Spe­cies zum ab­so­lu­ten Wert­h­maß der Din­ge noch la­chen? …

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205.

Ich lie­be es durch­aus nicht an je­nem Je­sus von Na­za­reth oder an sei­nem Apos­tel Pau­lus, daß sie den klei­nen Leu­ten so viel in den Kopf ge­setzt ha­ben, als ob es Et­was auf sich habe mit ih­ren be­schei­de­nen Tu­gen­den. Man hat es zu theu­er be­zah­len müs­sen: denn sie ha­ben die wert­h­vol­le­ren Qua­li­tä­ten von Tu­gend und Mensch in Ver­ruf ge­bracht, sie ha­ben das schlech­te Ge­wis­sen und das Selbst­ge­fühl der vor­neh­men See­le ge­gen ein­an­der ge­setzt, sie ha­ben die tap­fern, groß­müthi­gen, ver­we­ge­nen, ex­ces­si­ven Nei­gun­gen der star­ken See­le ir­re­ge­lei­tet, bis zur Selbst­zer­stö­rung …

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206.

Im neu­en Te­sta­ment, spe­ci­ell in den Evan­ge­li­en höre ich durch­aus nichts »Gött­li­ches« re­den: viel­mehr eine in­di­rek­te For­m der ab­gründ­lichs­ten Ver­leum­dungs- und Ver­nich­tungs­wuth – eine der un­ehr­lichs­ten For­men des Has­ses. Es fehlt al­le Kennt­niß der Ei­gen­schaf­ten ei­ner hö­he­ren Na­tur. Un­ge­scheu­ter Miß­brauch al­ler Art Bie­der­män­ne­rei; der gan­ze Schatz von Sprüchwör­tern ist aus­genützt und an­ge­maaßt; war es nö­thig, daß ein Got­t kommt, um je­nen Zöll­nern zu sa­gen u. s. w. –

Nichts ist ge­wöhn­li­cher als die­ser Kampf ge­gen die Pha­ri­sä­er mit Hül­fe ei­ner ab­sur­den und un­prak­ti­schen Moral-Schein­bar­keit; an sol­chem tour de for­ce hat das Volk im­mer sein Ver­gnü­gen ge­habt. Vor­wurf der »Heu­che­lei«! aus die­sem Mun­de! Nichts ist ge­wöhn­li­cher als die­se Be­hand­lung der Geg­ner – ein In­di­ci­um ver­fäng­lichs­ter Art für Vor­nehm­heit oder nicht

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207.

Das ur­sprüng­li­che Chris­tent­hum ist A­bo­li­ti­on des Staa­tes: es ver­bie­tet den Eid, den Kriegs­dienst, die Ge­richts­hö­fe, die Selbst­vert­hei­di­gung und Vert­hei­di­gung ir­gend ei­nes Gan­zen, den Un­ter­schied zwi­schen Volks­ge­nos­sen und Frem­den; ins­glei­chen die Stän­de­ord­nung.

Das Vor­bild Chris­ti: er wi­der­strebt nicht De­nen, die ihm Übles thun; er vert­hei­digt sich nicht; er thut mehr: er »reicht die lin­ke Wan­ge« (auf die Fra­ge »bist du Chris­tus?« ant­wor­tet er »und von nun an wer­det ihr se­hen des Men­schen Sohn sit­zen zur Rech­ten der Kraft und kom­men in den Wol­ken des Him­mels«). Er ver­bie­tet, daß sei­ne Jün­ger ihn vert­hei­di­gen; er macht auf­merk­sam, daß er Hül­fe ha­ben könn­te, aber nicht will.

Das Chris­tent­hum ist auch A­bo­li­ti­on der Ge­sell­schaft: es be­vor­zugt al­les von ihr Ge­ring­ge­schätz­te, es wächst her­aus aus den Ver­ru­fe­nen und Ver­urt­heil­ten, den Aus­sät­zi­gen je­der Art, den »Sün­dern«, den »Zöll­nern«, den Pro­sti­tu­ir­ten, dem dümms­ten Volk (den »Fi­schern«); es ver­schmäht die Rei­chen, die Ge­lehr­ten, die Vor­neh­men, die Tu­gend­haf­ten, die »Cor­rec­ten« …

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208.

Der Krieg ge­gen die Vor­neh­men und Mäch­ti­gen, wie er im neu­en Te­sta­ment ge­führt wird, ist ein Krieg wie der des Rei­ne­ke und mit glei­chen Mit­teln: nur im­mer in pries­ter­li­cher Sal­bung und in ent­schie­de­ner Ab­leh­nung, um sei­ne eig­ne Schlau­heit zu wis­sen.