Friedrich Wilhelm Nietzsche – Gesammelte Werke

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II. Kritik der Moral.
1. Herkunft der moralischen Wertschätzungen.

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253.

Ver­such über Moral zu den­ken, ohne un­ter ih­rem Zau­ber zu ste­hen, miß­trau­isch ge­gen die Über­lis­tung ih­rer schö­nen Ge­bär­den und Bli­cke. Eine Welt, die wir ver­eh­ren kön­nen, die un­se­rem an­be­ten­den Trie­be ge­mäß ist – die sich fort­wäh­rend be­weist – durch Lei­tung des Ein­zel­nen und All­ge­mei­nen –: dies ist die christ­li­che An­schau­ung, aus der wir Alle stam­men.

Durch ein Wachst­hum an Schär­fe, Miß­trau­en, Wis­sen­schaft­lich­keit (auch durch einen hö­her ge­rich­te­ten In­stinkt der Wahr­haf­tig­keit, also un­ter wie­der christ­li­chen Ein­wir­kun­gen) ist die­se In­ter­pre­ta­ti­on uns im­mer mehr un­er­laubt ge­wor­den.

Feins­ter Aus­weg: der Kan­ti­sche Kri­ti­cis­mus. Der In­tel­lekt stritt sich selbst das Recht ab so­wohl zur In­ter­pre­ta­ti­on in sei­nem Sin­ne, als zur Ab­leh­nung der In­ter­pre­ta­ti­on in je­nem Sin­ne. Man be­gnügt sich mit ei­nem Mehr von Ver­trau­en und Glau­ben, mit ei­nem Ver­zicht­leis­ten auf alle Be­weis­bar­keit sei­nes Glau­bens, mit ei­nem un­be­greif­li­chen und über­le­ge­nen »Ide­al« (Gott) die Lücke aus­zu­fül­len.

Der He­gel’­sche Aus­weg, im An­schluß an Pla­to, ein Stück Ro­man­tik und Re­ak­ti­on, zu­gleich das Sym­ptom des his­to­ri­schen Sinns, ei­ner neu­en Kraft: der »Geist« selbst ist das »sich ent­hül­len­de und ver­wirk­li­chen­de Ide­al«: im »Pro­ceß«, im »Wer­den« of­fen­bart sich ein im­mer Mehr von die­sem Ide­al, an das wir glau­ben –, also das Ide­al ver­wirk­licht sich, der Glau­be rich­tet sich auf die Zu­kunft, in der er sei­nem ed­len Be­dürf­nis­se nach an­be­ten kann. Kurz,

1. Gott ist uns un­er­kenn­bar und un­nach­weis­bar (Hin­ter­sinn der er­kennt­niß-theo­re­ti­schen Be­we­gung); 2. Gott ist nach­weis­bar, aber als et­was Wer­den­des und wir ge­hö­ren dazu, eben mit uns­rem Drang zum Idea­len (Hin­ter­sinn der His­to­ri­si­ren­den Be­we­gung).

Man sieht: es ist nie­mals die Kri­tik an das Ide­al selbst ge­rückt, son­dern nur an das Pro­blem, wo­her der Wi­der­spruch ge­gen das­sel­be kommt, warum es noch nicht er­reicht oder warum es nicht nach­weis­bar im Klei­nen und Gro­ßen ist.

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Es macht den größ­ten Un­ter­schied: ob man aus der Lei­den­schaft her­aus, aus ei­nem Ver­lan­gen her­aus, die­sen Noth­stand als Noth­stand fühlt oder ob man ihn mit der Spit­ze des Ge­dan­kens und ei­ner ge­wis­sen Kraft der his­to­ri­schen Ima­gi­na­ti­on ge­ra­de noch als Pro­blem er­reicht.

Ab­seits von der re­li­gi­ös-phi­lo­so­phi­schen Be­trach­tung fin­den wir das­sel­be Phä­no­men: der Uti­li­ta­ris­mus (der So­cia­lis­mus, der De­mo­kra­tis­mus) kri­ti­sirt die Her­kunft der mo­ra­li­schen Wert­schät­zun­gen, a­ber er glaubt an sie, eben­so wie der Christ. (Nai­ve­tät, als ob Moral üb­rig blie­be, wenn der sank­tio­ni­ren­de Got­t fehlt! Das »Jen­seits« ab­so­lut nothwen­dig, wenn der Glau­be an Moral auf­recht er­hal­ten wer­den soll.)

Grund­pro­blem: wo­her die­se All­ge­walt des Glau­bens? Des Glau­bens an die Moral? (– der sich auch dar­in ver­rät!), daß selbst die Grund­be­din­gun­gen des Le­bens zu Guns­ten der Moral falsch in­ter­pre­tirt wer­den: trotz Kennt­niß der Thier­welt und Pflan­zen­welt. Die »Selbs­t­er­hal­tung«: dar­wi­nis­ti­sche Per­spek­ti­ve auf Ver­söh­nung al­truis­ti­scher und egois­ti­scher Prin­ci­pi­en.)

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254.

Die Fra­ge nach der Her­kunft uns­rer Wert­h­schät­zun­gen und Gü­ter­ta­feln fällt ganz und gar nicht mit de­ren Kri­ti­k zu­sam­men, wie so oft ge­glaubt wird: so ge­wiß auch die Ein­sicht in ir­gend eine pu­den­da ori­go für das Ge­fühl eine Wert­h­ver­min­de­rung der so ent­stand­nen Sa­che mit sich bringt und ge­gen die­sel­be eine kri­ti­sche Stim­mung und Hal­tung vor­be­rei­tet.

Was sind uns­re Wert­schät­zun­gen und mo­ra­li­schen Gü­ter­ta­feln sel­ber werth? Was kommt bei ih­rer Herr­schaft her­aus? Für wen? in Be­zug wor­auf? – Ant­wort: für das Le­ben. Aber was ist Le­ben? Hier thut also eine neue, be­stimm­te­re Fas­sung des Be­griffs »Le­ben« noth. Mei­ne For­mel da­für lau­tet: Le­ben ist Wil­le zur Macht.

Was be­deu­tet das Wert­h­schät­zen selbst? weist es auf eine an­de­re, me­ta­phy­si­sche Welt zu­rück oder hin­ab? (wie noch Kant glaub­te, der vor der großen his­to­ri­schen Be­we­gung steht.) Kurz: wo ist es ent­stan­den? Oder ist es nicht »ent­stan­den«? – Ant­wort: das mo­ra­li­sche Wert­h­schät­zen ist eine Aus­le­gung, eine Art zu in­ter­pre­ti­ren. Die Aus­le­gung selbst ist ein Sym­ptom be­stimm­ter phy­sio­lo­gi­scher Zu­stän­de, eben­so ei­nes be­stimm­ten geis­ti­gen Ni­ve­aus von herr­schen­den Urt­hei­len: Wer legt aus? – Uns­re Af­fek­te.

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255.

Alle Tu­gen­den phy­sio­lo­gi­sche Zu­stän­de: na­ment­lich die or­ga­ni­schen Haupt­funk­tio­nen als nothwen­dig, als gut emp­fun­den. Alle Tu­gen­den sind ei­gent­lich ver­fei­ner­te Lei­den­schaf­ten und er­höh­te Zu­stän­de.

Mit­leid und Lie­be zur Mensch­heit als Ent­wick­lung des Ge­schlechts­trie­bes. Ge­rech­tig­keit als Ent­wick­lung des Ra­che­trie­bes. Tu­gend als Lust am Wi­der­stan­de, Wil­le zur Macht. Ehre als Aner­ken­nung des Ähn­li­chen und Gleich­mäch­ti­gen.

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256.

Ich ver­ste­he un­ter »Moral« ein Sys­tem von Wert­h­schät­zun­gen, wel­ches mit den Le­bens­be­din­gun­gen ei­nes We­sens sich be­rührt.

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257.

Ehe­mals sag­te man von je­der Moral: »an ih­ren Früch­ten sollt ihr sie er­ken­nen«. Ich sage von je­der Moral: »Sie ist eine Frucht, an der ich den Bo­den er­ken­ne, aus dem sie wuchs«.

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258.

Mein Ver­such, die mo­ra­li­schen Urt­hei­le als Sym­pto­me und Zei­chen­spra­chen zu ver­ste­hen, in de­nen sich Vor­gän­ge des phy­sio­lo­gi­schen Ge­dei­hens oder Miß­rat­hens, eben­so das Be­wußt­sein von Er­hal­tungs- und Wachst­hums­be­din­gun­gen ver­rat­hen, – eine In­ter­pre­ta­ti­ons-Wei­se vom Wert­he der Astro­lo­gie, Vor­urt­hei­le, de­nen In­stink­te souf­f­li­ren (von Ras­sen, Ge­mein­den, von ver­schie­de­nen Stu­fen, wie Ju­gend oder Ver­wel­ken u. s. w.).

An­ge­wen­det auf die spe­ci­ell christ­lich-eu­ro­päi­sche Moral: un­se­re mo­ra­li­schen Urt­hei­le sind Zei­chen von Ver­fall, von Un­glau­ben an das Le­ben, eine Vor­be­rei­tung des Pes­si­mis­mus.

Mein Haupt­satz: es giebt kei­ne mo­ra­li­schen Phä­no­me­ne, son­dern nur eine mo­ra­li­sche In­ter­pre­ta­ti­on die­ser Phä­no­me­ne. Die­se In­ter­pre­ta­ti­on selbst ist au­ßer­mo­ra­li­schen Ur­sprungs.

Was be­deu­tet es, daß wir einen Wi­der­spruch in das Da­sein hin­ein­in­ter­pre­tirt ha­ben? – Ent­schei­den­de Wich­tig­keit: hin­ter al­len an­dern Wert­h­schät­zun­gen ste­hen com­man­di­rend jene mo­ra­li­schen Wert­h­schät­zun­gen. Ge­setzt, sie fal­len fort, wo­nach mes­sen wir dann? Und wel­chen Werth ha­ben dann Er­kennt­nis; u. s. w., u. s. w.???

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259.

Ein­sicht: bei al­ler Wert­schät­zung han­delt es sich um eine be­stimm­te Per­spek­ti­ve: Er­hal­tung des In­di­vi­du­ums, ei­ner Ge­mein­de, ei­ner Ras­se, ei­nes Staa­tes, ei­ner Kir­che, ei­nes Glau­bens, ei­ner Cul­tur. – Ver­mö­ge des Ver­ges­sens, daß es nur ein per­spek­ti­vi­sches Schät­zen giebt, wim­melt Al­les von wi­der­spre­chen­den Schät­zun­gen und folg­lich von wi­der­spre­chen­den An­trie­ben in Ei­nem Men­schen. Das ist der Aus­druck der Er­kran­kung am Men­schen, im Ge­gen­satz zum Thie­re, wo alle vor­han­de­nen In­stink­te ganz be­stimm­ten Auf­ga­ben ge­nü­gen.

Dies wi­der­spruchs­vol­le Ge­schöpf hat aber an sei­nem We­sen eine große Metho­de der Er­kennt­niß: er fühlt vie­le Für und Wi­der, er er­hebt sich zur Ge­rech­tig­keit – zum Be­grei­fen jen­seits des Gut- und Böse-Schät­zens.

Der wei­ses­te Mensch wäre der reichs­te an Wi­der­sprü­chen, der gleich­sam Tas­t­or­ga­ne für alle Ar­ten Mensch hat: und zwi­schen­in­nen sei­ne großen Au­gen­bli­cke gran­dio­sen Zu­sam­men­hangs – der hohe Zu­fall auch in uns! Eine Art pla­ne­ta­ri­scher Be­we­gung –

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260.

»Wol­len«: ist gleich Zweck-Wol­len. »Zweck« ent­hält eine Wert­h­schät­zung. Wo­her stam­men die Wert­schät­zun­gen? Ist eine fes­te Norm von »an­ge­nehm und schmerz­haft« die Grund­la­ge?

Aber in un­zäh­li­gen Fäl­len ma­chen wir erst eine Sa­che schmerz­haft, da­durch daß wir un­se­re Wert­h­schät­zung hin­ein­le­gen.

Um­fang der mo­ra­li­schen Wert­schät­zun­gen: sie sind fast in je­dem Sin­ne­sein­druck mit­spie­lend. Die Welt ist uns ge­färb­t da­durch.

Wir ha­ben die Zwe­cke und die Wert­he hin­ein­ge­legt: wir ha­ben eine un­ge­heu­re la­ten­te Kraft­mas­se da­durch in uns: aber in der Ver­glei­chung der Wert­he er­giebt sich, daß Ent­ge­gen­ge­setz­tes als wert­h­voll galt, daß vie­le Gü­ter­ta­feln existir­ten (also Nichts »an sich« wert­h­voll).

Bei der Ana­ly­se der ein­zel­nen Gü­ter­ta­feln er­gab sich ihre Auf­stel­lung als die Auf­stel­lung von Exis­tenz­be­din­gun­gen be­schränk­ter Grup­pen (und oft irr­t­hüm­li­cher): zur Er­hal­tung.

Bei der Be­trach­tung der jet­zi­gen Men­schen er­gab sich, daß wir sehr ver­schie­de­ne Wer­thurt­hei­le hand­ha­ben, und daß kei­ne schöp­fe­ri­sche Kraft mehr dar­in ist, – die Grund­la­ge: »die Be­din­gung der Exis­tenz« fehlt dem mo­ra­li­schen Urt­hei­le jetzt. Es ist viel über­flüs­si­ger, es ist lan­ge nicht so schmerz­haft. – Es wird will­kür­lich. Cha­os.

 

Wer schafft das Ziel, das über der Mensch­heit ste­hen bleibt und auch über dem Ein­zel­nen? Ehe­mals woll­te man mit der Moral er­hal­ten: aber Nie­mand will jetzt mehr er­hal­ten, es ist Nichts dar­an zu er­hal­ten. Also eine ver­su­chen­de Moral: sich ein Ziel ge­ben.

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261.

Was ist das Kri­te­ri­um der mo­ra­li­schen Hand­lung? l. ihre Unei­gen­nüt­zig­keit, 2. ihre All­ge­mein­gül­tig­keit u. s. w. Aber das ist Stu­ben-Mora­lis­tik. Man muß die Völ­ker stu­di­ren und zu­sehn, was je­des­mal das Kri­te­ri­um ist, und was sich dar­in aus­drückt: ein Glau­be »ein sol­ches Ver­hal­ten ge­hört zu un­se­ren ers­ten Exis­tenz-Be­din­gun­gen«. Un­mo­ra­lisch heißt »un­ter­gang-brin­gend«. Nun sind alle die­se Ge­mein­schaf­ten, in de­nen die­se Sät­ze ge­fun­den wur­den, zu Grun­de ge­gan­gen: ein­zel­ne die­ser Sät­ze sind im­mer von Neu­em un­ter­stri­chen wor­den, weil jede neu sich bil­den­de Ge­mein­schaft sie – wie­der nö­thig hat­te, z.B. »Du sollst nicht steh­len«. Zu Zei­ten, wo das Ge­mein­ge­fühl für die Ge­sell­schaft (z. B. im im­pe­ri­um Ro­ma­num) nicht ver­langt wer­den konn­te, warf sich der Trieb auf­’s »Heil der See­le«, re­li­gi­ös ge­spro­chen: oder »das größ­te Glück«, phi­lo­so­phisch ge­re­det. Denn auch die grie­chi­schen Moral-Phi­lo­so­phen emp­fan­den nicht mehr mit ih­rer ðüëéò.

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262.

Die Ne­ces­si­tät der falschen Wert­he. – Man kann ein Urt­heil wi­der­le­gen, in­dem man sei­ne Be­dingt­heit nach­weist: da­mit ist die No­thwen­dig­keit, es zu ha­ben, nicht ab­ge­schafft. Die fal­schen Wert­he sind nicht durch Grün­de aus­zu­rot­ten: so we­nig wie eine krum­me Op­tik im Auge ei­nes Kran­ken. Man muß ihre Not­wen­dig­keit, da­zusein, be­grei­fen: sie sind eine Fol­ge von Ur­sa­chen, die mit Grün­den Nichts zu thun ha­ben.

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263.

Das Pro­blem der Moral se­hen und zei­gen – das scheint mir die neue Auf­ga­be und Haupt­sa­che. Ich leug­ne, daß das in der bis­he­ri­gen Moral­phi­lo­so­phie ge­sche­hen ist.

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264.

Wie falsch, wie ver­lo­gen war die Mensch­heit im­mer über die Grundt­hat­sa­chen ih­rer in­ne­ren Welt! Hier kein Auge zu ha­ben, hier den Mund hal­ten und den Mund auf­t­hun –

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265.

Es fehlt das Wis­sen und Be­wußt­sein da­von, wel­che Um­dre­hun­gen be­reits das mo­ra­li­sche Urt­heil durch­ge­macht hat und wie wirk­lich meh­re­re Male schon im gründ­lichs­ten Sin­ne »Böse« auf »Gut« um­ge­tauft wor­den ist. Auf eine die­ser Ver­schie­bun­gen habe ich mit dem Wor­te »Sitt­lich­keit der Sit­te« hin­ge­wie­sen. Auch das Ge­wis­sen hat sei­ne Sphä­re ver­tauscht: es gab einen He­er­den-Ge­wis­sens­biß.

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266.

A. Moral als Werk der Un­mo­ra­li­tät.

1. Da­mit mo­ra­li­sche Wert­he zur Herr­schaft kom­men, müs­sen lau­ter un­mo­ra­li­sche Kräf­te und Af­fek­te hel­fen. 2. Die Ent­ste­hung mo­ra­li­scher Wert­he ist das Werk un­mo­ra­li­scher Af­fek­te und Rück­sich­ten.

B. Moral als Werk des Irr­thums.

C. Moral mit sich selbst all­ge­mach im Wi­der­spruch.

Ver­gel­tung. – Wahr­haf­tig­keit, Zwei­fel, έποχή, Rich­ten. – »Un­mo­ra­li­tät« des Glau­bens an die Moral.

Die Schrit­te:

1. ab­so­lu­te Herr­schaft der Moral: alle bio­lo­gi­schen Er­schei­nun­gen nach ihr ge­mes­sen und ge­rich­tet. 2. Ver­such ei­ner Iden­ti­fi­ka­ti­on von Le­ben und Moral (Sym­ptom ei­ner er­wach­ten Skep­sis: Moral soll nicht mehr als Ge­gen­satz ge­fühlt wer­den); meh­re­re Mit­tel, selbst ein transscen­den­ter Weg. 3. Ent­ge­gen­set­zung von Le­ben und Moral: Moral vom Le­ben aus ge­rich­tet und ver­urt­heilt.

D. In­wie­fern die Moral dem Le­ben schäd­lich war:

1. dem Ge­nuß des Le­bens, der Dank­bar­keit ge­gen das Le­ben u. s. w.,

2. der Ver­schö­ne­rung, Ve­re­de­lung des Le­bens,

3. der Er­kennt­niß des Le­bens,

4. der Ent­fal­tung des Le­bens, in­so­fern es die höchs­ten Er­schei­nun­gen des­sel­ben mit sich selbst zu ent­zwei­en such­te.

E. Ge­gen­rech­nung: ihre Nütz­lich­keit für das Le­ben.

1. die Moral als Er­hal­tungs­prin­cip von grö­ße­ren Gan­zen, als Ein­schrän­kung der Glie­der: nütz­lich für das »Werk­zeug«. 2. die Moral als Er­hal­tungs­prin­cip im Ver­hält­niß zur in­ne­ren Ge­fähr­dung des Men­schen durch Lei­den­schaf­ten: nütz­lich für den »Mit­tel­mä­ßi­gen«. 3. die Moral als Er­hal­tungs­prin­cip ge­gen die le­ben­ver­nich­ten­den Ein­wir­kun­gen tiefer Noth und Ver­küm­me­rung: nütz­lich für den »Lei­den­den«. 4. die Moral als Ge­gen­prin­cip ge­gen die furcht­ba­re Ex­plo­si­on der Mäch­ti­gen: nütz­lich für den »Nied­ri­gen«.

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267.

Es thut gut, »Recht«, »Un­recht« u. s. w. in ei­nem be­stimm­ten, en­gen, bür­ger­li­chen Sinn zu neh­men, wie »thue Recht und scheue Nie­mand«: d. h. ei­nem be­stimm­ten gro­ben Sche­ma ge­mäß, in­ner­halb des­sen ein Ge­mein­we­sen be­steht, sei­ne Schul­dig­keit thun.

– Den­ken wir nicht ge­ring von Dem, was ein paar Jahr­tau­sen­de Moral un­serm Geis­te an­ge­züch­tet ha­ben!

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268.

Zwei Ty­pen der Moral sind nicht zu ver­wech­seln: eine Moral, mit der sich der ge­sund ge­blie­be­ne In­stinkt ge­gen die be­gin­nen­de dé­ca­dence wehrt, – und eine an­de­re Moral, mit der eben die­se dé­ca­dence sich for­mu­lirt, recht­fer­tigt und sel­ber ab­wärts führt.

Die ers­te­re pflegt sto­isch, hart, ty­ran­nisch zu sein (– der Stoi­cis­mus selbst war eine sol­che Hemm­schuh-Moral); die an­de­re ist schwär­me­risch, sen­ti­men­tal, vol­ler Ge­heim­nis­se, sie hat die Wei­ber und »schö­nen Ge­füh­le« für sich (– das ers­te Chris­tent­hum war eine sol­che Moral).

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269.

Das ge­samm­te Mora­li­si­ren als Phä­no­men in’s Auge be­kom­men. Auch als Räth­sel. Die mo­ra­li­schen Phä­no­me­ne habe mich be­schäf­tigt wie Räth­sel. Heu­te wür­de ich eine Ant­wort zu ge­ben wis­sen: was be­deu­tet es, daß für mich das Wohl des Nächs­ten hö­he­ren Werth ha­ben soll, als mein ei­ge­nes? daß aber der Nächs­te selbst den Werth sei­nes Wohls an­ders schät­zen soll als ich, näm­lich dem­sel­ben ge­ra­de mein Wohl über­ord­nen soll? Was be­deu­tet das »Du sollst«, das selbst von Phi­lo­so­phen als »ge­ge­ben« be­trach­tet wird?

Der an­schei­nend ver­rück­te Ge­dan­ke, daß Ei­ner die Hand­lung, die er dem An­dern er­weist, hö­her hal­ten soll, als die sich selbst er­wie­se­ne, die­ser An­de­re eben­so wie­der u. s. w. (daß man nur Hand­lun­gen gut hei­ßen soll, weil Ei­ner da­bei nicht sich selbst im Auge hat, son­dern das Wohl des An­dern) hat sei­nen Sinn: näm­lich als In­stinkt des Ge­mein­sinns, auf der Schät­zung be­ru­hend, daß am Ein­zel­nen über­haupt we­nig ge­le­gen ist, aber sehr viel an Al­len zu­sam­men, vor­aus­ge­setzt, daß sie eben eine Ge­mein­schaft bil­den, mit ei­nem Ge­mein-Ge­fühl und Ge­mein-Ge­wis­sen. Also eine Art Übung in ei­ner be­stimm­ten Rich­tung des Blicks, Wil­le zu ei­ner Op­tik, wel­che sich selbst zu sehn un­mög­lich ma­chen will.

Mein Ge­dan­ke: es feh­len die Zie­le, und die­se müs­sen Ein­zel­ne sein! Wir sehn das all­ge­mei­ne Trei­ben: je­der Ein­zel­ne wird ge­op­fert und dient als Werk­zeug. Man gehe durch die Stra­ße, ob man nicht lau­ter »Skla­ven« be­geg­net. Wo­hin? Wozu?

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270.

Wie ist es mög­lich, daß Je­mand vor sich ge­ra­de in Hin­sicht auf die mo­ra­li­schen Wert­he al­lein Re­spekt hat, daß er al­les An­de­re un­ter­ord­net und ge­ring nimmt im Ver­gleich mit Gut, Böse, Bes­se­rung, Heil der See­le u.s.w.? z. B. Hen­ri Fréd. Amiel. Was be­deu­tet die Moral-Idio­syn­kra­sie? – ich fra­ge psy­cho­lo­gisch, auch phy­sio­lo­gisch, z. B. Pas­cal. Also in Fäl­len, wo große an­de­re Qua­li­tä­ten nicht feh­len; auch im Fal­le Scho­pen­hau­er’s, der er­sicht­lich Das schätz­te, was er nicht hat­te und ha­ben konn­te … – ist es nicht die Fol­ge ei­ner bloß ge­wohn­heits­mä­ßi­gen Moral-In­ter­pre­ta­tion von tat­säch­li­chen Schmerz- und Un­lust-Zu­stän­den? ist es nicht eine be­stimm­te Art von Sen­si­bi­li­tät, wel­che die Ur­sa­che ih­rer vie­len Un­lust­ge­füh­le nicht ver­steht, aber mit mo­ra­li­schen Hy­po­the­sen sich zu er­klä­ren glaub­t? So­daß auch ein ge­le­gent­li­ches Wohl­be­fin­den und Kraft­ge­fühl im­mer so­fort wie­der un­ter der Op­tik vom »gu­ten Ge­wis­sen«, von der Nähe Got­tes, vom Be­wußt­sein der Er­lö­sung über­leuch­tet er­scheint? … Also der Moral-Idio­syn­kra­ti­ker hat 1) ent­we­der wirk­lich in der An­nä­he­rung an den Tu­gend-Ty­pus der Ge­sell­schaft sei­nen ei­ge­nen Werth: »der Bra­ve«, »Recht­schaf­fe­ne«, – ein mitt­ler­er Zu­stand ho­her Acht­bar­keit: in al­lem Kön­nen mit­tel­mä­ßig, aber in al­lem Wol­len hon­nett, ge­wis­sen­haft, fest, ge­ach­tet, be­währt; 2) o­der er glaubt ihn zu ha­ben, weil er alle sei­ne Zu­stän­de über­haupt nicht an­ders zu ver­ste­hen glaubt –, er ist sich un­be­kannt, er legt sich der­ge­stalt aus. – Moral als das ein­zi­ge In­ter­pre­ta­ti­ons­sche­ma, bei dem der Mensch sich aus­hält: – eine Art Stolz? …

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271.

Die Vor­herr­schaft der mo­ra­li­schen Wert­he.– Fol­gen die­ser Vor­herr­schaft: die Ver­derb­niß der Psy­cho­lo­gie u. s. w., das Ver­häng­nis; über­all, das an ihr hängt. Was be­deu­tet die­se Vor­herr­schaft? Worauf weist sie hin? –

Auf eine ge­wis­se grö­ße­re Dring­lich­keit ei­nes be­stimm­ten Ja und Nein auf die­sem Ge­bie­te. Man hat alle Ar­ten Im­pe­ra­ti­ve dar­auf ver­wen­det, um die mo­ra­li­schen Wert­he als fest er­schei­nen zu las­sen: sie sind am längs­ten com­man­dirt wor­den: – sie schei­nen in­stink­tiv, wie in­ne­re Com­man­do’s. Es drücken sich Er­hal­tungs­be­din­gun­gen der So­cie­tät dar­in aus, daß die mo­ra­li­schen Wert­he als un­dis­cu­tir­bar emp­fun­den wer­den. Die Pra­xis: das will hei­ßen die Nütz­lich­keit, un­ter ein­an­der sich über die obers­ten Wert­he zu ver­ste­hen, hat hier eine Art Sank­ti­on er­langt. Wir se­hen al­le Mit­tel an­ge­wen­det, wo­durch das Nach­den­ken und die Kri­tik auf die­sem Ge­bie­te lahm ge­legt wird: – wel­che At­ti­tü­de nimmt noch Kant an! nicht zu re­den von De­nen, wel­che es als un­mo­ra­lisch ab­leh­nen, hier zu »for­schen« –

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272.

Mei­ne Ab­sicht, die ab­so­lu­te Ho­mo­ge­nei­tät in al­lem Ge­sche­hen zu zei­gen und die An­wen­dung der mo­ra­li­schen Un­ter­schei­dung nur als per­spek­ti­visch be­ding­t; zu zei­gen, wie al­les Das, was mo­ra­lisch ge­lobt wird, we­sens­gleich mit al­lem Un­mo­ra­li­schen ist und nur, wie jede Ent­wick­lung der Moral, mit un­mo­ra­li­schen Mit­teln und zu un­mo­ra­li­schen Zwe­cken er­mög­licht wor­den ist –; wie um­ge­kehrt Al­les, was als un­mo­ra­lisch in Ver­ruf ist, öko­no­misch be­trach­tet, das Hö­he­re und Prin­ci­pi­el­le­re ist, und wie eine Ent­wick­lung nach grö­ße­rer Fül­le des Le­bens nothwen­dig auch den Fort­schritt der Un­mo­ra­li­tät be­dingt. »Wahr­heit« der Grad, in dem wir uns die Ein­sicht in die­se That­sa­che ge­stat­ten.

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273.

Zu­letzt sei man ohne Sor­ge: man braucht näm­lich sehr viel Mora­li­tät, um in die­ser sei­nen Wei­se un­mo­ra­lisch zu sein; ich will ein Gleich­niß ge­brau­chen:

Ein Phy­sio­lo­ge, der sich für eine Krank­heit in­ter­es­sirt, und ein Kran­ker, der von ihr ge­heilt wer­den will, ha­ben nicht das glei­che In­ter­es­se. Neh­men wir ein­mal an, daß jene Krank­heit die Moral ist – denn sie ist eine Krank­heit – und daß wir Eu­ro­pä­er de­ren Kran­ke sind: was für eine fei­ne Qual und Schwie­rig­keit wird ent­ste­hen, wenn wir Eu­ro­pä­er nun zu­gleich auch de­ren neu­gie­ri­ge Beo­b­ach­ter und Phy­sio­lo­gen sind! Wei­den wir auch nur ernst­haft wün­schen, von der Moral los­zu­kom­men? Wer­den wir es wol­len? Ab­ge­se­hen von der Fra­ge, ob wir es kön­nen? Ob wir »ge­heilt« wer­den kön­nen? –