Friedrich Wilhelm Nietzsche – Gesammelte Werke

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c) Hö­he­punkt ei­nes Vol­kes (»sei­ne Cul­tur«) als Fol­ge der mo­ra­li­schen Höhe.

2. Die prin­ci­pi­el­le Fäl­schung der großen Men­schen, der großen Schaf­fen­den, der großen Zei­ten: man will, daß der Glau­be das Aus­zeich­nen­de der Gro­ßen ist: aber die Un­be­denk­lich­keit, die Skep­sis, die »Un­mo­ra­li­tät«, die Er­laub­niß, sich ei­nes Glau­bens ent­schla­gen zu kön­nen, ge­hört zur Grö­ße (Cäsar, Fried­rich der Gro­ße, Na­po­le­on; aber auch Ho­mer, Ari­sto­pha­nes, Lio­nar­do, Goe­the). Man un­ter­schlägt im­mer die Haupt­sa­che, ihre »Frei­heit des Wil­lens« –

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381.

Gro­ße Lü­ge in der His­to­rie: als ob die Ver­derb­niß der Kir­che die Ur­sa­che der Re­for­ma­ti­on ge­we­sen sei! Nur der Vor­wand, die Selbst­vor­lüg­ne­rei sei­tens ih­rer Agi­ta­to­ren – es wa­ren star­ke Be­dürf­nis­se da, de­ren Bru­ta­li­tät eine geist­li­che Be­män­te­lung sehr nö­thig hat­ten.

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382.

Scho­pen­hau­er hat die hohe In­tel­lek­tua­li­tät als Los­lö­sung vom Wil­len aus­ge­legt; er hat das Frei-wer­den von den Moral-Vor­urt­hei­len, wel­ches in der Ent­fes­se­lung des großen Geis­tes liegt, die ty­pi­sche Un­mo­ra­li­tät des Ge­nie’s, nicht se­hen wol­len; er hat künst­lich Das, was er al­lein ehr­te, den mo­ra­li­schen Werth der »Ent­selbs­tung«, auch als Be­din­gung der geis­tigs­ten Thä­tig­keit, des »Ob­jek­tiv«-Bli­ckens, an­ge­setzt. »Wahr­heit«, auch in der Kunst, tritt her­vor nach Ab­zug des Wil­lens

Quer durch alle mo­ra­li­sche Idio­syn­kra­sie hin­durch sehe ich eine grund­ver­schie­de­ne Wer­thung: sol­che ab­sur­de Aus­ein­an­der­tren­nung von »Ge­nie« und Wil­lens-Welt der Moral und Im­mo­ral ken­ne ich nicht. Der mo­ra­li­sche Mensch ist eine nied­ri­ge­re Spe­cies als der un­mo­ra­li­sche, eine schwä­che­re; ja – er ist der Moral nach ein Ty­pus, nur nicht sein ei­ge­ner Ty­pus; eine Co­pie, eine gute Co­pie bes­ten­falls, – das Maaß sei­nes Wert­hes liegt au­ßer ihm. Ich schät­ze den Men­schen nach dem Quan­tum Macht und Fül­le sei­nes Wil­lens: nicht nach des­sen Schwä­chung und Aus­lö­schung; ich be­trach­te eine Phi­lo­so­phie, wel­che die Ver­nei­nung des Wil­lens lehr­t, als eine Leh­re der Her­un­ter­brin­gung und der Ver­leum­dung … Ich schät­ze die Macht ei­nes Wil­lens dar­nach, wie viel von Wi­der­stand, Schmerz, Tor­tur er aus­hält und sich zum Vort­heil um­zu­wan­deln weiß; ich rech­ne dem Da­sein nicht sei­nen bö­sen und schmerz­haf­ten Cha­rak­ter zum Vor­wurf an, son­dern bin der Hoff­nung, daß es einst bö­ser und schmerz­haf­ter sein wird, als bis­her…

Die Spit­ze des Geis­tes, die Scho­pen­hau­er ima­gi­nir­te, war, zur Er­kennt­niß zu kom­men, daß Al­les kei­nen Sinn hat, kurz, zu er­ken­nen, was in­stink­tiv der gute Mensch schon thut … Er leug­net, daß es hö­he­re Ar­ten In­tel­lekt ge­ben kön­ne, – er nahm sei­ne Ein­sicht als ein non plus ul­tra. Hier ist die Geis­tig­keit tief un­ter die Güte ge­ord­net; ihr höchs­ter Werth (als Kunst z. B.) wäre es, die mo­ra­li­sche Um­kehr an­zu­rat­hen, vor­zu­be­rei­ten: ab­so­lu­te Herr­schaft der Moral­wert­he. –

Ne­ben Scho­pen­hau­er will ich Kant cha­rak­te­ri­si­ren: nichts Grie­chi­sches, ab­so­lut wi­der­his­to­risch (Stel­le über die fran­zö­si­sche Re­vo­lu­ti­on) und Moral-Fa­na­ti­ker (Goethe’s Stel­le über das Ra­di­kal-Böse). Auch bei ihm im Hin­ter­grund die Hei­lig­keit

Ich brau­che eine Kri­tik des Hei­li­gen

He­gel’s Werth. »Lei­den­schaft«. Krä­mer-Phi­lo­so­phie des Herrn Spencer: voll­kom­me­ne Ab­we­sen­heit ei­nes Ideals, au­ßer dem des mitt­le­ren Men­schen.

In­stink­t-Grund­satz al­ler Phi­lo­so­phen und His­to­ri­ker und Psy­cho­lo­gen: es muß Al­les, was wert­h­voll ist in Mensch, Kunst, Ge­schich­te, Wis­sen­schaft, Re­li­gi­on, Tech­nik, be­wie­sen wer­den als mo­ra­lisch-wert­h­voll, mo­ra­lisch-be­ding­t, in Ziel, Mit­tel und Re­sul­tat. Al­les ver­ste­hen in Hin­sicht auf den obers­ten Werth: z. B. Rous­seau’s Fra­ge in Be­treff der Ci­vi­li­sa­ti­on »wird durch sie der Mensch bes­ser?« – eine ko­mi­sche Fra­ge, da das Ge­gent­heil auf der Hand liegt und eben Das ist, was zu Guns­ten der Ci­vi­li­sa­ti­on re­det.

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383.

Die re­li­gi­öse Moral. – Der Af­fekt, die große Be­gier­de, die Lei­den­schaf­ten der Macht, der Lie­be, der Ra­che, des Be­sit­zes –: die Mora­lis­ten wol­len sie aus­lö­schen, her­aus­rei­ßen, die See­le von ih­nen »rei­ni­gen«.

Die Lo­gik ist: die Be­gier­den rich­ten oft großes Un­heil an, – folg­lich sind sie böse, ver­werf­lich. Der Mensch muß los von ih­nen kom­men: eher kann er nicht ein gu­ter Mensch sein …

Das ist die­sel­be Lo­gik wie: »är­gert dich ein Glied, so rei­ße es aus«. In dem be­son­de­ren Fall, wie es jene ge­fähr­li­che »Un­schuld vom Lan­de«, der Stif­ter des Chris­ten­tums, sei­nen Jün­gern zur Pra­xis emp­fahl, im Fall der ge­schlecht­li­chen Ir­ri­ta­bi­li­tät, folgt lei­der dies nicht nur, daß ein Glied fehlt, son­dern daß der Cha­rak­ter des Men­schen ent­mannt ist … Und das Glei­che gilt von dem Mora­lis­ten-Wahn­sinn, wel­cher, statt der Bän­di­gung, die Ex­stir­pa­ti­on der Lei­den­schaf­ten ver­langt.

Ihr Schluß ist im­mer: erst der ent­mann­te Mensch ist der gute Mensch.

Die großen Kraft­quel­len, jene oft so ge­fähr­lich und über­wäl­ti­gend her­vor­strö­men­den Wild­was­ser der See­le, statt ihre Macht in Dienst zu neh­men und zu öko­no­mi­si­ren, will die­se kurz­sich­tigs­te und ver­derb­lichs­te Denk­wei­se, die Moral-Denk­wei­se, ver­sie­gen ma­chen.

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384.

Ü­ber­win­dung der Af­fek­te? – Nein, wenn es Schwä­che und Ver­nich­tung der­sel­ben be­deu­ten soll. Son­dern in Dienst neh­men: wozu ge­hö­ren mag, sie lan­ge zu ty­ran­ni­si­ren (nicht erst als Ein­zel­ne, son­dern als Ge­mein­de, Ras­se u. s. w.). End­lich giebt man ih­nen eine ver­trau­ens­vol­le Frei­heit wie­der: sie lie­ben uns wie gute Die­ner und ge­hen frei­wil­lig dort­hin, wo un­ser Bes­tes hin will.

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385.

Die In­to­le­ranz der Moral ist ein Aus­druck von der Schwä­che des Men­schen: er fürch­tet sich vor sei­ner »Un­mo­ra­li­tät«, er muß sei­ne stärks­ten Trie­be ver­nei­nen, weil er sie noch nicht zu be­nut­zen weiß. So lie­gen die frucht­bars­ten Stri­che der Erde am längs­ten un­be­baut: – die Kraft fehlt, die hier Herr wer­den könn­te …

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386.

Es giebt ganz nai­ve Völ­ker und Men­schen, wel­che glau­ben, ein be­stän­dig gu­tes Wet­ter sei et­was Wünsch­ba­res: sie glau­ben noch heu­te in re­bus mo­ra­li­bus, der »gute Mensch« al­lein und Nichts als der »gute Mensch« sei et­was Wünsch­ba­res – und eben da­hin gehe der Gang der mensch­li­chen Ent­wick­lung, daß nur er üb­rig blei­be (und al­lein da­hin müs­se man alle Ab­sicht rich­ten –). Das ist im höchs­ten Gra­de un­öko­no­misch ge­dacht und, wie ge­sagt, der Gip­fel des Nai­ven, Nichts als Aus­druck der An­nehm­lich­keit, die der »gute Mensch« macht (– er er­weckt kei­ne Furcht, er er­laubt die Auss­pan­nung, er giebt, was man neh­men kann).

Mit ei­nem über­leg­nen Auge wünscht man ge­ra­de um­ge­kehrt die im­mer grö­ße­re Herr­schaft des Bö­sen, die wach­sen­de Frei­wer­dung des Men­schen von der en­gen und ängst­li­chen Moral-Ein­schnü­rung, das Wachst­hum der Kraft, um die größ­ten Na­tur­ge­wal­ten – die Af­fek­te

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387.

Die gan­ze Auf­fas­sung vom Ran­ge der Lei­den­schaf­ten: wie als ob das Rech­te und Nor­ma­le sei, von der Ver­nunft ge­lei­tet zu wer­den, – wäh­rend die Lei­den­schaf­ten das Un­nor­ma­le, Ge­fähr­li­che, Halbt­hier­i­sche sei­en, über­dies, ih­rem Zie­le nach, nichts An­de­res als Lust-Be­gier­den

Die Lei­den­schaft ist ent­wür­digt 1) wie als ob sie nur un­ge­zie­men­der Wei­se, und nicht nothwen­dig und im­mer, das mo­bi­le sei, 2) in­so­fern sie Et­was in Aus­sicht nimmt, was kei­nen ho­hen Werth hat, ein Ver­gnü­gen …

Die Ver­ken­nung von Lei­den­schaft und Ver­nunft, wie als ob letz­te­re ein We­sen für sich sei und nicht viel­mehr ein Ver­hält­niß­zu­stand ver­schie­de­ner Lei­den­schaf­ten und Be­geh­run­gen; und als ob nicht jede Lei­den­schaft ihr Quan­tum Ver­nunft in sich hät­te …

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388.

Wie un­ter dem Druck der as­ke­ti­schen Ent­selbs­tungs-Moral ge­ra­de die Af­fek­te der Lie­be, der Güte, des Mit­leids, selbst der Ge­rech­tig­keit, der Groß­muth, des He­ro­is­mus miß­ver­stan­den wer­den muß­ten:

Es ist der Reicht­hum an Per­son, die Fül­le in sich, das Über­strö­men und Ab­ge­ben, das in­stink­ti­ve Wohl­sein und Ja­sa­gen zu sich, was die großen Op­fer und die große Lie­be macht: es ist die star­ke und gött­li­che Selbstig­keit, aus der die­se Af­fek­te wach­sen, so ge­wiß wie auch das Herr-wer­den-wol­len, Über­grei­fen, die in­ne­re Si­cher­heit, ein Recht auf Al­les zu ha­ben. Die nach ge­mei­ner Auf­fas­sung ent­ge­gen­ge­setz­ten Ge­sin­nun­gen sind viel­mehr Ei­ne Ge­sin­nung; und wenn man nicht fest und wa­cker in sei­ner Haut sitzt, so hat man Nichts ab­zu­ge­ben und Hand aus­zu­stre­cken und Schutz und Stab zu sein …

Wie hat man die­se In­stink­te so um­deu­ten kön­nen, daß der Mensch als wert­h­voll emp­fin­det, was sei­nem Selbst ent­ge­gen­geht? wenn er sein Selbst ei­nem an­dern Selbst preis­giebt! Oh über die psy­cho­lo­gi­sche Er­bärm­lich­keit und Lüg­ne­rei, wel­che bis­her in Kir­che und kirch­lich an­ge­krän­kel­ter Phi­lo­so­phie das große Wort ge­führt hat!

 

Wenn der Mensch sünd­haft ist, durch und durch, so darf er sich nur has­sen. Im Grun­de dürf­te er auch sei­ne Mit­menschen mit sei­ner an­dern Emp­fin­dung be­han­deln wie sich selbst; Men­schen­lie­be be­darf ei­ner Recht­fer­ti­gung, – sie liegt dar­in, daß Gott sie be­foh­len hat. – Hieraus folgt, daß alle die na­tür­li­chen In­stink­te des Men­schen (zur Lie­be u.s.w.) ihm an sich un­er­laubt schei­nen und erst, nach ih­rer Ver­leug­nung, auf Grund ei­nes Ge­hor­sams ge­gen Gott wie­der zu Recht kom­men… Pas­cal, der be­wun­de­rungs­wür­di­ge Lo­gi­ker des Chris­tent­hums, gieng so weit! man er­wä­ge sein Ver­hält­niß zu sei­ner Schwes­ter. »Sich nicht lie­ben ma­chen« schi­en ihm christ­lich.

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389.

Er­wä­gen wir, wie theu­er sich ein sol­cher mo­ra­li­scher Ka­non (»ein Ide­al«) be­zahlt macht. (Sei­ne Fein­de sind – nun? Die »Egois­ten«.)

Der me­lan­cho­li­sche Scharf­sinn der Selbst­ver­klei­ne­rung in Eu­ro­pa (Pas­cal, Lar­oche­fou­cauld), – die in­ne­re Schwä­chung, Ent­muthi­gung, Selb­st­an­na­gung der Nicht-He­er­dent­hie­re, –

die be­stän­di­ge Un­ter­strei­chung der Mit­tel­mä­ßig­keits-Ei­gen­schaf­ten als der wert­h­volls­ten (Be­schei­den­heit, in Reih und Glied, die Werk­zeug-Na­tur), –

das schlech­te Ge­wis­sen ein­ge­mischt in al­les Selbst­herr­li­che, Ori­gi­na­le:

– die Un­lust also: – also Ver­düs­te­rung der Welt der Stär­ker-Ge­rat­he­nen!

– das He­er­den­be­wußt­sein in die Phi­lo­so­phie und Re­li­gi­on über­tra­gen: auch sei­ne Ängst­lich­keit.

– Las­sen wir die psy­cho­lo­gi­sche Un­mög­lich­keit ei­ner rein selbst­lo­sen Hand­lung au­ßer Spiel!

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390.

Mein Schluß­satz ist: daß der wirk­li­che Mensch einen viel hö­he­ren Werth dar­stellt als der »wünsch­ba­re« Mensch ir­gend ei­nes bis­he­ri­gen Ideals: daß alle »Wünsch­bar­kei­ten« in Hin­sicht auf den Men­schen ab­sur­de und ge­fähr­li­che Aus­schwei­fun­gen wa­ren, mit de­nen eine ein­zel­ne Art von Mensch ih­re Er­hal­tungs- und Wachst­hums-Be­din­gun­gen über der Mensch­heit als Ge­setz auf­hän­gen möch­te; daß jede zur Herr­schaft ge­brach­te »Wünsch­bar­keit« sol­chen Ur­sprungs bis jetzt den Werth des Men­schen, sei­ne Kraft, sei­ne Zu­kunfts­ge­wiß­heit her­ab­ge­drück­t hat; daß die Arm­se­lig­keit und Win­kel-In­tel­lek­tua­li­tät des Men­schen sich am meis­ten bloß­stellt, auch heu­te noch, wenn er wünscht; daß die Fä­hig­keit des Men­schen, Wert­he an­zu­set­zen, bis­her zu nied­rig ent­wi­ckelt war, um dem that­säch­li­chen, nicht bloß »wünsch­ba­ren« Wert­he des Men­schen ge­recht zu wer­den; daß das Ide­al bis jetzt die ei­gent­lich welt- und mensch­ver­leum­den­de Kraft, der Gift­hauch über der Rea­li­tät, die große Ver­füh­rung zum Nichts war…

D). Kritik der Worte Besserung. Vervollkommnung, Erhöhung.

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391.

Maaß­stab, wo­nach der Werth der mo­ra­li­schen Wert­schät­zun­gen zu be­stim­men ist.

Die über­se­he­ne Grundt­hat­sa­che: Wi­der­spruch zwi­schen dem »Mora­li­scher-wer­den« und der Er­hö­hung und Ver­stär­kung des Ty­pus Mensch.

Ho­mo na­tu­ra. Der »Wil­le zur Macht«.

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392.

Die Moral­wert­he als Schein­wert­he, ver­gli­chen mit den phy­sio­lo­gi­schen.

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393.

Das Nach­den­ken über das All­ge­meins­te ist im­mer rück­stän­dig: die letz­ten »Wünsch­bar­kei­ten« über den Men­schen z.B. sind von den Phi­lo­so­phen ei­gent­lich nie­mals als Pro­blem ge­nom­men wor­den. Die »Ver­bes­se­rung« des Men­schen wird von ih­nen al­len naiv an­ge­setzt, wie als ob wir durch ir­gend eine In­tui­ti­on über das Fra­ge­zei­chen hin­aus­ge­ho­ben wä­ren, warum ge­ra­de »ver­bes­sern«? In­wie­fern ist es wünsch­bar, daß der Mensch tu­gend­haf­ter wird? oder klü­ger? oder glück­li­cher? Ge­setzt, daß man nicht schon das »Wa­rum?« des Men­schen über­haupt kennt, so hat jede sol­che Ab­sicht kei­nen Sinn; und wenn man das Eine will, wer weiß? viel­leicht darf man dann das An­de­re nicht wol­len? Ist die Ver­meh­rung der Tu­gend­haf­tig­keit zu­gleich ver­träg­lich mit ei­ner Ver­meh­rung der Klug­heit und Ein­sicht? Du­bi­to; ich wer­de nur zu viel Ge­le­gen­heit ha­ben, das Ge­gent­heil zu be­wei­sen. Ist die Tu­gend­haf­tig­keit als Ziel im ri­go­ro­sen Sin­ne nicht tat­säch­lich bis­her im Wi­der­spruch mit dem Glück­lich-wer­den ge­we­sen? braucht sie an­de­rer­seits nicht das Un­glück, die Ent­beh­rung und Selbst­miß­hand­lung als not­wen­di­ges Mit­tel? Und wenn die höchs­te Ein­sicht das Ziel wäre, müß­te man nicht eben da­mit die Stei­ge­rung des Glücks ab­leh­nen? und die Ge­fahr, das Aben­teu­er, das Miß­trau­en, die Ver­füh­rung als Weg zur Ein­sicht wäh­len?… Und will man Glück, nun, so muß man viel­leicht zu den »Ar­men des Geis­tes« sich ge­sel­len.

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394.

Die all­ge­mei­ne Täu­schung und Täu­sche­rei im Ge­bie­te der so­ge­nann­ten mo­ra­li­schen Bes­se­rung. – Wir glau­ben nicht dar­an, daß ein Mensch ein An­de­rer wird, wenn er es nicht schon ist: d. h. wenn er nicht, wie es oft ge­nug vor­kommt, eine Viel­heit von Per­so­nen, min­des­tens von An­sät­zen zu Per­so­nen, ist. In die­sem Fal­le er­reicht man, daß eine and­re Rol­le in den Vor­der­grund tritt, daß »der alte Mensch« zu­rück­ge­scho­ben wird… Der An­blick ist ver­än­dert, nicht das We­sen… Daß Je­mand auf­hört, ge­wis­se Hand­lun­gen zu thun, ist ein blo­ßes fa­tum bru­tum, das die ver­schie­dens­te Deu­tung zu­läßt. Selbst Das ist nicht im­mer da­mit er­reicht, daß es die Ge­wöh­nung an ein ge­wis­ses Thun auf­hebt, den letz­ten Grund dazu nimmt. Wer aus Fa­tum und Fä­hig­keit Ver­bre­cher ist, ver­lernt Nichts, son­dern lernt im­mer hin­zu: und eine lan­ge Ent­beh­rung wirkt so­gar als To­ni­cum auf sein Ta­lent… Für die Ge­sell­schaft frei­lich hat ge­ra­de Das al­lein ein In­ter­es­se, daß Je­mand ge­wis­se Hand­lun­gen nicht mehr thut: sie nimmt ihn zu die­sem Zwe­cke aus den Be­din­gun­gen her­aus, wo er ge­wis­se Hand­lun­gen thun kann: das ist je­den­falls wei­ser, als das Un­mög­li­che ver­su­chen, näm­lich die Fa­ta­li­tät sei­nes So-und-So-seins zu bre­chen. Die Kir­che – und sie hat Nichts gethan, als die an­ti­ke Phi­lo­so­phie hier­in ab­zu­lö­sen und zu be­er­ben –, von ei­nem an­dern Wert­h­maa­ße aus­ge­hend und eine »See­le«, das »Heil« ei­ner See­le ret­ten wol­lend, glaubt ein­mal an die süh­nen­de Kraft der Stra­fe und so­dann an die aus­lö­schen­de Kraft der Ver­ge­bung: Bei­des sind Täu­schun­gen des re­li­gi­ösen Vor­urt­heils, – die Stra­fe sühnt nicht, die Ver­ge­bung löscht nicht aus, Getha­nes wird nicht un­gethan ge­macht. Da­mit, daß Je­mand Et­was ver­gißt, ist bei Wei­tem nicht er­wie­sen, daß Et­was nicht mehr ist… Eine That zieht ihre Con­se­quen­zen, im Men­schen und au­ßer dem Men­schen, gleich­gül­tig ob sie als be­straft, »ge­sühnt«, »ver­ge­ben« und »aus­ge­löscht« gilt, gleich­gül­tig ob die Kir­che in­zwi­schen ih­ren Thä­ter selbst zu ei­nem Hei­li­gen avan­cirt hat. Die Kir­che glaubt an Din­ge, die es nicht giebt, an »See­len«; sie glaubt an Wir­kun­gen, die es nicht giebt, an gött­li­che Wir­kun­gen; sie glaubt an Zu­stän­de, die es nicht giebt, an Sün­de, an Er­lö­sung, an das Heil der See­le: sie bleibt über­all bei der Ober­flä­che stehn, bei Zei­chen, Ge­bär­den, Wor­ten, de­nen sie eine ar­bi­trä­re Aus­le­gung giebt. Sie hat eine zu Ende ge­dach­te Metho­dik der psy­cho­lo­gi­schen Falsch­mün­ze­rei.

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395.

– »Die Krank­heit macht den Men­schen bes­ser«: die­se be­rühm­te Be­haup­tung, der man durch alle Jahr­hun­der­te be­geg­net, und zwar im Mun­de der Wei­sen eben­so als im Mund und Mau­le des Volks, giebt zu den­ken. Man möch­te sich, auf ihre Gül­tig­keit hin, ein­mal er­lau­ben zu fra­gen: giebt es viel­leicht ein ur­säch­li­ches Band zwi­schen Moral und Krank­heit über­haupt? Die »Ver­bes­se­rung des Men­schen«, im Gro­ßen be­trach­tet, z. B. die un­leug­ba­re Mil­de­rung, Ver­mensch­li­chung, Ver­gut­müthi­gung des Eu­ro­pä­ers in­ner­halb des letz­ten Jahr­tau­sends – ist sie viel­leicht die Fol­ge ei­nes lan­gen heim­lich-un­heim­li­chen Lei­dens und Miß­rat­hens, Ent­beh­rens, Ver­küm­merns? Hat »die Krank­heit« den Eu­ro­pä­er »bes­ser ge­macht«? Oder an­ders ge­fragt: ist uns­re Mora­li­tät – uns­re mo­der­ne zärt­li­che Mora­li­tät in Eu­ro­pa, mit der man die Mora­li­tät des Chi­ne­sen ver­glei­chen möge, – der Aus­druck ei­nes phy­sio­lo­gi­schen Rück­gangs? … Man möch­te näm­lich nicht ab­leug­nen kön­nen, daß jede Stel­le der Ge­schich­te, wo »der Mensch« sich in be­son­de­rer Pracht und Mäch­tig­keit des Ty­pus ge­zeigt hat, so­fort einen plötz­li­chen, ge­fähr­li­chen, erup­ti­ven Cha­rak­ter an­nimmt, bei dem die Men­sch­lich­keit schlimm fährt; und viel­leicht hat es in je­nen Fäl­len, wo es an­ders schei­nen will, eben nur an Muth oder Fein­heit ge­fehlt, die Psy­cho­lo­gie in die Tie­fe zu trei­ben und den all­ge­mei­nen Satz auch da noch her­aus­zu­ziehn: »je ge­sün­der, je stär­ker, je rei­cher, frucht­ba­rer, un­ter­neh­men­der ein Mensch sich fühlt, um so ›un­mo­ra­li­scher‹ wird er auch.« Ein pein­li­cher Ge­dan­ke! dem man durch­aus nicht nach­hän­gen soll! Ge­setzt aber, man läuft mit ihm ein klei­nes, kur­z­es Au­gen­blick­chen vor­wärts, wie ver­wun­dert blickt man da in die Zu­kunft! Was wür­de sich dann auf Er­den theu­rer be­zahlt ma­chen als ge­ra­de Das, was wir mit al­len Kräf­ten for­dern – die Ver­mensch­li­chung, die »Ver­bes­se­rung«, die wach­sen­de »Ci­vi­li­si­rung« des Men­schen? Nichts wäre kost­spie­li­ger als Tu­gend: denn am Ende hät­te man mit ihr die Erde als Ho­spi­tal: und »Je­der Je­der­manns Kran­ken­pfle­ger« wäre der Weis­heit letz­ter Schluß. Frei­lich: man hät­te dann auch je­nen viel­be­gehr­ten »Frie­den auf Er­den«! Aber auch so we­nig »Wohl­ge­fal­len an ein­an­der«! So we­nig Schön­heit, Über­muth, Wa­g­niß, Ge­fahr! So we­nig »Wer­ke«, um de­rent­wil­len es sich lohn­te, auf Er­den zu le­ben! Ach! und ganz und gar kei­ne »Tha­ten« mehr! Alle großen Wer­ke und Tha­ten, wel­che stehn ge­blie­ben sind und von den Wel­len der Zeit nicht fort­ge­spült wur­den, – wa­ren sie nicht alle im tiefs­ten Ver­stan­de große Un­mo­ra­li­tä­ten? …

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396.

Die Pries­ter – und mit ih­nen die Halb­pries­ter, die Phi­lo­so­phen – ha­ben zu al­len Zei­ten eine Leh­re Wahr­heit ge­nannt, de­ren er­zie­he­ri­sche Wir­kung wohlt­hä­tig war oder wohlt­hä­tig schi­en, – die »bes­ser­te«. Sie glei­chen da­mit ei­nem nai­ven Heil­künst­ler und Wun­der­mann aus dem Vol­ke, der, weil er ein Gift als Heil­mit­tel er­probt hat, leug­net, daß das­sel­be ein Gift ist … »An ih­ren Früch­ten sollt ihr sie er­ken­nen – näm­lich uns­re ›Wahr­hei­ten‹«: das ist das Pries­ter-Rai­son­ne­ment bis heu­te noch. Sie ha­ben selbst ver­häng­niß­voll ge­nug ih­ren Scharf­sinn da­hin ver­schwen­det, dem »Be­weis der Kraft« (oder »aus den Früch­ten«) den Vor­rang, ja die Ent­schei­dung über alle For­men des Be­wei­ses zu ge­ben. »Was gut macht, muß gut sein; was gut ist, kann nicht lü­gen« – so schlie­ßen sie un­er­bitt­lich –: »was gute Früch­te trägt, das muß folg­lich wahr sein: es giebt kein an­de­res Cri­te­ri­um der Wahr­heit« …

So­fern aber das »Bes­ser-ma­chen« als Ar­gu­ment gilt, muß das Schlech­ter-ma­chen als Wi­der­le­gung gel­ten. Man be­weist den Irr­thum da­mit als Irr­thum, daß man das Le­ben De­rer prüft, die ihn ver­tre­ten: ein Fehl­tritt, ein Las­ter wi­der­leg­t… Die­se un­an­stän­digs­te Art der Geg­ner­schaft, die von Hin­ten und Un­ten, die Hun­de-Art, ist ins­glei­chen nie­mals aus­ge­stor­ben: die Pries­ter, so­fern sie Psy­cho­lo­gen sind, ha­ben nie et­was in­ter­essan­ter ge­fun­den, als an den Heim­lich­kei­ten ih­rer Geg­ner zu schnüf­feln, – sie be­wei­sen ihr Chris­tent­hum da­mit, daß sie bei der »Welt« nach Schmutz su­chen. Voran bei den Ers­ten der Welt, bei den »Ge­nies«: man er­in­ne­re sich, wie je­der­zeit in Deutsch­land ge­gen Goe­the an­ge­kämpft wor­den ist (Klop­stock und Her­der gien­gen hier­in mit »gu­tem Bei­spiel« vor­an, – Art läßt nicht von Art).

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397.

Man muß sehr un­mo­ra­lisch sein, um durch die That Moral zu ma­chen… Die Mit­tel der Mora­lis­ten sind die furcht­bars­ten Mit­tel, die je ge­hand­habt wor­den sind; wer den Muth nicht zur Un­mo­ra­li­tät der That hat, taugt zu al­lem Üb­ri­gen, er taugt nicht zum Mora­lis­ten.

 

Die Moral ist eine Me­na­ge­rie; ihre Voraus­set­zung, daß ei­ser­ne Stä­be nütz­li­cher sein kön­nen als Frei­heit, selbst für den Ein­ge­fan­ge­nen; ihre an­de­re Voraus­set­zung, daß es Thier­bän­di­ger giebt, die sich vor furcht­ba­ren Mit­teln nicht fürch­ten, – die glü­hen­des Ei­sen zu hand­ha­ben wis­sen. Die­se schreck­li­che Spe­cies, die den Kampf mit dem wil­den Thier auf­nimmt, heißt sich »Pries­ter«.

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Der Mensch, ein­ge­sperrt in einen ei­ser­nen Kä­fig von Irr­t­hü­mern, eine Ca­ri­ca­tur des Men­schen ge­wor­den, krank, küm­mer­lich, ge­gen sich selbst bös­wil­lig, vol­ler Haß auf die An­trie­be zum Le­ben, vol­ler Miß­trau­en ge­gen Al­les, was schön und glück­lich ist am Le­ben, ein wan­deln­des Elend: die­se künst­li­che, will­kür­li­che, nach­träg­li­che Miß­ge­burt, wel­che die Pries­ter aus ih­rem Bo­den ge­zo­gen ha­ben, den »Sün­der«: wie wer­den wir es er­lan­gen, die­ses Phä­no­men trotz al­le­dem zu recht­fer­ti­gen?

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Um bil­lig von der Moral zu den­ken, müs­sen wir zwei zoo­lo­gi­sche Be­grif­fe an ihre Stel­le set­zen: Zäh­mung der Bes­tie und Züch­tung ei­ner be­stimm­ten Art. Die Pries­ter ga­ben zu al­len Zei­ten vor, daß sie »bes­sern« wol­len … Aber wir An­dern la­chen, wenn ein Thier­bän­di­ger von sei­nen »ge­bes­ser­ten« Thie­ren re­den woll­te. Die Zäh­mung der Bes­tie wird in den meis­ten Fäl­len durch eine Schä­di­gung der Bes­tie er­reicht: auch der mo­ra­li­sche Mensch ist kein bes­se­rer Mensch, son­dern nur ein ge­schwäch­ter. Aber er ist we­ni­ger schäd­lich …

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398.

Was ich mit al­ler Kraft deut­lich zu­ma­chen wün­sche:

a) daß es kei­ne schlim­me­re Ver­wechs­lung giebt, als wenn man Züch­tung mit Zäh­mung ver­wech­selt: was man gethan hat … Die Züch­tung ist, wie ich sie ver­ste­he, ein Mit­tel der un­ge­heu­ren Kraft-Auf­spei­che­rung der Mensch­heit, so­daß die Ge­schlech­ter auf der Ar­beit ih­rer Vor­fah­ren fort­bau­en kön­nen – nicht nur äu­ßer­lich, son­dern in­ner­lich, or­ga­nisch aus ih­nen her­aus­wach­send, in’s Stär­ke­re

b) daß es eine au­ßer­or­dent­li­che Ge­fahr giebt, wenn man glaubt, daß die Mensch­heit als Gan­zes fort­wüch­se und stär­ker wür­de, wenn die In­di­vi­du­en schlaff, gleich, durch­schnitt­lich wer­den … Mensch­heit ist ein Abstrak­tum: das Ziel der Züch­tung kann auch im ein­zelns­ten Fal­le im­mer nur der stär­ke­re Mensch sein (– der un­ge­züch­te­te ist schwach, ver­geu­de­risch, un­be­stän­dig –).