c) Höhepunkt eines Volkes (»seine Cultur«) als Folge der moralischen Höhe.
2. Die principielle Fälschung der großen Menschen, der großen Schaffenden, der großen Zeiten: man will, daß der Glaube das Auszeichnende der Großen ist: aber die Unbedenklichkeit, die Skepsis, die »Unmoralität«, die Erlaubniß, sich eines Glaubens entschlagen zu können, gehört zur Größe (Cäsar, Friedrich der Große, Napoleon; aber auch Homer, Aristophanes, Lionardo, Goethe). Man unterschlägt immer die Hauptsache, ihre »Freiheit des Willens« –
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381.
Große Lüge in der Historie: als ob die Verderbniß der Kirche die Ursache der Reformation gewesen sei! Nur der Vorwand, die Selbstvorlügnerei seitens ihrer Agitatoren – es waren starke Bedürfnisse da, deren Brutalität eine geistliche Bemäntelung sehr nöthig hatten.
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382.
Schopenhauer hat die hohe Intellektualität als Loslösung vom Willen ausgelegt; er hat das Frei-werden von den Moral-Vorurtheilen, welches in der Entfesselung des großen Geistes liegt, die typische Unmoralität des Genie’s, nicht sehen wollen; er hat künstlich Das, was er allein ehrte, den moralischen Werth der »Entselbstung«, auch als Bedingung der geistigsten Thätigkeit, des »Objektiv«-Blickens, angesetzt. »Wahrheit«, auch in der Kunst, tritt hervor nach Abzug des Willens …
Quer durch alle moralische Idiosynkrasie hindurch sehe ich eine grundverschiedene Werthung: solche absurde Auseinandertrennung von »Genie« und Willens-Welt der Moral und Immoral kenne ich nicht. Der moralische Mensch ist eine niedrigere Species als der unmoralische, eine schwächere; ja – er ist der Moral nach ein Typus, nur nicht sein eigener Typus; eine Copie, eine gute Copie bestenfalls, – das Maaß seines Werthes liegt außer ihm. Ich schätze den Menschen nach dem Quantum Macht und Fülle seines Willens: nicht nach dessen Schwächung und Auslöschung; ich betrachte eine Philosophie, welche die Verneinung des Willens lehrt, als eine Lehre der Herunterbringung und der Verleumdung … Ich schätze die Macht eines Willens darnach, wie viel von Widerstand, Schmerz, Tortur er aushält und sich zum Vortheil umzuwandeln weiß; ich rechne dem Dasein nicht seinen bösen und schmerzhaften Charakter zum Vorwurf an, sondern bin der Hoffnung, daß es einst böser und schmerzhafter sein wird, als bisher…
Die Spitze des Geistes, die Schopenhauer imaginirte, war, zur Erkenntniß zu kommen, daß Alles keinen Sinn hat, kurz, zu erkennen, was instinktiv der gute Mensch schon thut … Er leugnet, daß es höhere Arten Intellekt geben könne, – er nahm seine Einsicht als ein non plus ultra. Hier ist die Geistigkeit tief unter die Güte geordnet; ihr höchster Werth (als Kunst z. B.) wäre es, die moralische Umkehr anzurathen, vorzubereiten: absolute Herrschaft der Moralwerthe. –
Neben Schopenhauer will ich Kant charakterisiren: nichts Griechisches, absolut widerhistorisch (Stelle über die französische Revolution) und Moral-Fanatiker (Goethe’s Stelle über das Radikal-Böse). Auch bei ihm im Hintergrund die Heiligkeit…
Ich brauche eine Kritik des Heiligen …
Hegel’s Werth. »Leidenschaft«. Krämer-Philosophie des Herrn Spencer: vollkommene Abwesenheit eines Ideals, außer dem des mittleren Menschen.
Instinkt-Grundsatz aller Philosophen und Historiker und Psychologen: es muß Alles, was werthvoll ist in Mensch, Kunst, Geschichte, Wissenschaft, Religion, Technik, bewiesen werden als moralisch-werthvoll, moralisch-bedingt, in Ziel, Mittel und Resultat. Alles verstehen in Hinsicht auf den obersten Werth: z. B. Rousseau’s Frage in Betreff der Civilisation »wird durch sie der Mensch besser?« – eine komische Frage, da das Gegentheil auf der Hand liegt und eben Das ist, was zu Gunsten der Civilisation redet.
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383.
Die religiöse Moral. – Der Affekt, die große Begierde, die Leidenschaften der Macht, der Liebe, der Rache, des Besitzes –: die Moralisten wollen sie auslöschen, herausreißen, die Seele von ihnen »reinigen«.
Die Logik ist: die Begierden richten oft großes Unheil an, – folglich sind sie böse, verwerflich. Der Mensch muß los von ihnen kommen: eher kann er nicht ein guter Mensch sein …
Das ist dieselbe Logik wie: »ärgert dich ein Glied, so reiße es aus«. In dem besonderen Fall, wie es jene gefährliche »Unschuld vom Lande«, der Stifter des Christentums, seinen Jüngern zur Praxis empfahl, im Fall der geschlechtlichen Irritabilität, folgt leider dies nicht nur, daß ein Glied fehlt, sondern daß der Charakter des Menschen entmannt ist … Und das Gleiche gilt von dem Moralisten-Wahnsinn, welcher, statt der Bändigung, die Exstirpation der Leidenschaften verlangt.
Ihr Schluß ist immer: erst der entmannte Mensch ist der gute Mensch.
Die großen Kraftquellen, jene oft so gefährlich und überwältigend hervorströmenden Wildwasser der Seele, statt ihre Macht in Dienst zu nehmen und zu ökonomisiren, will diese kurzsichtigste und verderblichste Denkweise, die Moral-Denkweise, versiegen machen.
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384.
Überwindung der Affekte? – Nein, wenn es Schwäche und Vernichtung derselben bedeuten soll. Sondern in Dienst nehmen: wozu gehören mag, sie lange zu tyrannisiren (nicht erst als Einzelne, sondern als Gemeinde, Rasse u. s. w.). Endlich giebt man ihnen eine vertrauensvolle Freiheit wieder: sie lieben uns wie gute Diener und gehen freiwillig dorthin, wo unser Bestes hin will.
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385.
Die Intoleranz der Moral ist ein Ausdruck von der Schwäche des Menschen: er fürchtet sich vor seiner »Unmoralität«, er muß seine stärksten Triebe verneinen, weil er sie noch nicht zu benutzen weiß. So liegen die fruchtbarsten Striche der Erde am längsten unbebaut: – die Kraft fehlt, die hier Herr werden könnte …
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386.
Es giebt ganz naive Völker und Menschen, welche glauben, ein beständig gutes Wetter sei etwas Wünschbares: sie glauben noch heute in rebus moralibus, der »gute Mensch« allein und Nichts als der »gute Mensch« sei etwas Wünschbares – und eben dahin gehe der Gang der menschlichen Entwicklung, daß nur er übrig bleibe (und allein dahin müsse man alle Absicht richten –). Das ist im höchsten Grade unökonomisch gedacht und, wie gesagt, der Gipfel des Naiven, Nichts als Ausdruck der Annehmlichkeit, die der »gute Mensch« macht (– er erweckt keine Furcht, er erlaubt die Ausspannung, er giebt, was man nehmen kann).
Mit einem überlegnen Auge wünscht man gerade umgekehrt die immer größere Herrschaft des Bösen, die wachsende Freiwerdung des Menschen von der engen und ängstlichen Moral-Einschnürung, das Wachsthum der Kraft, um die größten Naturgewalten – die Affekte
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387.
Die ganze Auffassung vom Range der Leidenschaften: wie als ob das Rechte und Normale sei, von der Vernunft geleitet zu werden, – während die Leidenschaften das Unnormale, Gefährliche, Halbthierische seien, überdies, ihrem Ziele nach, nichts Anderes als Lust-Begierden…
Die Leidenschaft ist entwürdigt 1) wie als ob sie nur ungeziemender Weise, und nicht nothwendig und immer, das mobile sei, 2) insofern sie Etwas in Aussicht nimmt, was keinen hohen Werth hat, ein Vergnügen …
Die Verkennung von Leidenschaft und Vernunft, wie als ob letztere ein Wesen für sich sei und nicht vielmehr ein Verhältnißzustand verschiedener Leidenschaften und Begehrungen; und als ob nicht jede Leidenschaft ihr Quantum Vernunft in sich hätte …
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388.
Wie unter dem Druck der asketischen Entselbstungs-Moral gerade die Affekte der Liebe, der Güte, des Mitleids, selbst der Gerechtigkeit, der Großmuth, des Heroismus mißverstanden werden mußten:
Es ist der Reichthum an Person, die Fülle in sich, das Überströmen und Abgeben, das instinktive Wohlsein und Jasagen zu sich, was die großen Opfer und die große Liebe macht: es ist die starke und göttliche Selbstigkeit, aus der diese Affekte wachsen, so gewiß wie auch das Herr-werden-wollen, Übergreifen, die innere Sicherheit, ein Recht auf Alles zu haben. Die nach gemeiner Auffassung entgegengesetzten Gesinnungen sind vielmehr Eine Gesinnung; und wenn man nicht fest und wacker in seiner Haut sitzt, so hat man Nichts abzugeben und Hand auszustrecken und Schutz und Stab zu sein …
Wie hat man diese Instinkte so umdeuten können, daß der Mensch als werthvoll empfindet, was seinem Selbst entgegengeht? wenn er sein Selbst einem andern Selbst preisgiebt! Oh über die psychologische Erbärmlichkeit und Lügnerei, welche bisher in Kirche und kirchlich angekränkelter Philosophie das große Wort geführt hat!
Wenn der Mensch sündhaft ist, durch und durch, so darf er sich nur hassen. Im Grunde dürfte er auch seine Mitmenschen mit seiner andern Empfindung behandeln wie sich selbst; Menschenliebe bedarf einer Rechtfertigung, – sie liegt darin, daß Gott sie befohlen hat. – Hieraus folgt, daß alle die natürlichen Instinkte des Menschen (zur Liebe u.s.w.) ihm an sich unerlaubt scheinen und erst, nach ihrer Verleugnung, auf Grund eines Gehorsams gegen Gott wieder zu Recht kommen… Pascal, der bewunderungswürdige Logiker des Christenthums, gieng so weit! man erwäge sein Verhältniß zu seiner Schwester. »Sich nicht lieben machen« schien ihm christlich.
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389.
Erwägen wir, wie theuer sich ein solcher moralischer Kanon (»ein Ideal«) bezahlt macht. (Seine Feinde sind – nun? Die »Egoisten«.)
Der melancholische Scharfsinn der Selbstverkleinerung in Europa (Pascal, Larochefoucauld), – die innere Schwächung, Entmuthigung, Selbstannagung der Nicht-Heerdenthiere, –
die beständige Unterstreichung der Mittelmäßigkeits-Eigenschaften als der werthvollsten (Bescheidenheit, in Reih und Glied, die Werkzeug-Natur), –
das schlechte Gewissen eingemischt in alles Selbstherrliche, Originale:
– die Unlust also: – also Verdüsterung der Welt der Stärker-Gerathenen!
– das Heerdenbewußtsein in die Philosophie und Religion übertragen: auch seine Ängstlichkeit.
– Lassen wir die psychologische Unmöglichkeit einer rein selbstlosen Handlung außer Spiel!
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390.
Mein Schlußsatz ist: daß der wirkliche Mensch einen viel höheren Werth darstellt als der »wünschbare« Mensch irgend eines bisherigen Ideals: daß alle »Wünschbarkeiten« in Hinsicht auf den Menschen absurde und gefährliche Ausschweifungen waren, mit denen eine einzelne Art von Mensch ihre Erhaltungs- und Wachsthums-Bedingungen über der Menschheit als Gesetz aufhängen möchte; daß jede zur Herrschaft gebrachte »Wünschbarkeit« solchen Ursprungs bis jetzt den Werth des Menschen, seine Kraft, seine Zukunftsgewißheit herabgedrückt hat; daß die Armseligkeit und Winkel-Intellektualität des Menschen sich am meisten bloßstellt, auch heute noch, wenn er wünscht; daß die Fähigkeit des Menschen, Werthe anzusetzen, bisher zu niedrig entwickelt war, um dem thatsächlichen, nicht bloß »wünschbaren« Werthe des Menschen gerecht zu werden; daß das Ideal bis jetzt die eigentlich welt- und menschverleumdende Kraft, der Gifthauch über der Realität, die große Verführung zum Nichts war…
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391.
Maaßstab, wonach der Werth der moralischen Wertschätzungen zu bestimmen ist.
Die übersehene Grundthatsache: Widerspruch zwischen dem »Moralischer-werden« und der Erhöhung und Verstärkung des Typus Mensch.
Homo natura. Der »Wille zur Macht«.
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392.
Die Moralwerthe als Scheinwerthe, verglichen mit den physiologischen.
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393.
Das Nachdenken über das Allgemeinste ist immer rückständig: die letzten »Wünschbarkeiten« über den Menschen z.B. sind von den Philosophen eigentlich niemals als Problem genommen worden. Die »Verbesserung« des Menschen wird von ihnen allen naiv angesetzt, wie als ob wir durch irgend eine Intuition über das Fragezeichen hinausgehoben wären, warum gerade »verbessern«? Inwiefern ist es wünschbar, daß der Mensch tugendhafter wird? oder klüger? oder glücklicher? Gesetzt, daß man nicht schon das »Warum?« des Menschen überhaupt kennt, so hat jede solche Absicht keinen Sinn; und wenn man das Eine will, wer weiß? vielleicht darf man dann das Andere nicht wollen? Ist die Vermehrung der Tugendhaftigkeit zugleich verträglich mit einer Vermehrung der Klugheit und Einsicht? Dubito; ich werde nur zu viel Gelegenheit haben, das Gegentheil zu beweisen. Ist die Tugendhaftigkeit als Ziel im rigorosen Sinne nicht tatsächlich bisher im Widerspruch mit dem Glücklich-werden gewesen? braucht sie andererseits nicht das Unglück, die Entbehrung und Selbstmißhandlung als notwendiges Mittel? Und wenn die höchste Einsicht das Ziel wäre, müßte man nicht eben damit die Steigerung des Glücks ablehnen? und die Gefahr, das Abenteuer, das Mißtrauen, die Verführung als Weg zur Einsicht wählen?… Und will man Glück, nun, so muß man vielleicht zu den »Armen des Geistes« sich gesellen.
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394.
Die allgemeine Täuschung und Täuscherei im Gebiete der sogenannten moralischen Besserung. – Wir glauben nicht daran, daß ein Mensch ein Anderer wird, wenn er es nicht schon ist: d. h. wenn er nicht, wie es oft genug vorkommt, eine Vielheit von Personen, mindestens von Ansätzen zu Personen, ist. In diesem Falle erreicht man, daß eine andre Rolle in den Vordergrund tritt, daß »der alte Mensch« zurückgeschoben wird… Der Anblick ist verändert, nicht das Wesen… Daß Jemand aufhört, gewisse Handlungen zu thun, ist ein bloßes fatum brutum, das die verschiedenste Deutung zuläßt. Selbst Das ist nicht immer damit erreicht, daß es die Gewöhnung an ein gewisses Thun aufhebt, den letzten Grund dazu nimmt. Wer aus Fatum und Fähigkeit Verbrecher ist, verlernt Nichts, sondern lernt immer hinzu: und eine lange Entbehrung wirkt sogar als Tonicum auf sein Talent… Für die Gesellschaft freilich hat gerade Das allein ein Interesse, daß Jemand gewisse Handlungen nicht mehr thut: sie nimmt ihn zu diesem Zwecke aus den Bedingungen heraus, wo er gewisse Handlungen thun kann: das ist jedenfalls weiser, als das Unmögliche versuchen, nämlich die Fatalität seines So-und-So-seins zu brechen. Die Kirche – und sie hat Nichts gethan, als die antike Philosophie hierin abzulösen und zu beerben –, von einem andern Werthmaaße ausgehend und eine »Seele«, das »Heil« einer Seele retten wollend, glaubt einmal an die sühnende Kraft der Strafe und sodann an die auslöschende Kraft der Vergebung: Beides sind Täuschungen des religiösen Vorurtheils, – die Strafe sühnt nicht, die Vergebung löscht nicht aus, Gethanes wird nicht ungethan gemacht. Damit, daß Jemand Etwas vergißt, ist bei Weitem nicht erwiesen, daß Etwas nicht mehr ist… Eine That zieht ihre Consequenzen, im Menschen und außer dem Menschen, gleichgültig ob sie als bestraft, »gesühnt«, »vergeben« und »ausgelöscht« gilt, gleichgültig ob die Kirche inzwischen ihren Thäter selbst zu einem Heiligen avancirt hat. Die Kirche glaubt an Dinge, die es nicht giebt, an »Seelen«; sie glaubt an Wirkungen, die es nicht giebt, an göttliche Wirkungen; sie glaubt an Zustände, die es nicht giebt, an Sünde, an Erlösung, an das Heil der Seele: sie bleibt überall bei der Oberfläche stehn, bei Zeichen, Gebärden, Worten, denen sie eine arbiträre Auslegung giebt. Sie hat eine zu Ende gedachte Methodik der psychologischen Falschmünzerei.
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395.
– »Die Krankheit macht den Menschen besser«: diese berühmte Behauptung, der man durch alle Jahrhunderte begegnet, und zwar im Munde der Weisen ebenso als im Mund und Maule des Volks, giebt zu denken. Man möchte sich, auf ihre Gültigkeit hin, einmal erlauben zu fragen: giebt es vielleicht ein ursächliches Band zwischen Moral und Krankheit überhaupt? Die »Verbesserung des Menschen«, im Großen betrachtet, z. B. die unleugbare Milderung, Vermenschlichung, Vergutmüthigung des Europäers innerhalb des letzten Jahrtausends – ist sie vielleicht die Folge eines langen heimlich-unheimlichen Leidens und Mißrathens, Entbehrens, Verkümmerns? Hat »die Krankheit« den Europäer »besser gemacht«? Oder anders gefragt: ist unsre Moralität – unsre moderne zärtliche Moralität in Europa, mit der man die Moralität des Chinesen vergleichen möge, – der Ausdruck eines physiologischen Rückgangs? … Man möchte nämlich nicht ableugnen können, daß jede Stelle der Geschichte, wo »der Mensch« sich in besonderer Pracht und Mächtigkeit des Typus gezeigt hat, sofort einen plötzlichen, gefährlichen, eruptiven Charakter annimmt, bei dem die Menschlichkeit schlimm fährt; und vielleicht hat es in jenen Fällen, wo es anders scheinen will, eben nur an Muth oder Feinheit gefehlt, die Psychologie in die Tiefe zu treiben und den allgemeinen Satz auch da noch herauszuziehn: »je gesünder, je stärker, je reicher, fruchtbarer, unternehmender ein Mensch sich fühlt, um so ›unmoralischer‹ wird er auch.« Ein peinlicher Gedanke! dem man durchaus nicht nachhängen soll! Gesetzt aber, man läuft mit ihm ein kleines, kurzes Augenblickchen vorwärts, wie verwundert blickt man da in die Zukunft! Was würde sich dann auf Erden theurer bezahlt machen als gerade Das, was wir mit allen Kräften fordern – die Vermenschlichung, die »Verbesserung«, die wachsende »Civilisirung« des Menschen? Nichts wäre kostspieliger als Tugend: denn am Ende hätte man mit ihr die Erde als Hospital: und »Jeder Jedermanns Krankenpfleger« wäre der Weisheit letzter Schluß. Freilich: man hätte dann auch jenen vielbegehrten »Frieden auf Erden«! Aber auch so wenig »Wohlgefallen an einander«! So wenig Schönheit, Übermuth, Wagniß, Gefahr! So wenig »Werke«, um derentwillen es sich lohnte, auf Erden zu leben! Ach! und ganz und gar keine »Thaten« mehr! Alle großen Werke und Thaten, welche stehn geblieben sind und von den Wellen der Zeit nicht fortgespült wurden, – waren sie nicht alle im tiefsten Verstande große Unmoralitäten? …
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396.
Die Priester – und mit ihnen die Halbpriester, die Philosophen – haben zu allen Zeiten eine Lehre Wahrheit genannt, deren erzieherische Wirkung wohlthätig war oder wohlthätig schien, – die »besserte«. Sie gleichen damit einem naiven Heilkünstler und Wundermann aus dem Volke, der, weil er ein Gift als Heilmittel erprobt hat, leugnet, daß dasselbe ein Gift ist … »An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen – nämlich unsre ›Wahrheiten‹«: das ist das Priester-Raisonnement bis heute noch. Sie haben selbst verhängnißvoll genug ihren Scharfsinn dahin verschwendet, dem »Beweis der Kraft« (oder »aus den Früchten«) den Vorrang, ja die Entscheidung über alle Formen des Beweises zu geben. »Was gut macht, muß gut sein; was gut ist, kann nicht lügen« – so schließen sie unerbittlich –: »was gute Früchte trägt, das muß folglich wahr sein: es giebt kein anderes Criterium der Wahrheit« …
Sofern aber das »Besser-machen« als Argument gilt, muß das Schlechter-machen als Widerlegung gelten. Man beweist den Irrthum damit als Irrthum, daß man das Leben Derer prüft, die ihn vertreten: ein Fehltritt, ein Laster widerlegt… Diese unanständigste Art der Gegnerschaft, die von Hinten und Unten, die Hunde-Art, ist insgleichen niemals ausgestorben: die Priester, sofern sie Psychologen sind, haben nie etwas interessanter gefunden, als an den Heimlichkeiten ihrer Gegner zu schnüffeln, – sie beweisen ihr Christenthum damit, daß sie bei der »Welt« nach Schmutz suchen. Voran bei den Ersten der Welt, bei den »Genies«: man erinnere sich, wie jederzeit in Deutschland gegen Goethe angekämpft worden ist (Klopstock und Herder giengen hierin mit »gutem Beispiel« voran, – Art läßt nicht von Art).
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397.
Man muß sehr unmoralisch sein, um durch die That Moral zu machen… Die Mittel der Moralisten sind die furchtbarsten Mittel, die je gehandhabt worden sind; wer den Muth nicht zur Unmoralität der That hat, taugt zu allem Übrigen, er taugt nicht zum Moralisten.
Die Moral ist eine Menagerie; ihre Voraussetzung, daß eiserne Stäbe nützlicher sein können als Freiheit, selbst für den Eingefangenen; ihre andere Voraussetzung, daß es Thierbändiger giebt, die sich vor furchtbaren Mitteln nicht fürchten, – die glühendes Eisen zu handhaben wissen. Diese schreckliche Species, die den Kampf mit dem wilden Thier aufnimmt, heißt sich »Priester«.
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Der Mensch, eingesperrt in einen eisernen Käfig von Irrthümern, eine Caricatur des Menschen geworden, krank, kümmerlich, gegen sich selbst böswillig, voller Haß auf die Antriebe zum Leben, voller Mißtrauen gegen Alles, was schön und glücklich ist am Leben, ein wandelndes Elend: diese künstliche, willkürliche, nachträgliche Mißgeburt, welche die Priester aus ihrem Boden gezogen haben, den »Sünder«: wie werden wir es erlangen, dieses Phänomen trotz alledem zu rechtfertigen?
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Um billig von der Moral zu denken, müssen wir zwei zoologische Begriffe an ihre Stelle setzen: Zähmung der Bestie und Züchtung einer bestimmten Art. Die Priester gaben zu allen Zeiten vor, daß sie »bessern« wollen … Aber wir Andern lachen, wenn ein Thierbändiger von seinen »gebesserten« Thieren reden wollte. Die Zähmung der Bestie wird in den meisten Fällen durch eine Schädigung der Bestie erreicht: auch der moralische Mensch ist kein besserer Mensch, sondern nur ein geschwächter. Aber er ist weniger schädlich …
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398.
Was ich mit aller Kraft deutlich zumachen wünsche:
a) daß es keine schlimmere Verwechslung giebt, als wenn man Züchtung mit Zähmung verwechselt: was man gethan hat … Die Züchtung ist, wie ich sie verstehe, ein Mittel der ungeheuren Kraft-Aufspeicherung der Menschheit, sodaß die Geschlechter auf der Arbeit ihrer Vorfahren fortbauen können – nicht nur äußerlich, sondern innerlich, organisch aus ihnen herauswachsend, in’s Stärkere …
b) daß es eine außerordentliche Gefahr giebt, wenn man glaubt, daß die Menschheit als Ganzes fortwüchse und stärker würde, wenn die Individuen schlaff, gleich, durchschnittlich werden … Menschheit ist ein Abstraktum: das Ziel der Züchtung kann auch im einzelnsten Falle immer nur der stärkere Mensch sein (– der ungezüchtete ist schwach, vergeuderisch, unbeständig –).