Friedrich Wilhelm Nietzsche – Gesammelte Werke

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6. Schlußbetrachtung zur Kritik der Moral.

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399.

Das sind mei­ne For­de­run­gen an euch – sie mö­gen euch schlecht ge­nug zu Ohren ge­hen –: daß ihr die mo­ra­li­schen Wert­h­schät­zun­gen selbst ei­ner Kri­tik un­ter­zie­hen sollt. Daß ihr dem mo­ra­li­schen Ge­fühls-Im­puls, wel­cher hier Un­ter­wer­fung und nicht Kri­tik ver­langt, mit der Fra­ge: »warum Un­ter­wer­fung?« Halt ge­bie­ten sollt. Daß ihr dies Ver­lan­gen nach ei­nem »Wa­rum?«, nach ei­ner Kri­tik der Moral, eben als eure jet­zi­ge Form der Mora­li­tät selbst an­se­hen sollt, als die sub­lims­te Art von Mora­li­tät, die euch und eu­rer Zeit Ehre macht. Daß eure Red­lich­keit, euer Wil­le, euch nicht zu be­trü­gen, sich selbst aus­wei­sen muß: »warum nicht? – Vor wel­chem Forum?«

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400.

Die drei Be­haup­tun­gen:

Das Un­vor­neh­me ist das Hö­he­re (Pro­test des »ge­mei­nen Man­nes«);

das Wi­der­na­tür­li­che ist das Hö­he­re (Pro­test der Schlecht­weg­ge­kom­me­nen)

das Durch­schnitt­li­che ist das Hö­he­re (Pro­test der He­er­de, der »Mitt­le­ren«).

In der Ge­schich­te der Moral drückt sich also ein Wil­le zur Macht aus, durch den bald die Skla­ven und Un­ter­drück­ten, bald die Miß­ra­th­nen und An-sich-Lei­den­den, bald die Mit­tel­mä­ßi­gen den Ver­such ma­chen, die ih­nen güns­tigs­ten Wer­thurt­hei­le durch­zu­set­zen.

In­so­fern ist das Phä­no­men der Moral vom Stand­punkt der Bio­lo­gie aus höchst be­denk­lich. Die Moral hat sich bis­her ent­wi­ckelt auf Un­kos­ten: der Herr­schen­den und ih­rer spe­ci­fi­schen In­stink­te, der Wohl­ge­rat­he­nen und schö­nen Na­tu­ren, der Un­ab­hän­gi­gen und Pri­vi­le­gir­ten in ir­gend ei­nem Sin­ne.

Die Moral ist also eine Ge­gen­be­we­gung ge­gen die Be­mü­hun­gen der Na­tur, es zu ei­nem hö­he­ren Ty­pus zu brin­gen. Ihre Wir­kung ist: Miß­trau­en ge­gen das Le­ben über­haupt (in­so­fern des­sen Ten­den­zen als »un­mo­ra­lisch« emp­fun­den wer­den), – Sinn­lo­sig­keit, Wi­der­sinn (in­so­fern die obers­ten Wert­he als im Ge­gen­satz zu den obers­ten In­stink­ten emp­fun­den wer­den), – Ent­ar­tung und Selbst­zer­stö­rung der »hö­he­ren Na­tu­ren«, weil ge­ra­de in ih­nen der Kon­flikt be­wußt wird.

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401.

Wel­che Wert­he bis­her oben­auf wa­ren.

Moral als obers­ter Werth, in al­len Pha­sen der Phi­lo­so­phie (selbst bei den Skep­ti­kern). Re­sul­tat: die­se Welt taugt nichts, es muß eine »wah­re Welt« ge­ben.

Was be­stimmt hier ei­gent­lich den obers­ten Werth? Was ist ei­gent­lich Moral? Der In­stinkt der dé­ca­dence, es sind die Er­schöpf­ten und Ent­erb­ten, die auf die­se Wei­se Ra­che neh­men und die Her­ren ma­chen…

His­to­ri­scher Nach­weis: die Phi­lo­so­phen im­mer dé­ca­dents, im­mer im Dienst der ni­hi­lis­ti­schen Re­li­gio­nen.

Der In­stinkt der dé­ca­dence, der als Wil­le zur Macht auf­tritt. Vor­füh­rung sei­nes Sys­tems der Mit­tel: ab­so­lu­te Un­mo­ra­li­tät der Mit­tel.

Ge­sammtein­sicht: die bis­he­ri­gen obers­ten Wert­he sind ein Spe­ci­al­fall des Wil­lens zur Macht; die Moral selbst ist ein Spe­ci­al­fall der Un­mo­ra­li­tät.

Wa­rum die geg­ne­ri­schen Wert­he im­mer un­ter­la­gen.

1. Wie war das ei­gent­lich mög­lich? Fra­ge: warum un­ter­lag das Le­ben, die phy­sio­lo­gi­sche Wohl­ge­rat­hen­heit über­all? Wa­rum gab es kei­ne Phi­lo­so­phie des Ja, kei­ne Re­li­gi­on des Ja?…

Die his­to­ri­schen An­zei­chen sol­cher Be­we­gun­gen: die heid­nische Re­li­gi­on. Dio­ny­sos ge­gen den »Ge­kreu­zig­ten«. Die Re­naissance. Die Kunst.

2. Die Star­ken und die Schwa­chen: die Ge­sun­den und die Kran­ken; die Aus­nah­me und die Re­gel. Es ist kein Zwei­fel, wer der Stär­ke­re ist…

Ge­samm­ta­spekt der Ge­schich­te: Ist der Mensch da­mit eine Aus­nah­me in der Ge­schich­te des Le­bens? – Ein­spra­che ge­gen den Dar­wi­nis­mus. Die Mit­tel der Schwa­chen, um sich oben zu er­hal­ten, sind In­stink­te, sind »Men­sch­lich­keit« ge­wor­den, sind »In­sti­tu­tio­nen«…

3. Nach­weis die­ser Herr­schaft in un­sern po­li­ti­schen In­stink­ten, in un­sern so­cia­len Wer­thurt­hei­len, in un­sern Küns­ten, in uns­rer Wis­sen­schaft.

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Die Nie­der­gangs-In­stink­te sind Herr über die Auf­gangs-In­stink­te ge­wor­den… Der Wil­le zum Nichts ist Herr ge­wor­den über den Wil­len zum Le­ben!

Ist das wahr? ist nicht viel­leicht eine grö­ße­re Ga­ran­tie des Le­bens, der Gat­tung in die­sem Sieg der Schwa­chen und Mitt­le­ren? – ist es viel­leicht nur ein Mit­tel in der Ge­sammt­be­we­gung des Le­bens, eine Tem­po-Ver­zö­ge­rung? eine No­thwehr ge­gen et­was noch Schlim­me­res?

– Ge­setzt, die Star­ken wä­ren Herr, in Al­lem, und auch in den Wert­schät­zun­gen ge­wor­den: zie­hen wir die Con­se­quenz, wie sie über Krank­heit, Lei­den, Op­fer den­ken wür­den! Eine Selbst­ver­ach­tung der Schwa­chen wäre die Fol­ge: sie wür­den su­chen, zu ver­schwin­den und sich aus­zu­lö­schen. Und wäre dies viel­leicht wün­schens­werth? – und möch­ten wir ei­gent­lich eine Welt, in der die Nach­wir­kung der Schwa­chen, ihre Fein­heit, Rück­sicht, Geis­tig­keit, Bieg­sam­keit fehl­te?…

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Wir ha­ben zwei »Wil­len zur Macht« im Kamp­fe ge­sehn (im S­pe­ci­al­fall: wir hat­ten ein Prin­cip, dem Ei­nen Recht zu ge­ben, der bis­her un­ter­lag, und Dem, der bis­her sieg­te, Un­recht zu ge­ben): wir ha­ben die «wah­re Welt« als eine »er­lo­ge­ne Welt« und die Moral als eine Form der Un­mo­ra­li­tät er­kannt. Wir sa­gen nicht: »der Stär­ke­re hat Un­recht«. Wir ha­ben be­grif­fen, was bis­her den obers­ten Werth be­stimmt hat und warum es Herr ge­wor­den ist über die geg­ne­ri­sche Wer­thung –: es war nu­me­risch stär­ker. Rei­ni­gen wir jetzt die geg­ne­ri­sche Wer­thung von der In­fek­ti­on und Halb­heit, von der Ent­ar­tung, in der sie uns Al­len be­kannt ist.

Wie­der­her­stel­lung der Na­tur: mo­ra­lin­frei.

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402.

Moral ein nütz­li­cher Irr­thum, deut­li­cher, in Hin­sicht auf die größ­ten und vor­urt­heils­frei­es­ten ih­rer För­de­rer, eine nothwen­dig er­ach­te­te Lüge,

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403.

Man darf sich die Wahr­heit bis so­weit zu­ge­stehn, als man be­reits er­höht ge­nug ist, um nicht mehr die Zwangs­schu­le des mo­ra­li­schen Irr­thums nö­thig zu ha­ben. – Falls man das Da­sein mo­ra­lisch be­urt­heilt, de­gou­tir­t es.

Man soll nicht falsche Per­so­nen er­fin­den, z. B. nicht sa­gen »die Na­tur ist grau­sam«. Gera­de ein­zu­se­hen, daß es kein sol­ches Cen­tral­we­sen der Verant­wort­lich­keit giebt, er­leich­tert!

Ent­wick­lung der Mensch­heit. A. Macht über die Na­tur zu ge­win­nen und da­zu eine ge­wis­se Macht über sich. (Die Moral war nö­thig, um den Men­schen durch­zu­set­zen im Kampf mit Na­tur und »wil­dem Thier«.)

B. Ist die Macht über die Na­tur er­run­gen, so kann man die­se Macht be­nut­zen, um sich selbst frei wei­ter­zu­bil­den: Wil­le zur Macht als Selbst­er­hö­hung und Ver­stär­kung.

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404.

Moral als Il­lu­si­on der Gat­tung, um den Ein­zel­nen an­zu­trei­ben, sich der Zu­kunft zu op­fern: schein­bar ihm selbst einen un­end­li­chen Werth zu­ge­ste­hend, so­daß er mit die­sem Selbst­be­wußt­sein an­de­re Sei­ten sei­ner Na­tur ty­ran­ni­sirt und nie­der­hält und schwer mit sich zu­frie­den ist.

Tiefs­te Dank­bar­keit für Das, was die Moral bis­her ge­leis­tet hat: aber jetzt nur noch ein Druck, der zum Ver­häng­niß wer­den wür­de! Sie selbst zwingt als Red­lich­keit zur Moral­ver­nei­nung.

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405.

In­wie­fern die Selbst­ver­nich­tung der Moral noch ein Stück ih­rer ei­ge­nen Kraft ist. Wir Eu­ro­pä­er ha­ben das Blut Sol­cher in uns, die für ih­ren Glau­ben ge­stor­ben sind; wir ha­ben die Moral furcht­bar und ernst ge­nom­men und es ist Nichts, was wir ihr nicht ir­gend­wie ge­op­fert ha­ben. And­rer­seits: uns­re geis­ti­ge Fein­heit ist we­sent­lich durch Ge­wis­sens-Vi­vi­sek­ti­on er­reicht wor­den. Wir wis­sen das »Wo­hin?« noch nicht, zu dem wir ge­trie­ben wer­den, nach­dem wir uns der­ge­stalt von uns­rem al­ten Bo­den ab­ge­löst ha­ben. Aber die­ser Bo­den selbst hat uns die Kraft an­ge­züch­tet, die uns jetzt hin­aus­treibt in die Fer­ne, in’s Aben­teu­er, durch die wir in’s Ufer­lo­se, Uner­prob­te, Unent­deck­te hin­aus­ge­sto­ßen wer­den, – es bleibt uns kei­ne Wahl, wir müs­sen Ero­be­rer sein, nach­dem wir kein Land mehr ha­ben, wo wir hei­misch sind, wo wir »er­hal­ten« möch­ten. Ein ver­bor­ge­nes Ja treibt uns dazu, das stär­ker ist, als alle uns­re Neins. Uns­re Stär­ke selbst dul­det uns nicht mehr im al­ten mor­schen Bo­den: wir wa­gen uns in die Wei­te, wir wa­gen uns dar­an: die Welt ist noch reich und un­ent­deckt, und selbst Zu-Grun­de-gehn ist bes­ser als halb und gif­tig wer­den. Uns­re Stär­ke selbst zwingt uns auf­’s Meer, dort­hin, wo alle Son­nen bis­her un­ter­ge­gan­gen sind: wir wis­sen um eine neue Wel­t…

III. Kritik der Philosophie.
1. Allgemeine Betrachtungen.

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406.

Thun wir ei­ni­gen Aber­glau­ben von uns ab, der in Be­zug auf Phi­lo­so­phen bis­her gang und gäbe war!

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407.

Die Phi­lo­so­phen sind ein­ge­nom­men ge­gen den Schein, den Wech­sel, den Schmerz, den Tod, das Kör­per­li­che, die Sin­ne, das Schick­sal und die Un­frei­heit, das Zweck­lo­se.

 

Sie glau­ben ers­tens an: die ab­so­lu­te Er­kennt­niß, 2) an die Er­kennt­niß um der Er­kennt­niß wil­len, 3) an die Tu­gend und Glück im Bun­de, 4) an die Er­kenn­bar­keit der mensch­li­chen Hand­lun­gen. Sie sind von in­stink­ti­ven Wert­h­be­stim­mun­gen ge­lei­tet, in de­nen sich frü­he­re Cul­tur­zu­stän­de spie­geln (ge­fähr­li­che­re).

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408.

Was fehl­te den Phi­lo­so­phen? 1) his­to­ri­scher Sinn, 2) Kennt­niß der Phy­sio­lo­gie, 3) ein Ziel ge­gen die Zu­kunft hin. – Eine Kri­tik zu ma­chen, ohne alle Iro­nie und mo­ra­li­sche Ver­urt­hei­lung.

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409.

Die Phi­lo­so­phen hat­ten 1) von je­her das wun­der­ba­re Ver­mö­gen zur con­tro­dic­tio in ad­jec­to; 2) sie trau­ten den Be­grif­fen eben­so un­be­dingt, als sie den Sin­nen miß­trau­ten: sie er­wo­gen nicht, daß Be­grif­fe und Wor­te un­ser Erb­gut aus Zei­ten sind, wo es in den Köp­fen sehr dun­kel und an­spruchs­los zu­gieng.

Was am letz­ten den Phi­lo­so­phen auf­däm­mert: sie müs­sen sich die Be­grif­fe nicht mehr nur schen­ken las­sen, nicht nur sie rei­ni­gen und auf­hel­len, son­dern sie al­ler­erst ma­chen, schaf­fen, hin­stel­len und zu ih­nen über­re­den. Bis­her ver­trau­te man im Gan­zen sei­nen Be­grif­fen, wie als ei­ner wun­der­ba­ren Mit­gift aus ir­gend­wel­cher Wun­der-Welt: aber es wa­ren zu­letzt die Erb­schaf­ten uns­rer ferns­ten, eben­so dümms­ten als ge­scheid­tes­ten Vor­fah­ren. Es ge­hört die­se Pie­tät ge­gen Das, was sich in uns vor­fin­det, viel­leicht zu dem mo­ra­li­schen Ele­ment im Er­ken­nen. Zu­nächst thut die ab­so­lu­te Skep­sis ge­gen alle über­lie­fer­ten Be­grif­fe noth (wie sie viel­leicht schon ein­mal Ein Phi­lo­soph be­ses­sen hat – Pla­to na­tür­lich –, denn er hat das Ge­gent­heil ge­lehr­t).

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410.

Ge­gen die er­kennt­niß­theo­re­ti­schen Dog­men tief miß­trau­isch, lieb­te ich es, bald aus die­sem, bald aus je­nem Fens­ter zu bli­cken, hü­te­te mich, mich dar­in fest­zu­set­zen, hielt sie für schäd­lich, – und zu­letzt: ist es wahr­schein­lich, daß ein Werk­zeug sei­ne ei­ge­ne Taug­lich­keit kri­ti­si­ren kann?? – Worauf ich Acht gab, war viel­mehr, daß nie­mals eine er­kennt­niß­theo­re­ti­sche Skep­sis oder Dog­ma­tik ohne Hin­ter­ge­dan­ken ent­stan­den ist, – daß sie einen Werth zwei­ten Ran­ges hat, so­bald man er­wägt, was im Grun­de zu die­ser Stel­lung zwang.

Gr­und­ein­sicht: so­wohl Kant als He­gel, als Scho­pen­hau­er – so­wohl die skep­tisch-epo­chis­ti­sche Hal­tung, als die his­to­ri­si­ren­de, als die pes­si­mis­ti­sche – sind mo­ra­li­schen Ur­sprungs. Ich sah Nie­man­den, der eine Kri­tik der mo­ra­li­schen Wert­h­ge­füh­le ge­wagt hät­te: und den spär­li­chen Ver­su­chen, zu ei­ner Gut­ste­hungs­ge­schich­te die­ser Ge­füh­le zu kom­men (wie bei den eng­li­schen und deut­schen Dar­wi­nis­ten) wand­te ich bald den Rücken.

Wie er­klärt sich Spi­no­za’s Stel­lung, sei­ne Ver­nei­nung und Ab­leh­nung der mo­ra­li­schen Wer­thurt­hei­le? (Es war eine Con­se­quenz sei­ner Theo­di­cee!)

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411.

Moral als höchs­te Ab­wer­thung.– Ent­we­der ist uns­re Welt das Werk und der Aus­druck (der mo­dus) Got­tes: dann muß sie höchst voll­kom­men­sein (Schluß Leib­ni­zens…) – und man zwei­fel­te nicht, was zur Voll­kom­men­heit ge­hö­re, zu wis­sen –, dann kann das Böse, das Übel nur schein­bar sein ( ra­di­ka­ler bei Spi­no­za die Be­grif­fe Gut und Böse) oder muß aus dem höchs­ten Zweck Got­tes ab­ge­lei­tet sein (– etwa als Fol­ge ei­ner be­son­de­ren Guns­ter­wei­sung Got­tes, der zwi­schen Gut und Böse zu wäh­len er­laubt: das Pri­vi­le­gi­um, lein Au­to­mat zu sein; »Frei­heit« auf die Ge­fahr hin, sich zu ver­grei­fen, falsch zu wäh­len… z. B. bei Sim­pli­ci­us im Com­men­tar zu Epik­tet).

O­der un­se­re Welt ist un­voll­kom­men, das Übel und die Schuld sind real, sind de­ter­mi­nirt, sind ab­so­lut ih­rem We­sen in­hä­rent, dann kann sie nicht die wah­re Welt sein: dann ist Er­kennt­niß eben nur der Weg, sie zu ver­nei­nen, dann ist sie eine Ver­ir­rung, wel­che als Ver­ir­rung er­kannt wer­den kann. Dies die Mei­nung Scho­pen­hau­er’s auf Grund Kan­ti­scher Voraus­set­zun­gen. Noch de­spe­ra­ter Pas­cal: er be­griff, daß dann auch die Er­kennt­niß cor­rupt, ge­fälscht sein müs­se, – daß Of­fen­ba­rung noth thue, um die Welt auch nur als ver­nei­nens­werth zu be­grei­fen…

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412.

Aus der Ge­wöh­nung an un­be­ding­te Au­to­ri­tä­ten ist zu­letzt ein tie­fes Be­dürf­niß nach un­be­ding­ten Au­to­ri­tä­ten ent­stan­den: – so stark, daß es selbst in ei­nem kri­ti­schen Zeit­al­ter, wie dem Kant’s, dem Be­dürf­niß nach Kri­tik sich als über­le­gen be­wies und, in ei­nem ge­wis­sen Sin­ne, die gan­ze Ar­beit des kri­ti­schen Ver­stan­des sich un­tert­hä­nig und zu Nut­ze zu ma­chen wuß­te. – Es be­wies in der dar­auf fol­gen­den Ge­ne­ra­ti­on, wel­che durch ihre his­to­ri­schen In­stink­te nothwen­dig auf das Re­la­ti­ve je­der Au­to­ri­tät hin­ge­lenkt wur­de, noch Ein Mal sei­ne Über­le­gen­heit, als es auch die He­gel’­sche Ent­wick­lungs-Phi­lo­so­phie, die in Phi­lo­so­phie um­ge­tauf­te His­to­rie, selbst sich dienst­bar mach­te und die Ge­schich­te als die fort­schrei­ten­de Selb­stof­fen­ba­rung, Selb­st­über­bie­tung der mo­ra­li­schen Ide­en hin­stell­te. Seit Pla­to ist die Phi­lo­so­phie un­ter der Herr­schaft der Moral. Auch bei sei­nen Vor­gän­gern spie­len mo­ra­li­sche In­ter­pre­ta­tio­nen ent­schei­dend hin­ein (bei Ana­xi­man­der das Zu-Grun­de-gehn al­ler Din­ge als Stra­fe für ihre Eman­ci­pa­ti­on vom rei­nen Sein; bei Hera­klit die Re­gel­mä­ßig­keit der Er­schei­nun­gen als Zeug­niß für den sitt­lich-recht­li­chen Cha­rak­ter des ge­samm­ten Wer­dens).

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413.

Durch mo­ra­li­sche Hin­ter­ab­sich­ten ist der Gang der Phi­lo­so­phie bis­her am meis­ten auf­ge­hal­ten wor­den.

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414.

Man hat zu al­len Zei­ten die »schö­nen Ge­füh­le« für Ar­gu­men­te ge­nom­men, den »ge­ho­be­nen Bu­sen« für den Bla­se­balg der Gott­heit, die Über­zeu­gung als »Kri­te­ri­um der Wahr­heit«, das Be­dürf­nis des Geg­ners als Fra­ge­zei­chen zur Weis­heit: die­se Falsch­heit, Falsch­mün­ze­rei geht durch die gan­ze Ge­schich­te der Phi­lo­so­phie. Die acht­ba­ren, aber nur spär­li­chen Skep­ti­ker ab­ge­rech­net, zeigt sich nir­gends ein In­stinkt von in­tel­lek­tu­el­ler Recht­schaf­fen­heit. Zu­letzt hat noch Kant in al­ler Un­schuld die­se Den­ker-Cor­rup­ti­on mit dem Be­griff »prak­ti­sche Ver­nunft« zu ver­wis­sen­schaft­li­chen ge­sucht: er er­fand ei­gens eine Ver­nunft da­für, in wel­chen Fäl­len man sich nicht um die Ver­nunft zu küm­mern brau­che: näm­lich wenn das Be­dürf­niß des Her­zens, wenn die Moral, wenn die »Pf­licht« re­det.

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415.

He­gel: sei­ne po­pu­lä­re Sei­te die Leh­re vom Krieg und den großen Män­nern. Das Recht ist bei dem Sieg­rei­chen: er stellt den Fort­schritt der Mensch­heit dar. Ver­such, die Herr­schaft der Moral aus der Ge­schich­te zu be­wei­sen.

Kant: ein Reich der mo­ra­li­schen Wert­he, uns ent­zo­gen, un­sicht­bar, wirk­lich.

He­gel: eine nach­weis­ba­re Ent­wick­lung, Sicht­bar­wer­dung des mo­ra­li­schen Rei­ches.

Wir wol­len uns we­der auf die Kan­ti­sche noch He­gel’­sche Ma­nier be­trü­gen las­sen: – wir glau­ben nicht mehr, wie sie, an die Moral und ha­ben folg­lich auch kei­ne Phi­lo­so­phien zu grün­den, da­mit die Moral Recht be­hal­te. So­wohl der Kri­ti­cis­mus als der His­to­ri­cis­mus hat für uns nicht dar­in sei­nen Reiz: – nun, wel­chen hat er denn? –

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416.

Die Be­deu­tung der deut­schen Phi­lo­so­phie (He­gel): einen Pan­the­is­mus aus­zu­den­ken, bei dem das Böse, der Irr­thum und das Leid nicht als Ar­gu­men­te ge­gen Gött­lich­keit emp­fun­den wer­den. Die­se gran­dio­se Ini­tia­ti­ve ist miß­braucht wor­den von den vor­han­de­nen Mach­ten (Staat u. f. w.), als sei da­mit die Ver­nünf­tig­keit des ge­ra­de Herr­schen­den sank­tio­nirt. Scho­pen­hau­er er­scheint da­ge­gen als hart­nä­cki­ger Moral-Mensch, wel­cher end­lich, um mit sei­ner mo­ra­li­schen Schät­zung Recht zu be­hal­ten, zum Welt-Ver­nei­ner wird. End­lich zum »Mys­ti­ker«. Ich selbst habe eine äs­the­ti­sche Recht­fer­ti­gung ver­sucht: wie ist die Häß­lich­keit der Welt mög­lich? – Ich nahm den Wil­len zur Schön­heit, zum Ver­har­ren in glei­chen For­men, als ein zeit­wei­li­ges Er­hal­tungs- und Heil­mit­tel: fun­da­men­tal aber schi­en mir das ewig-Schaf­fen­de als das ewig-Zer­stö­ren-Müs­sen­de ge­bun­den an den Schmerz. Das Häß­li­che ist die Be­trach­tungs­form der Din­ge un­ter dem Wil­len, einen Sinn, einen neu­en Sinn in das Sinn­los-ge­wor­de­ne zu le­gen: die an­ge­häuf­te Kraft, wel­che den Schaf­fen­den zwingt, das Bis­he­ri­ge als un­halt­bar, miß­rat­hen, ver­nei­nungs­wür­dig, als häß­lich zu füh­len! –

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417.

Mei­ne ers­te Lö­sung: die dio­ny­si­sche Weis­heit. Lust an der Ver­nich­tung des Edels­ten und am An­blick wie er schritt­wei­se in’s Ver­der­ben ge­räth: als Lust am Kom­men­den, Zu­künf­ti­gen, wel­ches tri­um­phirt über das vor­han­de­ne noch so Gute. Dio­ny­sisch: zeit­wei­li­ge Iden­ti­fi­ka­ti­on mit dem Prin­cip des Le­bens (Wol­lust des Mär­ty­rers ein­be­grif­fen).

Mei­ne Neue­run­gen. – Wei­ter-Ent­wick­lung des Pes­si­mis­mus: der Pes­si­mis­mus des In­tel­lekts; die mo­ra­li­sche Kri­tik, Auf­lö­sung des letz­ten Tros­tes. Er­kennt­niß der Zei­chen des Ver­falls: um­schlei­ert durch Wahn je­des star­ke Han­deln; die Cul­tur iso­lirt, ist un­ge­recht und da­durch stark.

1. Mein An­stre­ben ge­gen den Ver­fall und die zu­neh­men­de Schwä­che der Per­sön­lich­keit. Ich such­te ein neu­es Cen­trum.

2. 2) Un­mög­lich­keit die­ses Stre­bens er­kannt.

3. 3) Da­rauf gieng ich wei­ter in der Bahn der Auf­lö­sung, – dar­in fand ich für Ein­zel­ne neue Kraft­quel­len. Wir müs­sen Zer­stö­rer sein!– – Ich er­kann­te, daß der Zu­stand der Auf­lö­sung, in der ein­zel­ne We­sen sich vollen­den kön­nen wie nie – ein Ab­bild und Ein­zel­fall des all­ge­mei­nen Da­seins ist. Ge­gen die läh­men­de Emp­fin­dung der all­ge­mei­nen Auf­lö­sung und Un­vollen­dung hielt ich die ewi­ge Wie­der­kunft.

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418.

Man sucht das Bild der Welt in der Phi­lo­so­phie, bei der es uns am frei­s­ten zu Mu­the wird; d. h. bei der un­ser mäch­tigs­ter Trieb sich frei fühlt zu sei­ner Thä­tig­keit. So wird es auch bei mir stehn!

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419.

Die deut­sche Phi­lo­so­phie als Gan­zes – Leib­niz, Kant, He­gel, Scho­pen­hau­er, um die Gro­ßen zu nen­nen – ist die gründ­lichs­te Art Ro­man­tik und Heim­weh, die es bis­her gab: das Ver­lan­gen nach dem Bes­ten, was je­mals war. Man ist nir­gends mehr hei­misch, man ver­langt zu­letzt nach Dem zu­rück, wo man ir­gend­wie hei­misch sein kann, weil man dort al­lein hei­misch sein möch­te: und das ist die grie­chi­sche Welt! Aber ge­ra­de dort­hin sind alle Brücken ab­ge­bro­chen, – aus­ge­nom­men die Re­gen­bo­gen der Be­grif­fe! Und die füh­ren über­all hin, in alle Hei­ma­ten und »Va­ter­län­der«, die es für Grie­chen-See­len ge­ge­ben hat! Frei­lich: man muß sehr leicht, sehr dünn sein, um über die­se Brücken zu schrei­ten! Aber wel­ches Glück liegt schon in die­sem Wil­len zur Geis­tig­keit, fast zur Geis­ter­haf­tig­keit! Wie fer­ne ist man da­mit von »Druck und Stoß«, von der me­cha­ni­schen Töl­pe­lei der Na­tur­wis­sen­schaf­ten, von dem Jahr­markts-Lär­me der »mo­der­nen Ide­en«! Man will zu­rück, durch die Kir­chen­vä­ter zu den Grie­chen, aus dem Nor­den nach dem Sü­den, aus den For­meln zu den For­men; man ge­nießt noch den Aus­gang des Al­ter­thums, das Chris­tent­hum, wie einen Zu­gang zu ihm, wie ein gu­tes Stück al­ter Welt sel­ber, wie ein glit­zern­des Mo­sa­ik an­ti­ker Be­grif­fe und an­ti­ker Wer­thurt­hei­le. Ara­bes­ken, Schnör­kel, Ro­ko­ko scho­las­ti­scher Abstrak­tio­nen – im­mer noch bes­ser, näm­lich fei­ner und dün­ner, als die Bau­ern- und Pö­bel-Wirk­lich­keit des eu­ro­päi­schen Nor­dens, im­mer noch ein Pro­test hö­he­rer Geis­tig­keit ge­gen den Bau­ern­krieg und Pö­bel-Auf­stand, der über den geis­ti­gen Ge­schmack im Nor­den Eu­ro­pa’s Herr ge­wor­den ist und wel­cher an dem großen »un­geis­ti­gen Men­schen«, an Luther, sei­nen An­füh­rer hat­te: – in die­sem Be­tracht ist deut­sche Phi­lo­so­phie ein Stück Ge­gen­re­for­ma­ti­on, so­gar noch Re­naissance, min­des­tens Wil­le zur Re­naissance, Wil­le fort­zu­fah­ren in der Ent­de­ckung des Al­ter­thums, in der Aus­gra­bung der an­ti­ken Phi­lo­so­phie, vor Al­lem der Vor­so­kra­ti­ker – der best­ver­schüt­te­ten al­ler grie­chi­schen Tem­pel! Vi­el­leicht, daß man ei­ni­ge Jahr­hun­der­te spä­ter urt­hei­len wird, daß al­les deut­sche Phi­lo­so­phi­ren dar­in sei­ne ei­gent­li­che Wür­de habe, ein schritt­wei­ses Wie­der­ge­win­nen des an­ti­ken Bo­dens zu sein, und daß je­der An­spruch auf »Ori­gi­na­li­tät« klein­lich und lä­cher­lich klin­ge im Ver­hält­nis zu je­nem hö­he­ren An­sprü­che der Deut­schen, das Band, das zer­ris­sen schi­en, neu ge­bun­den zu ha­ben, das Band mit den Grie­chen, dem bis­her höchst ge­ar­te­ten Ty­pus »Mensch«. Wir nä­hern uns heu­te al­len je­nen grund­sätz­li­chen For­men der Wel­t­aus­le­gung wie­der, wel­che der grie­chi­sche Geist, in Ana­xi­man­der, Hera­klit, Par­me­ni­des, Em­pe­do­kles, De­mo­krit und Ana­xa­go­ras, er­fun­den hat, – wir wer­den von Tag zu Tag grie­chi­scher, zu­erst, wie bil­lig, in Be­grif­fen und Wert­schät­zun­gen, gleich­sam als grä­ci­si­ren­de Ge­s­pens­ter: aber der­einst hof­fent­lich auch mit un­se­rem Lei­be! Hie­rin liegt (und lag von je­her) mei­ne Hoff­nung für das deut­sche We­sen!

 

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420.

Ich will Nie­man­den zur Phi­lo­so­phie über­re­den: es ist nothwen­dig, es ist viel­leicht auch wün­schens­wert!), daß der Phi­lo­soph eine sel­te­ne Pflan­ze ist. Nichts ist mir wi­der­li­cher als die lehr­haf­te An­prei­sung der Phi­lo­so­phie, wie bei Sene­ca oder gar Ci­ce­ro. Phi­lo­so­phie hat we­nig mit Tu­gend zu thun. Es sei mir er­laubt zu sa­gen, daß auch der wis­sen­schaft­li­che Mensch et­was Grund­ver­schie­de­nes vom Phi­lo­so­phen ist. – Was ich wün­sche ist: daß der ech­te Be­griff des Phi­lo­so­phen in Deutsch­land nicht ganz und gar zu Grun­de gehe. Es giebt so vie­le hal­be We­sen al­ler Art in Deutsch­land, wel­che ihr Miß­rat­hen­sein gern un­ter ei­nem so vor­neh­men Na­men ver­ste­cken möch­ten.

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421.

Ich muß das schwie­rigs­te Ide­al des Phi­lo­so­phen auf­stel­len. Das Ler­nen thut’s nicht! Der Ge­lehr­te ist das He­er­dent­hier im Rei­che der Er­kennt­niß, – wel­cher forscht, weil es ihm be­foh­len und vor­ge­macht wor­den ist, –

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422.

Aber­glau­be über den Phi­lo­so­phen: Ver­wechs­lung mit dem wis­sen­schaft­li­chen Men­schen. Als ob die Wert­he in den Din­gen steck­ten und man sie nur fest­zu­hal­ten hät­te! In­wie­fern sie un­ter der Ein­flüs­te­rung ge­ge­be­ner Wert­he for­schen (ihr Haß auf Schein, Leib u. s. w.). Scho­pen­hau­er in Be­treff der Moral (Hohn über den Uti­li­ta­ris­mus). Zu­letzt geht die Ver­wechs­lung so weit, daß man den Dar­wi­nis­mus als Phi­lo­so­phie be­trach­tet: und jetzt ist die Herr­schaft bei den wis­sen­schaft­li­chen Men­schen. Auch die Fran­zo­sen wie Tai­ne su­chen oder mei­nen zu su­chen, ohne die Wert­h­maa­ße schon zu ha­ben. Die Nie­der­wer­fung vor den »Fac­ten«, eine Art Cul­tus. Tat­säch­lich ver­nich­ten sie die be­ste­hen­den Wert­schät­zun­gen. Er­klä­rung die­ses Miß­ver­ständ­nis­ses. Der Be­feh­len­de ent­steht sel­ten; er miß­deu­tet sich sel­ber. Man will durch­aus die Au­to­ri­tät von sich ab­leh­nen und in die Um­stän­de set­zen. – In Deutsch­land ge­hört die Schät­zung des Kri­ti­kers in die Ge­schich­te der er­wa­chen­den Männ­lich­keit. Les­sing u.s.w. (Na­po­le­on über Goe­the). That­säch­lich ist die­se Be­we­gung durch die deut­sche Ro­man­tik wie­der rück­gän­gig ge­macht: und der Ruf der deut­schen Phi­lo­so­phie be­zieht sich auf sie, als ob mit ihr die Ge­fahr der Skep­sis be­sei­tigt sei, und der Glau­be be­wie­sen wer­den kön­ne: In He­gel cul­mi­ni­ren bei­de Ten­den­zen: im Grun­de ver­all­ge­mei­nert er die That­sa­che der deut­schen Kri­tik und die That­sa­che der deut­schen Ro­man­tik, – eine Art von dia­lek­ti­schem Fa­ta­lis­mus, aber zu Ehren des Geis­tes, that­säch­lich mit Un­ter­wer­fung des Phi­lo­so­phen un­ter die Wirk­lich­keit. Der Kri­ti­ker be­rei­tet vor: nicht mehr!

Mit Scho­pen­hau­er däm­mert die Auf­ga­be des Phi­lo­so­phen, daß es sich um eine Be­stim­mung des Wert­hes hand­le: im­mer noch un­ter der Herr­schaft des Eu­dä­mo­nis­mus. Das Ide­al des Pes­si­mis­mus.

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423.

Theo­rie und Pra­xis. – Ver­häng­nis­vol­le Un­ter­schei­dung, wie als ob es einen eig­nen Er­kennt­niß­trieb gebe, der, ohne Rück­sicht auf Fra­gen des Nut­zens und Scha­dens, blind­lings auf die Wahr­heit los­ge­he: und dann, da­von ab­ge­trennt, die gan­ze Welt der prak­ti­schen In­ter­es­sen…

Da­ge­gen su­che ich zu zei­gen, wel­che In­stink­te hin­ter all die­sen rei­nen Theo­re­ti­kern thä­tig ge­we­sen sind, – wie sie al­le­sammt fa­ta­lis­tisch im Bann ih­rer In­stink­te

auf Et­was los­gien­gen, das für sie »Wahr­heit« war, für sie und nur für sie. Der Kampf der Sys­te­me, sammt dem der er­kennt­niß­theo­re­ti­schen Skru­pel, ist ein Kampf ganz be­stimm­ter In­stink­te (For­men der Vi­ta­li­tät, des Nie­der­gangs, der Stän­de, der Ras­sen u.s.w,).

Der so­ge­nann­te Er­kennt­niß­trie­b ist zu­rück­zu­füh­ren auf einen A­n­eig­nungs- und Über­wäl­ti­gungs­trieb: die­sem Trie­be fol­gend ha­ben sich die Sin­ne, das Ge­dächt­niß, die In­stink­te u.s.w. ent­wi­ckelt. Die mög­lichst schnel­le Re­duk­ti­on der Phä­no­me­ne, die Öko­no­mie, die Ak­ku­mu­la­ti­on des er­wor­be­nen Schat­zes an Er­kennt­nis; (d. h. an­ge­eig­ne­ter und hand­lich ge­mach­ter Welt)…

Die Moral ist des­halb eine so cu­rio­se Wis­sen­schaft, weil sie im höchs­ten Gra­de prak­tisch ist! so­daß die rei­ne Er­kennt­niß­po­si­ti­on, die Wis­sen­schaft­li­che Recht­schaf­fen­heit so­fort preis­ge­ge­ben wird, so­bald die Moral ihre Ant­wor­ten for­dert. Die Moral sagt: ich brau­che man­che Ant­wor­ten, – Grün­de, Ar­gu­men­te; Skru­pel mö­gen hin­ter­drein kom­men, oder auch nicht –.

»Wie soll ge­han­delt wer­den?« – Denkt man nun nach, daß man mit ei­nem sou­ve­rän ent­wi­ckel­ten Ty­pus zu thun hat, von dem seit un­zäh­li­gen Jahr­tau­sen­den »ge­han­delt« wor­den ist, und Al­les In­stinkt, Zweck­mä­ßig­keit, Au­to­ma­tis­mus, Fa­ta­li­tät ge­wor­den ist, so kommt Ei­nem die Dring­lich­keit die­ser Moral-Fra­ge so­gar ganz ko­misch vor.

»Wie soll ge­han­delt wer­den?« – Moral war im­mer ein Miß­ver­ständ­niß: that­säch­lich woll­te eine Art, die ein Fa­tum so und so zu han­deln im Lei­be hat­te, sich recht­fer­ti­gen, in­dem sie ihre Norm als Uni­ver­sal­norm auf­de­cre­ti­ren woll­te…

»Wie soll ge­han­delt wer­den?« ist kei­ne Ur­sa­che, son­dern eine Wir­kung. Die Moral folgt, das Ide­al kommt am Ende.

– And­rer­seits ver­räth das Auf­tre­ten der mo­ra­li­schen Skru­pel (an­ders aus­ge­drückt: das Be­wußt­wer­den der Wert­he, nach de­nen man han­delt) eine ge­wis­se Krank­haf­tig­keit; star­ke Zei­ten und Völ­ker re­flek­ti­ren nicht über ihr Recht, über Prin­ci­pi­en zu han­deln, über In­stinkt und Ver­nunft. Das Be­wußt­wer­den ist ein Zei­chen da­von, daß die ei­gent­li­che Mora­li­tät, d. h. In­stinkt-Ge­wiß­heit des Han­delns, zum Teu­fel geht… Die Mora­lis­ten sind, wie je­des Mal, daß eine neue Be­wußt­seins-Welt ge­schaf­fen wird, Zei­chen ei­ner Schä­di­gung, Ver­ar­mung, Des­or­ga­ni­sa­ti­on. – Die Tief-In­stink­ti­ven ha­ben eine Scheu vor dem Lo­gi­si­ren der Pf­lich­ten: un­ter ih­nen fin­det man pyr­rho­nis­ti­sche Geg­ner der Dia­lek­tik und der Er­kenn­bar­keit über­haup­t… Eine Tu­gend wird mit »um« wi­der­leg­t…

The­sis: das Auf­tre­ten der Mora­lis­ten ge­hört in die Zei­ten, wo es zu Ende geht mit der Mora­li­tät.

The­sis: der Mora­list ist ein Auf­lö­ser der mo­ra­li­schen In­stink­te, so sehr er de­ren Wie­der­her­stel­ler zu sein glaubt.

The­sis: Das, was den Mora­lis­ten that­säch­lich treibt, sind nicht mo­ra­li­sche In­stink­te, son­dern die In­stink­te der dé­ca­dence, über­setzt in die For­meln der Moral (– er emp­fin­det das Un­si­cher­wer­den der In­stink­te als Cor­rup­ti­on).

The­sis: die In­stink­te der dé­ca­dence, die durch die Mora­lis­ten über die In­stinkt-Moral star­ker Ras­sen und Zei­ten Herr wer­den wol­len, sind

1. die In­stink­te der Schwa­chen und Schlecht­weg­ge­kom­me­nen;

2. die In­stink­te der Aus­nah­men, der So­li­tär­en, der Aus­ge­lös­ten, des ab­or­tus im Ho­hen und Ge­rin­gen;