Friedrich Wilhelm Nietzsche – Gesammelte Werke

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Pyr­rho, gleich Epi­kur, zwei For­men der grie­chi­schen dé­ca­dence: ver­wandt, im Haß ge­gen die Dia­lek­tik und ge­gen alle schau­spie­le­ri­schen Tu­gen­den – Bei­des zu­sam­men hieß da­mals Phi­lo­so­phie –; ab­sicht­lich Das, was sie lie­ben, nied­rig ach­tend; die ge­wöhn­li­chen, selbst ver­ach­te­ten Na­men da­für wäh­lend; einen Zu­stand dar­stel­lend, wo man we­der krank, noch ge­sund, noch le­ben­dig, noch todt ist … Epi­kur nai­ver, idyl­li­scher, dank­ba­rer; Pyr­rho ge­reif­ter, ver­leb­ter, ni­hi­lis­ti­scher … Sein Le­ben war ein Pro­test ge­gen die große I­den­ti­täts­leh­re (Glück – Tu­gend – Er­kennt­niß). Das rech­te Le­ben för­dert man nicht durch Wis­sen­schaft: Weis­heit macht nicht »wei­se« … Das rech­te Le­ben will nicht Glück, sieht ab von Glück …

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438.

Der Kampf ge­gen den »al­ten Glau­ben«, wie ihn Epi­kur un­ter­nahm, war, im stren­gen Sin­ne, der Kampf ge­gen das prä­exis­ten­te Chris­tent­hum, – der Kampf ge­gen die be­reits ver­düs­ter­te, ver­mo­ra­li­sir­te, mit Schuld­ge­füh­len durch­säu­er­te, alt und trank ge­wor­de­ne alte Welt.

Nicht die »Sit­ten­ver­derb­niß« des Al­ter­thums, son­dern ge­ra­de sei­ne Ver­mo­ra­li­si­rung ist die Voraus­set­zung, un­ter der al­lein das Chris­tent­hum über das­sel­be Herr wer­den konn­te. Der Moral-Fa­na­tis­mus (kurz: Pla­to) hat das Hei­dent­hum zer­stört, in­dem er sei­ne Wert­he um­wert­he­te und sei­ner Un­schuld Gift zu trin­ken gab. – Wir soll­ten end­lich be­grei­fen, daß, was da zer­stört wur­de, das Hö­he­re war, im Ver­gleich mit Dem, was Herr wur­de! – Das Chris­tent­hum ist aus der psy­cho­lo­gi­schen Ver­derb­nis; ge­wach­sen, hat nur auf ver­derb­tem Bo­den Wur­zel ge­faßt.

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439.

Wis­sen­schaft­lich­keit: als Dres­sur oder als In­stink­t. – Bei den grie­chi­schen Phi­lo­so­phen sehe ich einen Nie­der­gang der In­stink­te: sonst hät­ten sie nicht der­maa­ßen fehl­grei­fen kön­nen, den be­wuß­ten Zu­stand als den wert­h­vol­le­ren an­zu­set­zen. Die In­ten­si­tät des Be­wußt­seins steht im um­ge­kehr­ten Ver­hält­niß zur Leich­tig­keit und Schnel­lig­keit der ce­re­bra­len Über­mit­te­lung. Dort re­gier­te die um­ge­kehr­te Mei­nung über den In­stinkt: was im­mer das Zei­chen ge­schwäch­ter In­stink­te ist.

Wir müs­sen in der That das voll­kom­me­ne Le­ben dort su­chen, wo es am we­nigs­ten mehr be­wußt wird (d. h. sei­ne Lo­gik, sei­ne Grün­de, sei­ne Mit­tel und Ab­sich­ten, sei­ne Nütz­lich­keit sich vor­führt). Die Rück­kehr zur That­sa­che des bon sens, des bon hom­me, der »klei­nen Leu­te« al­ler Art. Ein­ma­ga­zi­nir­te Recht­schaf­fen­heit und Klug­heit seit Ge­schlech­tern, die sich nie­mals ih­rer Prin­ci­pi­en be­wußt wird und selbst einen klei­nen Schau­der vor Prin­ci­pi­en hat. Das Ver­lan­gen nach ei­ner rai­son­nie­ren­den Tu­gen­d ist nicht rai­sonnabel … Ein Phi­lo­soph ist mit ei­nem sol­chen Ver­lan­gen com­pro­mit­tirt.

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440.

Wenn durch Übung in ei­ner gan­zen Rei­he von Ge­schlech­tern die Moral gleich­sam ein­ma­ga­zi­nirt wor­den ist – also die Fein­heit, die Vor­sicht, die Tap­fer­keit, die Bil­lig­keit –, so strahlt die Ge­sammt­kraft die­ser auf­ge­häuf­ten Tu­gend selbst noch in die Sphä­re aus, wo die Recht­schaf­fen­heit am sel­tens­ten, in die geis­ti­ge Sphä­re. In al­lem Be­wußt­wer­den drückt sich ein Un­be­ha­gen des Or­ga­nis­mus aus; es soll et­was Neu­es ver­sucht wer­den, es ist Nichts ge­nü­gend zu­recht da­für, es giebt Müh­sal, Span­nung, Über­reiz, – das Al­les ist eben Be­wußt­wer­den … Das Ge­nie sitzt im In­stinkt, die Güte eben­falls. Man han­delt nur voll­kom­men, so­fern man in­stink­tiv han­delt. Auch mo­ra­lisch be­trach­tet ist al­les Den­ken, das be­wußt ver­läuft, eine blo­ße Ten­ta­ti­ve, zu­meist das Wi­der­spiel der Moral. Die wis­sen­schaft­li­che Recht­schaf­fen­heit ist im­mer aus­ge­hängt, wenn der Den­ker an­fängt zu rai­son­ni­ren: man ma­che die Pro­be, man lege die Wei­ses­ten auf die Gold­wa­ge, in­dem man sie Moral re­den macht …

Das läßt sich be­wei­sen, daß al­les Den­ken, das be­wußt ver­läuft, auch einen viel nied­ri­ge­ren Grad von Mora­li­tät dar­stel­len wird, als das Den­ken des­sel­ben, so­fern es von sei­nen In­stink­ten ge­führt wird,

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441.

Der Kampf ge­gen So­kra­tes, Pla­to, die sämmt­li­chen so­kra­ti­schen Schu­len geht von dem tie­fen In­stinkt aus, daß man den Men­schen nicht bes­ser macht, wenn man ihm die Tu­gend als be­weis­bar, als grün­de­for­dernd dar­stellt … Zu­letzt ist es die mes­qui­ne That­sa­che, daß der ago­na­le In­stinkt alle die­se ge­bor­nen Dia­lek­ti­ker dazu zwang, ihre Per­so­nal-Fä­hig­keit als obers­te Ei­gen­schaft zu ver­herr­li­chen und al­les üb­ri­ge Gute als be­dingt durch sie dar­zu­stel­len. Der an­ti­wis­sen­schaft­li­che Geist die­ser gan­zen »Phi­lo­so­phie«: sie will Recht be­hal­ten.

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442.

Das ist au­ßer­or­dent­lich. Wir fin­den von An­fang der grie­chi­schen Phi­lo­so­phie an einen Kampf ge­gen die Wis­sen­schaft, mit den Mit­teln ei­ner Er­kennt­niß­theo­rie, resp. Skep­sis: und wozu? Im­mer zu Guns­ten der Moral … (Der Haß ge­gen die Phy­si­ker und Ärz­te.) So­kra­tes, Aris­tipp, die Me­ga­ri­ker, die Cy­ni­ker, Epi­kur, Pyr­rho – Ge­ne­ral-An­sturm ge­gen die Er­kennt­niß zu Guns­ten der Moral … (Haß auch ge­gen die Dia­lek­tik.) Es bleibt ein Pro­blem: sie nä­hern sich der So­phis­tik, um die Wis­sen­schaft los­zu­wer­den. An­de­rer­seits sind die Phy­si­ker alle so weit un­ter­jocht, um das Sche­ma der Wahr­heit, des wah­ren Seins in ihre Fun­da­men­te auf­zu­neh­men: z. B. das Atom, die vier Ele­men­te ( Jux­ta-Po­si­tion des Sei­en­den, um die Viel­heit und Ver­än­de­rung zu er­klä­ren –). Ver­ach­tung ge­lehrt ge­gen die Ob­jek­ti­vi­tät des In­ter­es­ses: Rück­kehr zu dem prak­ti­schen In­ter­es­se, zur Per­so­nal-Nütz­lich­keit al­ler Er­kennt­niß …

Der Kampf ge­gen die Wis­sen­schaft rich­tet sich ge­gen 1) de­ren Pa­thos (Ob­jek­ti­vi­tät), 2) de­ren Mit­tel (d. h. ge­gen de­ren Nütz­lich­keit), 3) de­ren Re­sul­ta­te (als kin­disch).

Es ist der­sel­be Kampf, der spä­ter wie­der von Sei­ten der Kir­che, im Na­men der Fröm­mig­keit, ge­führt wird: sie erbt das gan­ze an­ti­ke Rüst­zeug zum Kamp­fe. Die Er­kennt­niß­theo­rie spielt da­bei die­sel­be Rol­le wie bei Kant, wie bei den In­dern … Man will sich nicht dar­um zu be­küm­mern ha­ben: man will freie Hand be­hal­ten für sei­nen »Weg«.

Wo­ge­gen weh­ren sie sich ei­gent­lich? Ge­gen die Ver­bind­lich­keit, ge­gen die Ge­setz­lich­keit, ge­gen die Nö­thi­gung Hand in Hand zu gehn –: ich glau­be, man nennt das Frei­heit

Da­rin drückt sich die dé­ca­dence aus: der In­stinkt der So­li­da­ri­tät ist so ent­ar­tet, daß die So­li­da­ri­tät als Ty­ran­nei emp­fun­den wird: sie wol­len kei­ne Au­to­ri­tät, kei­ne So­li­da­ri­tät, kei­ne Ei­n­ord­nung in Reih und Glied zu un­ed­ler Lang­sam­keit der Be­we­gung. Sie has­sen das Schritt­wei­se, das Tem­po der Wis­sen­schaft, sie has­sen das Nicht-an­lan­gen-wol­len, den lan­gen Athem, die Per­so­nal-In­dif­fe­renz des wis­sen­schaft­li­chen Men­schen.

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443.

Im Grun­de ist die Moral ge­gen die Wis­sen­schaft feind­lich ge­sinnt: schon So­kra­tes war dies – und zwar des­halb, weil die Wis­sen­schaft Din­ge als wich­tig nimmt, wel­che mit »gut« und »böse« Nichts zu schaf­fen ha­ben, folg­lich dem Ge­fühl für »gut« und »böse« Ge­wicht neh­men. Die Moral näm­lich will, daß ihr der gan­ze Mensch und sei­ne ge­sam­te Kraft zu Diens­ten sei: sie hält es für die Ver­schwen­dung ei­nes Sol­chen, der zum Ver­schwen­den nicht reich ge­nug ist, wenn der Mensch sich ernst­lich um Pflan­zen und Ster­ne küm­mert. Des­halb gieng in Grie­chen­land, als So­kra­tes die Krank­heit des Mora­li­si­rens in die Wis­sen­schaft ein­ge­schleppt hat­te, es ge­schwin­de mit der Wis­sen­schaft­lich­keit ab­wärts; eine Höhe, wie die in der Ge­sin­nung ei­nes De­mo­krit, Hip­po­kra­tes und Thu­ky­di­des, ist nicht zum zwei­ten Male er­reicht wor­den.

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444.

Pro­blem des Phi­lo­so­phen und des wis­sen­schaft­li­chen Men­schen. – Ein­fluß des Al­ters; de­pres­si­ve Ge­wohn­hei­ten (Stu­ben­ho­cken à la Kant; Über­ar­bei­tung; un­zu­rei­chen­de Er­näh­rung des Ge­hirns; Le­sen). We­sent­li­cher: ob nicht ein dé­ca­dence-Sym­ptom schon in der Rich­tung aus sol­che All­ge­mein­heit ge­ge­ben ist; Ob­jek­ti­vi­tät als Wil­lens-Dis­gre­ga­tion (– so fern blei­ben kön­nen …). Dies setzt eine große Adia­pho­rie ge­gen die star­ken Trie­be vor­aus: eine Art Iso­la­ti­on, Aus­nah­me­stel­lung, Wi­der­stand ge­gen die Nor­mal-Trie­be.

Ty­pus: die Los­lö­sung von der Hei­mat; in im­mer wei­te­re Krei­se; der wach­sen­de Exo­tis­mus; das Stumm­wer­den der al­ten Im­pe­ra­ti­ve – –; gar die­ses be­stän­di­ge Fra­gen »wo­hin?« (»Glück«) ist ein Zei­chen der Heraus­lö­sung aus Or­ga­ni­sa­ti­ons­for­men, Her­aus­bruch.

Pro­blem: ob der wis­sen­schaft­li­che Mensch eher noch ein dé­ca­dence-Sym­ptom ist, als der Phi­lo­soph: – er ist als Gan­zes nicht los­ge­löst, nur ein Theil von ihm ist ab­so­lut der Er­kennt­nis ge­weiht, dres­sirt für eine Ecke und Op­tik –, er hat hier al­le Tu­gen­den ei­ner star­ken Ras­se und Ge­sund­heit nö­thig, große Stren­ge, Männ­lich­keit, Klug­heit. Er ist mehr ein Sym­ptom ho­her Viel­fach­heit der Cul­tur, als von de­ren Mü­dig­keit. Der dé­ca­dence-Ge­lehr­te ist ein schlech­ter Ge­lehr­ter. Wäh­rend der dé­ca­dence-Phi­lo­soph, bis­her we­nigs­tens, als der ty­pi­sche Phi­lo­so­ph galt.

 

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445.

Nichts ist selt­ner un­ter den Phi­lo­so­phen als in­tel­lek­tu­el­le Recht­schaf­fen­heit: viel­leicht sa­gen sie das Ge­gent­heil, viel­leicht glau­ben sie es selbst. Aber ihr gan­zes Hand­werk bringt es mit sich, daß sie nur ge­wis­se Wahr­hei­ten zu­las­sen; sie wis­sen, was sie be­wei­sen müs­sen, sie er­ken­nen sich bei­na­he dar­an als Phi­lo­so­phen, daß sie über die­se »Wahr­hei­ten« ei­nig sind. Da sind z. B. die mo­ra­li­schen Wahr­hei­ten. Aber der Glau­be an Moral ist noch kein Be­weis von Mora­li­tät: es giebt Fäl­le – und der Fall der Phi­lo­so­phen ge­hört hier­her–, wo ein sol­cher Glau­be ein­fach eine Un­mo­ra­li­tät ist.

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446.

Was ist denn am Phi­lo­so­phen rück­stän­dig? – Daß er sei­ne Qua­li­tä­ten als nothwen­di­ge und ein­zi­ge Qua­li­tä­ten lehrt, um zum »höchs­ten Gut« zu ge­lan­gen (z. B. Dia­lek­tik, wie Pla­to). Daß er alle Ar­ten Mensch gra­da­tim auf­stei­gen läßt zu sei­nem Ty­pus als dem höchs­ten. Daß er ge­ring­schätzt, was sonst ge­schätzt wird, – daß er eine Kluft auf­rei­ßt zwi­schen den obers­ten pries­ter­li­chen Wert­hen und den welt­li­chen. Daß er weiß, was wahr ist, was Gott ist, was das Ziel ist, was der Weg ist … Der ty­pi­sche Phi­lo­soph ist hier ab­so­lut Dog­ma­ti­ker; – wenn er Skep­sis nö­thig hat, so ist es, um von sei­ner Haupt­sa­che dog­ma­tisch re­den zu dür­fen,

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447.

Der Phi­lo­soph ge­gen die Ri­va­len, z. B. ge­gen die Wis­sen­schaft: da wird er Skep­ti­ker; da be­hält er sich eine Form der Er­kennt­niß vor, die er dem wis­sen­schaft­li­chen Men­schen ab­strei­tet; da geht er mit dem Pries­ter Hand in Hand, um nicht den Ver­dacht des Athe­is­mus, Ma­te­ria­lis­mus zu er­re­gen; er be­trach­tet einen An­griff auf sich als einen An­griff auf die Moral, die Tu­gend, die Re­li­gi­on, die Ord­nung, – er weiß sei­ne Geg­ner als »Ver­füh­rer« und »Un­ter­mi­ni­rer« in Ver­ruf zu brin­gen: da geht er mit der Macht Hand in Hand.

Der Phi­lo­soph im Kampf mit an­dern Phi­lo­so­phen: – er sucht sie da­hin zu drän­gen, als An­ar­chis­ten, Ungläu­bi­ge, Geg­ner der Au­to­ri­tät zu er­schei­nen. In sum­ma: so­weit er kämpft, kämpft er ganz wie ein Pries­ter, wie eine Pries­ter­schaft.

3. Wahrheit und Irrthum der Philosophen.

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448.

Phi­lo­so­phie von Kant de­fi­nirt als »Wis­sen­schaft von den Gren­zen der Ver­nunft«!!

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449.

Phi­lo­so­phie als die Kunst, die Wahr­heit zu ent­de­cken: so nach Ari­sto­te­les. Da­ge­gen die Epi­ku­re­er, die sich die sen­sua­lis­ti­sche Theo­rie der Er­kennt­niß des Ari­sto­te­les zu Nut­ze mach­ten: ge­gen das Su­chen der Wahr­heit ganz iro­nisch und ab­leh­nend; »Phi­lo­so­phie als eine Kunst des Le­bens«.

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450.

Die drei großen Nai­ve­tä­ten:

Er­kennt­niß als Mit­tel zum Glück (als ob …), als Mit­tel zur Tu­gend (als ob …),

als Mit­tel zur »Ver­nei­nung des Le­bens«, – in­so­fern sie ein Mit­tel zur Ent­täu­schung ist – (als ob …)

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451.

Daß es eine »Wahr­heit« gebe, der man sich ir­gend­wie nä­hern kön­ne –!

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452.

Der Irr­thum und die Un­wis­sen­heit sind ver­häng­niß­voll, – Die Be­haup­tung, daß die Wahr­heit da sei und daß es ein Ende habe mit der Un­wis­sen­heit und dem Irr­thum, ist eine der größ­ten Ver­füh­run­gen, die es giebt. Ge­setzt, sie wird ge­glaubt, so ist da­mit der Wil­le zur Prü­fung, For­schung, Vor­sicht, Ver­su­chung lahm ge­legt: er kann selbst als fre­vel­haft, näm­lich als Zwei­fel an der Wahr­heit gel­ten … Die »Wahr­heit« ist folg­lich ver­häng­niß­vol­ler als der Irr­thum und die Un­wis­sen­heit, weil sie die Kräf­te un­ter­bin­det, mit de­nen an der Auf­klä­rung und Er­kennt­niß ge­ar­bei­tet wird. Der Af­fekt der Faul­heit nimmt jetzt Par­tei für die »Wahr­heit« – (»Den­ken ist eine Noth, ein Elend!«); ins­glei­chen die Ord­nung, die Re­gel, das Glück des Be­sit­zes, der Stolz der Weis­heit, – die Ei­tel­keit in sum­ma: – es ist be­que­mer zu ge­hor­chen, als zu prü­fen; es ist schmei­chel­haf­ter, zu den­ken »ich habe die Wahr­heit«, als um sich her­um nur Dun­kel zu sehn… vor Al­lem: es be­ru­higt, es giebt Ver­trau­en, es er­leich­tert das Le­ben, – es »ver­bes­sert« den Cha­rak­ter, in­so­fern es das Miß­trau­en ver­rin­gert. Der »Frie­den der See­le«, die »Ruhe des Ge­wis­sens«: al­les Er­fin­dun­gen, die nur un­ter der Voraus­set­zung mög­lich sind, daß die Wahr­heit da ist. – »An ih­ren Früch­ten sollt ihr sie er­ken­nen« … Die »Wahr­heit« ist Wahr­heit, denn sie macht die Men­schen bes­ser… Der Pro­ceß setzt sich fort: al­les Gute, al­len Er­folg, der »Wahr­heit« auf­’s Con­to zu set­zen.

Das ist der Be­weis der Kraft: das Glück, die Zufrie­den­heit, der Wohl­stand des Ge­mein­we­sens wie des Ein­zel­nen wer­den nun­mehr als Fol­ge des Glau­bens an die Moral ver­stan­den… Die Um­keh­rung: der schlim­me Er­folg ist aus dem Man­gel an Glau­ben ab­zu­lei­ten –.

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453.

Die Ur­sa­chen des Irr­thums lie­gen eben­so­sehr im gu­ten Wil­len des Men­schen als im schlech­ten –: er ver­birgt sich in tau­send Fäl­len die Rea­li­tät, er fälscht sie, um an sei­nem gu­ten oder schlech­ten Wil­len nicht zu lei­den. Gott z. B. als Len­ker des mensch­li­chen Schick­sals: oder die Aus­le­gung sei­nes klei­nen Ge­schicks, wie als ob Al­les zum Heil der See­le ge­schickt und aus­ge­dacht sei, – die­ser Man­gel an »Phi­lo­lo­gie«, der ei­nem fei­nern In­tel­lekt als Unsau­ber­keit und Falsch­mün­ze­rei gel­ten muß, wird durch­schnitt­lich un­ter der In­spi­ra­ti­on des gu­ten Wil­lens ge­macht. Der gute Wil­le, die »ed­len Ge­füh­le«, die »ho­hen Zu­stän­de« sind in ih­ren Mit­teln eben­sol­che Falsch­mün­zer und Be­trü­ger als die mo­ra­lisch ab­ge­lehn­ten und egois­tisch ge­nann­ten Af­fek­te Lie­be, Haß, Ra­che,

Die Irr­t­hü­mer sind Das, was die Mensch­heit am kost­spie­ligs­ten zu be­zah­len hat: und in’s Gro­ße ge­rech­net sind es die Irr­t­hü­mer des »gu­ten Wil­lens«, die sie am tiefs­ten ge­schä­digt ha­ben. Der Wahn, der glück­lich macht, ist ver­derb­li­cher als der, wel­cher di­rekt schlimmst Fol­gen hat: letz­te­rer schärft, macht miß­trau­isch, rei­nigt die Ver­nunft, – ers­te­rer schlä­fert sie ein …

Die schö­nen Ge­füh­le, die er­ha­be­nen Wal­lun­gen ge­hö­ren, phy­sio­lo­gisch ge­re­det, un­ter die nar­ko­ti­schen Mit­tel: ihr Miß­brauch hat ganz die­sel­be Fol­ge wie der Miß­brauch ei­nes an­dern Opi­ums, – die Ner­ven­schwä­che

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454.

Der Irr­thum ist der kost­spie­ligs­te Lu­xus, den sich der Mensch ge­stat­ten kann: und wenn der Irr­thum gar ein phy­sio­lo­gi­scher Irr­thum ist, dann wird er le­bens­ge­fähr­lich. Wo­für hat folg­lich die Mensch­heit bis­her am meis­ten ge­zahlt, am schlimms­ten ge­büßt? Für ihre »Wahr­hei­ten«: denn die­sel­ben wa­ren al­le­sammt Irr­t­hü­mer in phy­sio­lo­gi­cis

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455.

Die psy­cho­lo­gi­schen Ver­wechs­lun­gen: – das Ver­lan­gen nach Glau­ben – ver­wech­selt mit dem »Wil­len zur Wahr­heit« (z. B. bei Car­ly­le). Aber eben­so ist das Ver­lan­gen nach Un­glau­ben ver­wech­selt wor­den mit dem »Wil­len zur Wahr­heit« (– ein Be­dürf­niß, los­zu­kom­men von ei­nem Glau­ben, aus hun­dert Grün­den: Recht zu be­kom­men ge­gen ir­gend wel­che »Gläu­bi­gen«). Was in­spir­irt die Skep­ti­ker? Der Haß ge­gen die Dog­ma­ti­ker – oder ein Ruhe-Be­dürf­niß, eine Mü­dig­keit, wie bei Pyr­rho.

Die Vort­hei­le, wel­che man von der Wahr­heit er­war­te­te, wa­ren die Vort­hei­le des Glau­bens an sie: – an sich näm­lich könn­te ja die Wahr­heit durch­aus pein­lich, schäd­lich, ver­häng­niß­voll sein –. Man hat die »Wahr­heit« auch nur wie­der be­kämpft, als man Vort­hei­le sich vom Sie­ge ver­sprach, – z. B. Frei­heit von den herr­schen­den Ge­wal­ten.

Die Metho­dik der Wahr­heit ist nicht aus Mo­ti­ven der Wahr­heit ge­fun­den wor­den, son­dern aus Mo­ti­ven der Macht, des Über­le­gen-sein-wol­lens.

Wo­mit be­weist sich die Wahr­heit? Mit dem Ge­fühl der er­höh­ten Macht, – mit der Nütz­lich­keit, – mit der Unent­behr­lich­keit, – kurz mit Vort­hei­len (näm­lich Voraus­set­zun­gen, wel­cher Art die Wahr­heit be­schaf­fen sein soll­te, um von uns an­er­kannt zu wer­den). Aber das ist ein Vor­urt­heil: ein Zei­chen, daß es sich gar nicht um Wahr­heit han­delt …

Was be­deu­tet z. B. der »Wil­le zur Wahr­heit« bei den Gon­courts? bei den Na­tu­ra­lis­ten? – Kri­tik der »Ob­jek­ti­vi­tät«.

Wa­rum er­ken­nen: warum nicht lie­ber sich täu­schen? … Was man woll­te, war im­mer der Glau­be, – und nicht die Wahr­heit … Der Glau­be wird durch ent­ge­gen­ge­setz­te Mit­tel ge­schaf­fen als die Metho­dik der For­schung –: er schließt letz­te­re selbst aus –.

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456.

Ein ge­wis­ser Grad von Glau­be ge­nügt uns heu­te als Ein­wan­d ge­gen das Ge­glaub­te, – noch mehr als Fra­ge­zei­chen an der geis­ti­gen Ge­sund­heit des Gläu­bi­gen.

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457.

Mär­ty­rer. – Al­les, was auf Ehr­furcht sich grün­det, be­darf, um be­kämpft zu wer­den, sei­tens der An­grei­fen­den eine ge­wis­se ver­we­ge­ne, rück­sichts­lo­se, selbst scham­lo­se Ge­sin­nung… Er­wägt man nun, daß die Mensch­heit seit Jahr­tau­sen­den nur Irr­t­hü­mer als Wahr­hei­ten ge­hei­ligt hat, daß sie selbst jede Kri­tik der­sel­ben als Zei­chen der schlech­ten Ge­sin­nung brand­mark­te, so muß man mit Be­dau­ern sich ein­ge­stehn, daß eine gute An­zahl Im­mo­ra­li­tä­ten nö­thig war, um die Ini­tia­ti­ve zum An­griff, will sa­gen zur Ver­nunft zu ge­ben … Daß die­se Im­mo­ra­lis­ten sich selbst im­mer als »Mär­ty­rer der Wahr­heit« auf­ge­spielt ha­ben, soll ih­nen ver­zie­hen sein: die Wahr­heit ist, daß nicht der Trieb zur Wahr­heit, son­dern die Auf­lö­sung, die fre­vel­haf­te Skep­sis, die Lust am Aben­teu­er der Trieb war, aus dem sie ne­gir­ten –. Im an­dern Fal­le sind es per­sön­li­che Ran­cu­nen, die sie in’s Ge­biet der Pro­ble­me trei­ben, – sie kämp­fen ge­gen Pro­ble­me, um ge­gen Per­so­nen Recht zu be­hal­ten. Vor Al­lem aber ist es die Ra­che, wel­che wis­sen­schaft­lich nutz­bar ge­wor­den ist, – die Ra­che Un­ter­drück­ter, Sol­cher, die durch die herr­schen­de Wahr­heit bei Sei­te ge­drängt und selbst un­ter­drückt wa­ren …

Die Wahr­heit, will sa­gen die wis­sen­schaft­li­che Metho­dik, ist von Sol­chen er­faßt und ge­för­dert wor­den, die in ihr ein Werk­zeug des Kamp­fes er­rie­then, – eine Waf­fe zur Ver­nich­tung … Um ihre Geg­ner­schaft zu Ehren zu brin­gen, brauch­ten sie im Üb­ri­gen einen Ap­pa­rat nach Art De­rer, die sie an­grif­fen: – sie af­fi­chir­ten den Be­griff »Wahr­heit« ganz so un­be­dingt wie ihre Geg­ner, – sie wur­den Fa­na­ti­ker, zum Min­des­ten in der At­ti­tü­de, weil kei­ne and­re At­ti­tü­de ernst ge­nom­men wur­de. Das Üb­ri­ge that dann die Ver­fol­gung, die Lei­den­schaft und Un­si­cher­heit des Ver­folg­ten, – der Haß wuchs und folg­lich nahm die Voraus­set­zung ab, um auf dem Bo­den der Wis­sen­schaft zu blei­ben. Sie woll­ten zu­letzt al­le­sammt auf eine eben­so ab­sur­de Wei­se Recht ha­ben wie ihre Geg­ner … Das Wort »Über­zeu­gung«, »Glau­be«, der Stolz des Mär­ty­rer­thums – das sind Al­les die un­güns­tigs­ten Zu­stän­de für die Er­kennt­niß. Die Geg­ner der Wahr­heit ha­ben zu­letzt die gan­ze sub­jek­ti­ve Ma­nier, um über Wahr­heit zu ent­schei­den, näm­lich mit At­ti­tü­den, Op­fern, he­ro­i­schen Ent­schlie­ßun­gen, von selbst wie­der ac­cep­tirt, – d. h, die Herr­schaft der an­ti­wis­sen­schaft­li­chen Metho­de ver­län­ger­t. Als Mär­ty­rer com­pro­mit­tir­ten sie ihre ei­ge­ne That.

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458.

Ge­fähr­li­che Un­ter­schei­dung zwi­schen »theo­re­tisch« und »prak­tisch« z. B. bei Kant, aber auch bei den Al­ten: – sie thun, als ob die rei­ne Geis­tig­keit ih­nen die Pro­ble­me der Er­kennt­niß und Me­ta­phy­sik vor­le­ge; – sie thun, als ob, wie auch die Ant­wort der Theo­rie aus­fal­le, die Pra­xis nach ei­ge­nem Wert­h­maaß zu be­urt­hei­len sei.

 

Ge­gen das Ers­te rich­te ich mei­ne P­sy­cho­lo­gie der Phi­lo­so­phen: ihr ent­frem­dets­ter Cal­cul und ihre »Geis­tig­keit« blei­ben im­mer nur der letz­te blas­ses­te Ab­druck ei­ner phy­sio­lo­gi­schen That­sa­che; es fehlt ab­so­lut die Frei­wil­lig­keit dar­in, Al­les ist In­stinkt, Al­les ist von vorn­her­ein in be­stimm­te Bah­nen ge­lenkt …

Ge­gen das Zwei­te fra­ge ich, ob wir eine an­de­re Metho­de ken­nen, um gut zu han­deln, als: gut zu den­ken; Letz­te­res ist ein Han­deln, und Ers­te­res setzt Den­ken vor­aus. Ha­ben wir ein Ver­mö­gen, den Werth ei­ner Le­bens­wei­se an­ders­wie zu be­urt­hei­len, als den Werth ei­ner Theo­rie: durch In­duk­ti­on, durch Ver­glei­chung?… Die Nai­ven glau­ben, hier wä­ren wir bes­ser dar­an, hier wüß­ten wir, was »gut« ist, – die Phi­lo­so­phen re­den’s nach. Wir schlie­ßen, daß hier ein Glau­be vor­han­den ist, wei­ter Nichts …

»Man muß han­deln; folg­lich be­darf es ei­ner Richt­schnur« – sag­ten selbst die an­ti­ken Skep­ti­ker. Die Dring­lich­keit ei­ner Ent­schei­dung als Ar­gu­ment, ir­gend Et­was hier für wahr zu hal­ten!…

»Man muß nicht han­deln« – sag­ten ihre con­se­quen­te­ren Brü­der, die Bud­dhis­ten, und er­san­nen eine Richt­schnur, wie man sich los­ma­che vom Han­deln …

Sich ein­ord­nen, le­ben wie der »ge­mei­ne Mann« lebt, für recht und gut hal­ten was er für recht hält: das ist die Un­ter­wer­fung un­ter den He­er­den­in­stinkt. Man muß sei­nen Muth und sei­ne Stren­ge so weit trei­ben, eine sol­che Un­ter­wer­fung wie eine Scham zu emp­fin­den. Nicht mit zwei­er­lei Maaß le­ben!… Nicht Theo­rie und Pra­xis tren­nen!…

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459.

Daß Nichts von Dem wahr ist, was ehe­mals als wahr galt –. Was als un­hei­lig, ver­bo­ten, ver­ächt­lich, ver­häng­niß­voll ehe­mals ver­ach­tet wur­de –: alle die­se Blu­men wach­sen heut am lieb­li­chen Pfa­de der Wahr­heit.

Die­se gan­ze alte Moral geht uns Nichts mehr an: es ist kein Be­griff dar­in, der noch Ach­tung ver­dien­te. Wir ha­ben sie über­lebt, – wir sind nicht mehr grob und naiv ge­nug, um in die­ser Wei­se uns be­lü­gen las­sen zu müs­sen … Ar­ti­ger ge­sagt: wir sind zu tu­gend­haft dazu … Und wenn Wahr­heit im al­ten Sin­ne nur des­halb »Wahr­heit« war, weil die alte Moral zu ihr Ja sag­te, Ja sa­gen durf­te: so folgt dar­aus, daß wir auch kei­ne Wahr­heit von Ehe­dem mehr nö­thig ha­ben … Un­ser Kri­te­ri­um der Wahr­heit ist durch­aus nicht die Mora­li­tät: wir wi­der­le­gen eine Be­haup­tung da­mit, daß wir sie als ab­hän­gig von der Moral, als in­spir­irt durch edle Ge­füh­le be­wei­sen.

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460.

Alle die­se Wert­he sind em­pi­risch und be­dingt. Aber Der, der an sie glaubt, der sie ver­ehrt, will eben die­sen Cha­rak­ter nicht an­er­ken­nen. Die Phi­lo­so­phen glau­ben al­le­sammt an die­se Wert­he, und eine Form ih­rer Ver­eh­rung war die Be­mü­hung, aus ih­nen a prio­ri-Wahr­hei­ten zu ma­chen. Fäl­schen­der Cha­rak­ter der Ver­eh­rung

Die Ver­eh­rung ist die hohe Pro­be der in­tel­lek­tu­el­len Recht­schaf­fen­heit: aber es gieb­t in der gan­zen Ge­schich­te der Phi­lo­so­phie kei­ne in­tel­lek­tu­el­le Recht­schaf­fen­heit, – son­dern die »Lie­be zum Gu­ten« …

Der ab­so­lu­te Man­gel an Metho­de, um den Werth die­ser Wert­he zu prü­fen; zwei­tens: die Ab­nei­gung, die­se Wert­he zu prü­fen, über­haupt sie be­dingt zu neh­men. – Bei den Moral-Wert­hen ka­men alle an­ti­wis­sen­schaft­li­chen In­stink­te zu­sam­men in Be­tracht, um hier die Wis­sen­schaft aus­zu­schlie­ßen

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