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Jenseits von Gut und Böse

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Viertes Hauptstück:
prüche und Zwischenspiele

63

Wer von Grund aus Lehrer ist, nimmt alle Dinge nur in Bezug auf seine Schüler ernst, – sogar sich selbst.

64

"Die Erkenntniss um ihrer selbst willen" – das ist der letzte Fallstrick, den die Moral legt: damit verwickelt man sich noch einmal völlig in sie.

65

Der Reiz der Erkenntniss wäre gering, wenn nicht auf dem Wege zu ihr so viel Scham zu überwinden wäre.

65 a

Man ist am unehrlichsten gegen seinen Gott: er darf nicht sündigen!

66

Die Neigung, sich herabzusetzen, sich bestehlen, belügen und ausbeuten zu lassen, könnte die Scham eines Gottes unter Menschen sein.

67

Die Liebe zu Einem ist eine Barbarei: denn sie wird auf Unkosten aller Übrigen ausgeübt. Auch die Liebe zu Gott.

68

"Das habe ich gethan" sagt mein Gedächtniss. Das kann ich nicht gethan haben – sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich – giebt das Gedächtniss nach.

69

Man hat schlecht dem Leben zugeschaut, wenn man nicht auch die Hand gesehn hat, die auf eine schonende Weise – tödtet.

70

Hat man Charakter, so hat man auch sein typisches Erlebniss, das immer wiederkommt.

71

Der Weise als Astronom. – So lange du noch die Sterne fühlst als ein "Über-dir", fehlt dir noch der Blick des Erkennenden.

72

Nicht die Stärke, sondern die Dauer der hohen Empfindung macht die hohen Menschen.

73

Wer sein Ideal erreicht, kommt eben damit über dasselbe hinaus.

73 a

Mancher Pfau verdeckt vor Aller Augen seinen Pfauenschweif – und heisst es seinen Stolz.

74

Ein Mensch mit Genie ist unausstehlich, wenn er nicht mindestens noch zweierlei dazu besitzt: Dankbarkeit und Reinlichkeit.

75

Grad und Art der Geschlechtlichkeit eines Menschen reicht bis in den letzten Gipfel seines Geistes hinauf.

76

Unter friedlichen Umständen fällt der kriegerische Mensch über sich selber her.

77

Mit seinen Grundsätzen will man seine Gewohnheiten tyrannisiren oder rechtfertigen oder ehren oder beschimpfen oder verbergen: – zwei Menschen mit gleichen Grundsätzen wollen damit wahrscheinlich noch etwas Grund-Verschiedenes.

78

Wer sich selbst verachtet, achtet sich doch immer noch dabei als Verächter.

79

Eine Seele, die sich geliebt weiss, aber selbst nicht liebt, verräth ihren Bodensatz: – ihr Unterstes kommt herauf.

80

Eine Sache, die sich aufklärt, hört auf, uns etwas anzugehn. – Was meinte jener Gott, welcher anrieth: "erkenne dich selbst"! Hiess es vielleicht: "höre auf, dich etwas anzugehn! werde objektiv!" – Und Sokrates? – Und der "wissenschaftliche Mensch"? -

81

Es ist furchtbar, im Meere vor Durst zu sterben. Müsst ihr denn gleich eure Wahrheit so salzen, dass sie nicht einmal mehr – den Durst löscht?

82

"Mitleiden mit Allen" – wäre Härte und Tyrannei mit dir, mein Herr Nachbar! -

83

Der Instinkt. – Wenn das Haus brennt, vergisst man sogar das Mittagsessen. – Ja: aber man holt es auf der Asche nach.

84

Das Weib lernt hassen, in dem Maasse, in dem es zu bezaubern – verlernt.

85

Die gleichen Affekte sind bei Mann und Weib doch im Tempo verschieden: deshalb hören Mann und Weib nicht auf, sich misszuverstehn.

86

Die Weiber selber haben im Hintergrunde aller persönlichen Eitelkeit immer noch ihre unpersönliche Verachtung – für das "Weib".

87

Gebunden Herz, freier Geist. – Wenn man sein Herz hart bindet und gefangen legt, kann man seinem Geist viele Freiheiten geben: ich sagte das schon Ein Mal. Aber man glaubt mir's nicht, gesetzt, dass man's nicht schon weiss…

88

Sehr klugen Personen fängt man an zu misstrauen, wenn sie verlegen werden.

89

Fürchterliche Erlebnisse geben zu rathen, ob Der, welcher sie erlebt, nicht etwas Fürchterliches ist.

90

Schwere, Schwermüthige Menschen werden gerade durch das, was Andre schwer macht, durch Hass und Liebe, leichter und kommen zeitweilig an ihre Oberfläche.

91

So kalt, so eisig, dass man sich an ihm die Finger verbrennt! Jede Hand erschrickt, die ihn anfasst! – Und gerade darum halten Manche ihn für glühend.

92

Wer hat nicht für seinen guten Ruf schon einmal – sich selbst geopfert? -

93

In der Leutseligkeit ist Nichts von Menschenhass, aber eben darum allzuviel von Menschenverachtung.

94

Reife des Mannes: das heisst den Ernst wiedergefunden haben, den man als Kind hatte, beim Spiel.

95

Sich seiner Unmoralität schämen: das ist eine Stufe auf der Treppe, an deren Ende man sich auch seiner Moralität schämt.

96

Man soll vom Leben scheiden wie Odysseus von Nausikaa schied, – mehr segnend als verliebt.

97

Wie? Ein grosser Mann? Ich sehe immer nur den Schauspieler seines eignen Ideals.

98

Wenn man sein Gewissen dressirt, so küsst es uns zugleich, indem es beisst.

99

Der Enttäuschte spricht. – "Ich horchte auf Widerhall, und ich hörte nur Lob – "

100

Vor uns selbst stellen wir uns Alle einfältiger als wir sind: wir ruhen uns so von unsern Mitmenschen aus.

101. Heute möchte sich ein Erkennender leicht als Thierwerdung Gottes fühlen.

102

Gegenliebe entdecken sollte eigentlich den Liebenden über das geliebte Wesen ernüchtern. "Wie? es ist bescheiden genug, sogar dich zu lieben?

Oder dumm genug? Oder – oder – "

103

Die Gefahr im Glücke. – "Nun gereicht mir Alles zum Besten, nunmehr liebe ich jedes Schicksal: – wer hat Lust, mein Schicksal zu sein?"

104

Nicht ihre Menschenliebe, sondern die Ohnmacht ihrer Menschenliebe hindert die Christen von heute, uns – zu verbrennen.

105

Dem freien Geiste, dem "Frommen der Erkenntniss" – geht die pia fraus noch mehr wider den Geschmack (wider seine "Frömmigkeit") als die impia fraus. Daher sein tiefer Unverstand gegen die Kirche, wie er zum Typus "freier Geist" gehört, – als seine Unfreiheit.

106

Vermöge der Musik geniessen sich die Leidenschaften selbst.

107

Wenn der Entschluss einmal gefasst ist, das Ohr auch für den besten Gegengrund zu schliessen: Zeichen des starken Charakters. Also ein gelegentlicher Wille zur Dummheit.

108

Es giebt gar keine moralischen Phänomene, sondern nur eine moralische Ausdeutung von Phänomenen…

109

Der Verbrecher ist häufig genug seiner That nicht gewachsen: er verkleinert und verleumdet sie.

110

Die Advokaten eines Verbrechers sind selten Artisten genug, um das schöne Schreckliche der That zu Gunsten ihres Thäters zu wenden.

111

Unsre Eitelkeit ist gerade dann am schwersten zu verletzen, wenn eben unser Stolz verletzt wurde.

112

Wer sich zum Schauen und nicht zum Glauben vorherbestimmt fühlt, dem sind alle Gläubigen zu lärmend und zudringlich: er erwehrt sich ihrer.

113

"Du willst ihn für dich einnehmen? So stelle dich vor ihm verlegen – "

114

Die ungeheure Erwartung in Betreff der Geschlechtsliebe, und die Scham in dieser Erwartung, verdirbt den Frauen von vornherein alle Perspektiven.

115

Wo nicht Liebe oder Hass mitspielt, spielt das Weib mittelmässig.

116

Die grossen Epochen unsres Lebens liegen dort, wo wir den Muth gewinnen, unser Böses als unser Bestes umzutaufen.

117

Der Wille, einen Affekt zu überwinden, ist zuletzt doch nur der Wille eines anderen oder mehrer anderer Affekte.

118

Es giebt eine Unschuld der Bewunderung: Der hat sie, dem es noch nicht in den Sinn gekommen ist, auch er könne einmal bewundert werden.

119

Der Ekel vor dem Schmutze kann so gross sein, dass er uns hindert, uns zu reinigen, – uns zu "rechtfertigen".

120

Die Sinnlichkeit übereilt oft das Wachsthum der Liebe, so dass die Wurzel schwach bleibt und leicht auszureissen ist.

121

Es ist eine Feinheit, dass Gott griechisch lernte, als er Schriftsteller werden wollte – und dass er es nicht besser lernte.

122

Sich über ein Lob freuen ist bei Manchem nur eine Höflichkeit des Herzens – und gerade das Gegenstück einer Eitelkeit des Geistes.

123

Auch das Concubinat ist corrumpirt worden: – durch die Ehe.

124

Wer auf dem Scheiterhaufen noch frohlockt, triumphirt nicht über den Schmerz, sondern darüber, keinen Schmerz zu fühlen, wo er ihn erwartete. Ein Gleichniss.

125

Wenn wir über Jemanden umlernen müssen, so rechnen wir ihm die Unbequemlichkeit hart an, die er uns damit macht.

126

Ein Volk ist der Umschweif der Natur, um zu sechs, sieben grossen Männern zu kommen. – Ja: und um dann um sie herum zu kommen.

 
127

Allen rechten Frauen geht Wissenschaft wider die Scham. Es ist ihnen dabei zu Muthe, als ob man damit ihnen unter die Haut, – schlimmer noch! unter Kleid und Putz gucken wolle.

128

Je abstrakter die Wahrheit ist, die du lehren willst, um so mehr musst du noch die Sinne zu ihr verführen.

129

Der Teufel hat die weitesten Perspektiven für Gott, deshalb hält er sich von ihm so fern: – der Teufel nämlich als der älteste Freund der Erkenntniss.

130

Was jemand ist, fängt an, sich zu verrathen, wenn sein Talent nachlässt, – wenn er aufhört, zu zeigen, was er kann. Das Talent ist auch ein Putz; ein Putz ist auch ein Versteck.

131

Die Geschlechter täuschen sich über einander: das macht, sie ehren und lieben im Grunde nur sich selbst (oder ihr eigenes ideal, um es gefälliger auszudrücken – ). So will der Mann das Weib friedlich, – aber gerade das Weib ist wesentlich unfriedlich, gleich der Katze, so gut es sich auch auf den Anschein des Friedens eingeübt hat.

132

Man wird am besten für seine Tugenden bestraft.

133

Wer den Weg zu seinem Ideale nicht zu finden weiss, lebt leichtsinniger und frecher, als der Mensch ohne Ideal.

134

Von den Sinnen her kommt erst alle Glaubwürdigkeit, alles gute Gewissen, aller Augenschein der Wahrheit.

135

Der Pharisäismus ist nicht eine Entartung am guten Menschen: ein gutes Stück davon ist vielmehr die Bedingung von allem Gut-sein.

136

Der Eine sucht einen Geburtshelfer für seine Gedanken, der Andre Einen, dem er helfen kann: so entsteht ein gutes Gespräch.

137

Im Verkehre mit Gelehrten und Künstlern verrechnet man sich leicht in umgekehrter Richtung: man findet hinter einem merkwürdigen Gelehrten nicht selten einen mittelmässigen Menschen, und hinter einem mittelmässigen Künstler sogar oft – einen sehr merkwürdigen Menschen.

138

Wir machen es auch im Wachen wie im Traume: wir erfinden und erdichten erst den Menschen, mit dem wir verkehren – und vergessen es sofort.

139

In der Rache und in der Liebe ist das Weib barbarischer, als der Mann.

140

Rath als Räthsel. – "Soll das Band nicht reissen, – musst du erst drauf beissen."

141

Der Unterleib ist der Grund dafür, dass der Mensch sich nicht so leicht für einen Gott hält.

142

Das züchtigste Wort, das ich gehört habe: "Dans le véritable amour c'est l'âme, qui enveloppe le corps."

143

Was wir am besten thun, von dem möchte unsre Eitelkeit, dass es grade als Das gelte, was uns am schwersten werde. Zum Ursprung mancher Moral.

144

Wenn ein Weib gelehrte Neigungen hat, so ist gewöhnlich Etwas an ihrer Geschlechtlichkeit nicht in Ordnung. Schon Unfruchtbarkeit disponirt zu einer gewissen Männlichkeit des Geschmacks; der Mann ist nämlich, mit Verlaub, "das unfruchtbare Thier".

145

Mann und Weib im Ganzen verglichen, darf man sagen: das Weib hätte nicht das Genie des Putzes, wenn es nicht den Instinkt der zweiten Rolle hätte.

146

Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.

147

Aus alten florentinischen Novellen, überdies – aus dem Leben: buona femmina e mala femmina vuol bastone. Sacchetti Nov. 86.

148

Den Nächsten zu einer guten Meinung verführen und hinterdrein an diese Meinung des Nächsten gläubig glauben: wer thut es in diesem Kunststück den Weibern gleich? -

149

Was eine Zeit als böse empfindet, ist gewöhnlich ein unzeitgemässer Nachschlag dessen, was ehemals als gut empfunden wurde, – der Atavismus eines älteren Ideals.

150

Um den Helden herum wird Alles zur Tragödie, um den Halbgott herum Alles zum Satyrspiel; und um Gott herum wird Alles – wie? vielleicht zur "Welt"? -

151

Ein Talent haben ist nicht genug: man muss auch eure Erlaubniss dazu haben, – wie? meine Freunde?

152

"Wo der Baum der Erkenntniss steht, ist immer das Paradies": so reden die ältesten und die jüngsten Schlangen.

153

Was aus Liebe gethan wird, geschieht immer jenseits von Gut und Böse.

154

Der Einwand, der Seitensprung, das fröhliche Misstrauen, die Spottlust sind Anzeichen der Gesundheit: alles Unbedingte gehört in die Pathologie.

155

Der Sinn für das Tragische nimmt mit der Sinnlichkeit ab und zu.

156

Der Irrsinn ist bei Einzelnen etwas Seltenes, – aber bei Gruppen, Parteien, Völkern, Zeiten die Regel.

157

Der Gedanke an den Selbstmord ist ein starkes Trostmittel: mit ihm kommt man gut über manche böse Nacht hinweg.

158

Unserm stärksten Triebe, dem Tyrannen in uns, unterwirft sich nicht nur unsre Vernunft, sondern auch unser Gewissen.

159

Man muss vergelten, Gutes und Schlimmes: aber warum gerade an der Person, die uns Gutes oder Schlimmes that?

160

Man liebt seine Erkenntniss nicht genug mehr, sobald man sie mittheilt.

161

Die Dichter sind gegen ihre Erlebnisse schamlos: sie beuten sie aus.

162

"Unser Nächster ist nicht unser Nachbar, sondern dessen Nachbar" – so denkt jedes Volk.

163

Die Liebe bringt die hohen und verborgenen Eigenschaften eines Liebenden an's Licht, – sein Seltenes, Ausnahmsweises: insofern täuscht sie leicht über Das, was Regel an ihm ist.

164

Jesus sagte zu seinen Juden: "das Gesetz war für Knechte, – liebt Gott, wie ich ihn liebe, als sein Sohn! Was geht uns Söhne Gottes die Moral an!" -

165

Angesichts jeder Partei. – Ein Hirt hat immer auch noch einen Leithammel nöthig, – oder er muss selbst gelegentlich Hammel sein.

166

Man lügt wohl mit dem Munde; aber mit dem Maule, das man dabei macht, sagt man doch noch die Wahrheit.

167

Bei harten Menschen ist die Innigkeit eine Sache der Scham – und etwas Kostbares.

168

Das Christenthum gab dem Eros Gift zu trinken: – er starb zwar nicht daran, aber entartete, zum Laster.

169

Viel von sich reden kann auch ein Mittel sein, sich zu verbergen.

170

Im Lobe ist mehr Zudringlichkeit, als im Tadel.

171

Mitleiden wirkt an einem Menschen der Erkenntniss beinahe zum Lachen, wie zarte Hände an einem Cyklopen.

172

Man umarmt aus Menschenliebe bisweilen einen Beliebigen (weil man nicht Alle umarmen kann): aber gerade Das darf man dem Beliebigen nicht verrathen…

173

Man hasst nicht, so lange man noch gering schätzt, sondern erst, wenn man gleich oder höher schätzt.

174

Ihr Utilitarier, auch ihr liebt alles utile nur als ein Fuhrwerk eurer Neigungen, – auch ihr findet eigentlich den Lärm seiner Räder unausstehlich?

175

Man liebt zuletzt seine Begierde, und nicht das Begehrte.

176

Die Eitelkeit Andrer geht uns nur dann wider den Geschmack, wenn sie wider unsre Eitelkeit geht.

177

Ober Das, was "Wahrhaftigkeit" ist, war vielleicht noch Niemand wahrhaftig genug.

178

Klugen Menschen glaubt man ihre Thorheiten nicht: welche Einbusse an Menschenrechten!

179

Die Folgen unsrer Handlungen fassen uns am Schopfe, sehr gleichgültig dagegen, dass wir uns inzwischen "gebessert" haben.

180

Es giebt eine Unschuld in der Lüge, welche das Zeichen des guten Glaubens an eine Sache ist.

181

Es ist unmenschlich, da zu segnen, wo Einem geflucht wird.

182

Die Vertraulichkeit des überlegenen erbittert, weil sie nicht zurückgegeben werden darf. -

183

"Nicht dass du mich belogst, sondern dass ich dir nicht mehr glaube, hat mich erschüttert." -

184

Es giebt einen Übermuth der Güte, welcher sich wie Bosheit ausnimmt.

185

"Er missfällt mir." – Warum? – "Ich bin ihm nicht gewachsen." – Hat je ein Mensch so geantwortet?

Fünftes Hauptstück:
ur Naturgeschichte der Moral

186

Die moralische Empfindung ist jetzt in Europa ebenso fein, spät, vielfach, reizbar, raffinirt, als die dazu gehörige "Wissenschaft der Moral" noch jung, anfängerhaft, plump und grobfingrig ist: – ein anziehender Gegensatz, der bisweilen in der Person eines Moralisten selbst sichtbar und leibhaft wird. Schon das Wort "Wissenschaft der Moral" ist in Hinsicht auf Das, was damit bezeichnet wird, viel zu hochmüthig und wider den guten Geschmack: welcher immer ein Vorgeschmack für die bescheideneren Worte zu sein pflegt. Man sollte, in aller Strenge, sich eingestehn, was hier auf lange hinaus noch noth thut, was vorläufig allein Recht hat: nämlich Sammlung des Materials, begriffliche Fassung und Zusammenordnung eines ungeheuren Reichs zarter Werthgefühle und Werthunterschiede, welche leben, wachsen, zeugen und zu Grunde gehn, – und, vielleicht, Versuche, die wiederkehrenden und häufigeren Gestaltungen dieser lebenden Krystallisation anschaulich zu machen, – als Vorbereitung zu einer Typenlehre der Moral. Freilich: man war bisher nicht so bescheiden. Die Philosophen allesammt forderten, mit einem steifen Ernste, der lachen macht, von sich etwas sehr viel Höheres, Anspruchsvolleres, Feierlicheres, sobald sie sich mit der Moral als Wissenschaft befassten: sie wollten die Begründung der Moral, – und jeder Philosoph hat bisher geglaubt, die Moral begründet zu haben; die Moral selbst aber galt als "gegeben". Wie ferne lag ihrem plumpen Stolze jene unscheinbar dünkende und in Staub und Moder belassene Aufgabe einer Beschreibung, obwohl für sie kaum die feinsten Hände und Sinne fein genug sein könnten! Gerade dadurch, dass die Moral-Philosophen die moralischen facta nur gröblich, in einem willkürlichen Auszuge oder als zufällige Abkürzung kannten, etwa als Moralität ihrer Umgebung, ihres Standes, ihrer Kirche, ihres Zeitgeistes, ihres Klima's und Erdstriches, – gerade dadurch, dass sie in Hinsicht auf Völker, Zeiten, Vergangenheiten schlecht unterrichtet und selbst wenig wissbegierig waren, bekamen sie die eigentlichen Probleme der Moral gar nicht zu Gesichte: – als welche alle erst bei einer Vergleichung vieler Moralen auftauchen. In aller bisherigen "Wissenschaft der Moral" fehlte, so wunderlich es klingen mag, noch das Problem der Moral selbst: es fehlte der Argwohn dafür, dass es hier etwas Problematisches gebe. Was die Philosophen "Begründung der Moral" nannten und von sich forderten, war, im rechten Lichte gesehn, nur eine gelehrte Form des guten Glaubens an die herrschende Moral, ein neues Mittel ihres Ausdrucks, also ein Thatbestand selbst innerhalb einer bestimmten Moralität, ja sogar, im letzten Grunde, eine Art Leugnung, dass diese Moral als Problem gefasst werden dürfe: – und jedenfalls das Gegenstück einer Prüfung, Zerlegung, Anzweiflung, Vivisektion eben dieses Glaubens. Man höre zum Beispiel, mit welcher beinahe verehrenswürdigen Unschuld noch Schopenhauer seine eigene Aufgabe hinstellt, und man mache seine Schlüsse über die Wissenschaftlichkeit einer "Wissenschaft", deren letzte Meister noch wie die Kinder und die alten Weibchen reden: – "das Princip, sagt er (p. 136 der Grundprobleme der Moral), der Grundsatz, über dessen Inhalt alle Ethiker eigentlich einig sind; neminem laede, immo omnes, quantum potes, juva – das ist eigentlich der Satz, welchen zu begründen alle Sittenlehrer sich abmühen… das eigentliche Fundament der Ethik, welches man wie den Stein der Weisen seit Jahrtausenden sucht." – Die Schwierigkeit, den angeführten Satz zu begründen, mag freilich gross sein – bekanntlich ist es auch Schopenhauern damit nicht geglückt – ; und wer einmal gründlich nachgefühlt hat, wie abgeschmackt-falsch und sentimental dieser Satz ist, in einer Welt, deren Essenz Wille zur Macht ist – , der mag sich daran erinnern lassen, dass Schopenhauer, obschon Pessimist, eigentlich – die Flöte blies… Täglich, nach Tisch: man lese hierüber seinen Biographen. Und beiläufig gefragt: ein Pessimist, ein Gott- und Welt-Verneiner, der vor der Moral Haltmacht, – der zur Moral Ja sagt und Flöte bläst, zur laede-neminem-Moral: wie? ist das eigentlich – ein Pessimist?

 
187

Abgesehn noch vom Werthe solcher Behauptungen wie "es giebt in uns einen kategorischen Imperativ", kann man immer noch fragen: was sagt eine solche Behauptung von dem sie Behauptenden aus? Es giebt Moralen, welche ihren Urheber vor Anderen rechtfertigen sollen; andre Moralen sollen ihn beruhigen und mit sich zufrieden stimmen; mit anderen will er sich selbst an's Kreuz schlagen und demüthigen; mit andern will er Rache üben, mit andern sich verstecken, mit andern sich verklären und hinaus, in die Höhe und Ferne setzen; diese Moral dient ihrem Urheber, um zu vergessen, jene, um sich oder Etwas von sich vergessen zu machen; mancher Moralist möchte an der Menschheit Macht und schöpferische Laune ausüben; manch Anderer, vielleicht gerade auch Kant, giebt mit seiner Moral zu verstehn: "was an mir achtbar ist, das ist, dass ich gehorchen kann, – und bei euch soll es nicht anders stehn, als bei mir!" – kurz, die Moralen sind auch nur eine Zeichensprache der Affekte.

188

Jede Moral ist, im Gegensatz zum laisser aller, ein Stück Tyrannei gegen die "Natur", auch gegen die "Vernunft": das ist aber noch kein Einwand gegen sie, man müsste denn selbst schon wieder von irgend einer Moral aus dekretiren, dass alle Art Tyrannei und Unvernunft unerlaubt sei. Das Wesentliche und Unschätzbare an jeder Moral ist, dass sie ein langer Zwang ist: um den Stoicismus oder Port-Royal oder das Puritanerthum zu verstehen, mag man sich des Zwangs erinnern, unter dem bisher jede Sprache es zur Stärke und Freiheit gebracht, – des metrischen Zwangs, der Tyrannei von Reim und Rhythmus. Wie viel Noth haben sich in jedem Volke die Dichter und die Redner gemacht! – einige Prosaschreiber von heute nicht ausgenommen, in deren Ohr ein unerbittliches Gewissen wohnt – "um einer Thorheit willen", wie utilitarische Tölpel sagen, welche sich damit klug dünken, – "aus Unterwürfigkeit gegen Willkür-Gesetze", wie die Anarchisten sagen, die sich damit "frei", selbst freigeistisch wähnen. Der wunderliche Thatbestand ist aber, dass Alles, was es von Freiheit, Feinheit, Kühnheit, Tanz und meisterlicher Sicherheit auf Erden giebt oder gegeben hat, sei es nun in dem Denken selbst, oder im Regieren, oder im Reden und überreden, in den Künsten ebenso wie in den Sittlichkeiten, sich erst vermöge der "Tyrannei solcher Willkür-Gesetze" entwickelt hat; und allen Ernstes, die Wahrscheinlichkeit dafür ist nicht gering, dass gerade dies "Natur" und "natürlich" sei – und nicht jenes laisser aller! jeder Künstler weiss, wie fern vom Gefühl des Sichgehen-lassens sein "natürlichster" Zustand ist, das freie Ordnen, Setzen, Verfügen, Gestalten in den Augenblicken der "Inspiration", – und wie streng und fein er gerade da tausendfältigen Gesetzen gehorcht, die aller Formulirung durch Begriffe gerade auf Grund ihrer Härte und Bestimmtheit spotten (auch der festeste Begriff hat, dagegen gehalten, etwas Schwimmendes, Vielfaches, Vieldeutiges – ). Das Wesentliche, "im Himmel und auf Erden", wie es scheint, ist, nochmals gesagt, dass lange und in Einer Richtung gehorcht werde: dabei kommt und kam auf die Dauer immer Etwas heraus, dessentwillen es sich lohnt, auf Erden zu leben, zum Beispiel Tugend, Kunst, Musik, Tanz, Vernunft, Geistigkeit, – irgend etwas Verklärendes, Raffinirtes, Tolles und Göttliches. Die lange Unfreiheit des Geistes, der misstrauische Zwang in der Mittheilbarkeit der Gedanken, die Zucht, welche sich der Denker auferlegte, innerhalb einer kirchlichen und höfischen Richtschnur oder unter aristotelischen Voraussetzungen zu denken, der lange geistige Wille, Alles, was geschieht, nach einem christlichen Schema auszulegen und den christlichen Gott noch in jedem Zufalle wieder zu entdecken und zu rechtfertigen, – all dies Gewaltsame, Willkürliche, Harte, Schauerliche, Widervernünftige hat sich als das Mittel herausgestellt, durch welches dem europäischen Geiste seine Stärke, seine rücksichtslose Neugierde und feine Beweglichkeit angezüchtet wurde: zugegeben, dass dabei ebenfalls unersetzbar viel an Kraft und Geist erdrückt, erstickt und verdorben werden musste (denn hier wie überall zeigt sich "die Natur", wie sie ist, in ihrer ganzen verschwenderischen und gleichgültigen Grossartigkeit, welche empört, aber vornehm ist). Dass Jahrtausende lang die europäischen Denker nur dachten, um Etwas zu beweisen – heute ist uns umgekehrt jeder Denker verdächtig, der "Etwas beweisen will" – , dass ihnen bereits immer feststand, was als Resultat ihres strengsten Nachdenkens herauskommen sollte, etwa wie ehemals bei der asiatischen Astrologie oder wie heute noch bei der harmlosen christlich-moralischen Auslegung der nächsten persönlichen Ereignisse "zu Ehren Gottes" und "zum Heil der Seele": – diese Tyrannei, diese Willkür, diese strenge und grandiose Dummheit hat den Geist erzogen; die Sklaverei ist, wie es scheint, im gröberen und feineren Verstande das unentbehrliche Mittel auch der geistigen Zucht und Züchtung. Man mag jede Moral darauf hin ansehn: die "Natur" in ihr ist es, welche das laisser aller, die allzugrosse Freiheit hassen lehrt und das Bedürfniss nach beschränkten Horizonten, nach nächsten Aufgaben pflanzt, – welche die Verengerung der Perspektive, und also in gewissem Sinne die Dummheit, als eine Lebens- und Wachsthums-Bedingung lehrt. "Du sollst gehorchen, irgend wem, und auf lange: sonst gehst du zu Grunde und verlierst die letzte Achtung vor dir selbst" – dies scheint mir der moralische Imperativ der Natur zu sein, welcher freilich weder "kategorisch" ist, wie es der alte Kant von ihm verlangte (daher das "sonst" – ), noch an den Einzelnen sich wendet (was liegt ihr am Einzelnen!), wohl aber an Völker, Rassen, Zeitalter, Stände, vor Allem aber an das ganze Thier "Mensch", an den Menschen.

189

Die arbeitsamen Rassen finden eine grosse Beschwerde darin, den Müssiggang zu ertragen: es war ein Meisterstück des englischen Instinktes, den Sonntag in dem Maasse zu heiligen und zu langweiligen, dass der Engländer dabei wieder unvermerkt nach seinem Wochen- und Werktage lüstern wird: – als eine Art klug erfundenen, klug eingeschalteten Fastens, wie dergleichen auch in der antiken Welt reichlich wahrzunehmen ist (wenn auch, wie billig bei südländischen Völkern, nicht gerade in Hinsicht auf Arbeit – ). Es muss Fasten von vielerlei Art geben; und überall, wo mächtige Triebe und Gewohnheiten herrschen, haben die Gesetzgeber dafür zu sorgen, Schalttage einzuschieben, an denen solch ein Trieb in Ketten gelegt wird und wieder einmal hungern lernt. Von einem höheren Orte aus gesehn, erscheinen ganze Geschlechter und Zeitalter, wenn sie mit irgend einem moralischen Fanatismus behaftet auftreten, als solche eingelegte Zwangs- und Fastenzeiten, während welchen ein Trieb sich ducken und niederwerfen, aber auch sich reinigen und schärfen lernt; auch einzelne philosophische Sekten (zum Beispiel die Stoa inmitten der hellenistischen Cultur und ihrer mit aphrodisischen Düften überladenen und geil gewordenen Luft) erlauben eine derartige Auslegung. – Hiermit ist auch ein Wink zur Erklärung jenes Paradoxons gegeben, warum gerade in der christlichsten Periode Europa's und überhaupt erst unter dem Druck christlicher Werthurtheile der Geschlechtstrieb sich bis zur Liebe (amour-passion) sublimirt hat.

190

Es giebt Etwas in der Moral Plato's, das nicht eigentlich zu Plato gehört, sondern sich nur an seiner Philosophie vorfindet, man könnte sagen, trotz Plato: nämlich der Sokratismus, für den er eigentlich zu vornehm war. "Keiner will sich selbst Schaden thun, daher geschieht alles Schlechte unfreiwillig. Denn der Schlechte fügt sich selbst Schaden zu: das würde er nicht thun, falls er wüsste, dass das Schlechte schlecht ist. Demgemäss ist der Schlechte nur aus einem Irrthum schlecht; nimmt man ihm seinen Irrthum, so macht man ihn notwendig – gut." – Diese Art zu schliessen riecht nach dem Pöbel, der am Schlechthandeln nur die leidigen Folgen in's Auge fasst und eigentlich urtheilt "es ist dumm, schlecht zu handeln"; während er "gut" mit "nützlich und angenehm" ohne Weiteres als identisch nimmt. Man darf bei jedem Utilitarismus der Moral von vornherein auf diesen gleichen Ursprung rathen und seiner Nase folgen: man wird selten irre gehn. – Plato hat Alles gethan, um etwas Feines und Vornehmes in den Satz seines Lehrers hinein zu interpretiren, vor Allem sich selbst – , er, der verwegenste aller Interpreten, der den ganzen Sokrates nur wie ein populäres Thema und Volkslied von der Gasse nahm, um es in's Unendliche und Unmögliche zu variiren: nämlich in alle seine eignen Masken und Vielfältigkeiten. Im Scherz gesprochen, und noch dazu homerisch: was ist denn der platonische Sokrates, wenn nicht prósthe Pláton opithén te Pláton mésse te Chímaira.

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Das alte theologische Problem von "Glauben" und "Wissen" – oder, deutlicher, von Instinkt und Vernunft – also die Frage, ob in Hinsicht auf Werthschätzung der Dinge der Instinkt mehr Autorität verdiene, als die Vernünftigkeit, welche nach Gründen, nach einem "Warum?", als nach Zweckmässigkeit und Nützlichkeit geschätzt und gehandelt wissen will, – es ist immer noch jenes alte moralische Problem, wie es zuerst in der Person des Sokrates auftrat und lange vor dem Christenthum schon die Geister gespaltet hat. Sokrates selbst hatte sich zwar mit dem Geschmack seines Talentes – dem eines überlegenen Dialektikers – zunächst auf Seiten der Vernunft gestellt; und in Wahrheit, was hat er sein Leben lang gethan, als über die linkische Unfähigkeit seiner vornehmen Athener zu lachen, welche Menschen des Instinktes waren gleich allen vornehmen Menschen und niemals genügend über die Gründe ihres Handelns Auskunft geben konnten? Zuletzt aber, im Stillen und Geheimen, lachte er auch über sich selbst: er fand bei sich, vor seinem feineren Gewissen und Selbstverhör, die gleiche Schwierigkeit und Unfähigkeit. Wozu aber, redete er sich zu, sich deshalb von den Instinkten lösen! Man muss ihnen und auch der Vernunft zum Recht verhelfen, – man muss den Instinkten folgen, aber die Vernunft überreden, ihnen dabei mit guten Gründen nachzuhelfen. Dies war die eigentliche Falschheit jenes grossen geheimnissreichen Ironikers; er brachte sein Gewissen dahin, sich mit einer Art Selbstüberlistung zufrieden zu geben: im Grunde hatte er das Irrationale im moralischen Urtheile durchschaut. – Plato, in solchen Dingen unschuldiger und ohne die Verschmitztheit des Plebejers, wollte mit Aufwand aller Kraft – der grössten Kraft, die bisher ein Philosoph aufzuwenden hatte! – sich beweisen, dass Vernunft und Instinkt von selbst auf Ein Ziel zugehen, auf das Gute, auf "Gott"; und seit Plato sind alle Theologen und Philosophen auf der gleichen Bahn, – das heisst, in Dingen der Moral hat bisher der Instinkt, oder wie die Christen es nennen, "der Glaube", oder wie ich es nenne, "die Heerde" gesiegt. Man müsse denn Descartes ausnehmen, den Vater des Rationalismus (und folglich Grossvater der Revolution), welcher der Vernunft allein Autorität zuerkannte: aber die Vernunft ist nur ein Werkzeug, und Descartes war oberflächlich.