Comanchen Mond Band 2

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

7. Kapitel

Summer-Rain erreichte auf ihrem Pony die ersten Tipis. Sie brauchte, genau wie Storm-Rider, nur Augenblicke, um ihre Leute zu mobilisieren. Sie waren bereits von dem ersten Kanonendonner aufgeschreckt worden. Allein dieser Einschlag in der Nähe der ersten drei Tipis hatte seine Wirkung auf alle anderen nicht verfehlt. Weiter flussaufwärts rissen Frauen bereits ihre Tipis nieder, rollten Büffelhäute zusammen, warfen hektisch Sachen auf Decken und ergriffen die Flucht. Alles war in Bewegung.

Storm-Rider schickte Späher aus, während schon die ersten beladenen Travois in Richtung Felsendurchgang unterwegs waren. Kinder griffen sich wahllos Pferde, die bis eben noch grasend in der Nähe gestanden hatten. Die Besitzverhältnisse waren egal. In Windeseile beluden sie sie mit ihren Habseligkeiten. Um ein Tipi abzubauen, brauchte eine darin geübte Frau nicht lange. Wenn ein Weißer die Zeit gestoppt hätte, wäre er auf 15-18 Minuten gekommen. Den Haushalt brachten sie in eigens dafür vorgesehenen Ledertaschen unter. Alles, was sie greifen konnten, kam dort hinein oder wurde in sämtliche Lücken des Travois gestopft. Was wie ein heilloses Durcheinander aussah, entsprang langer Übung. Kleinkinder hingen bereits in Tragewiegen sicher verstaut an der Seite der Pferde. Die letzten Behältnisse mit Vorräten und frischen Nahrungsmitteln warfen Frauen im Laufen noch den größeren Kindern zu, die sich damit auf ihre Ponys hievten. Unnütze Gegenstände blieben zurück.

Das kleine Völkchen rannte, ritt, trug, was es nur konnte, von ihren Heimstätten am Fluss zum Hauptweg hinüber, um von dort aus den Durchgang zwischen dem Canyon und dem Geröllfeld zu erreichen. Schon verschwanden die ersten Flüchtenden dort hindurch, fürsorglich sich nach den Nachfolgenden umblickend. Wenn es nur irgend ging, würde niemand zurückgelassen werden. Das alles geschah ohne Zutun der Krieger, die ihre Waffen geholt hatten und sich vor dem Geröllfeld sammelten. Manch eine Mutter rief laut nach ihren Kindern, die sich – aufgeregt durch das hektische Treiben – etwas entfernt hatten. Wo Hilfe gebraucht wurde, unterstützten sich die Frauen untereinander, griffen dort nach einem Halfter, halfen hier einer Nachbarin beim Befestigen ihres Travois. Oft fand sich ein Kind plötzlich auf dem Pony neben einem Freund, während die eigene Mutter noch nach ihm Ausschau hielt. Junge Mädchen hielten die Pferde fest, dirigierten ihre Geschwister auf zusätzliche Ponys und halfen ihren Müttern. Die halbwüchsigen Jungen ritten zur Pferdeherde hinüber und kamen mit Mustangs im Schlepp wieder zurück.

Währenddessen donnerten bereits die ersten Pferde der großen Herde durch den Canyon. An ihrer Seite ritten die Pferdejungen und weitere die Herde betreuende Männer. Wie sie es schafften, diese gewaltige Anzahl – etwa 700 – heil und geordnet durch den Canyon zu bringen, blieb ihr Geheimnis. Zwei der Männer, die sich auch sonst immer um die Herde kümmerten, kamen mit etwa 20 Mustangs über den Fluss geritten, um sie noch zusätzlich an die Frauen zu verteilen. Es waren Arrow-Head und Raven-Feather, die Haare von der Sonne ausgebleicht, hochgewachsen und von dem Leben in den Plains fast so dunkel wie Comanchen. Kurz darauf preschte auch der Rest der Herde zusammen mit ihnen durch den Canyon hinaus in die Weite.

Sie waren die Götter der Pferde – sie waren Comanchen.

Die den Frauen zugetriebenen Pferde wurden in fliegender Hast beladen. Kleine Kinder – kaum, dass sie laufen konnten – wussten schon ganz genau, was man von ihnen erwartete. Von den älteren Geschwistern unterstützt, hievten sie sich auf die Pferderücken. Summer-Rain kam denen zu Hilfe, die Hilfe brauchten, und ritt eilig von Tipi zu Tipi den Fluss entlang. Sie belud Travois und reichte kleine Kinder, die auf unerklärliche Weise von ihren Müttern getrennt worden waren, in die tröstenden Arme irgendwelcher Verwandte, brachte Nachrichten hin und her. Es wurde nicht laut geschrien, kein unnützer Lärm gemacht, keine Hektik verbreitet. Immer mehr Menschen kamen von flussabwärts, schließlich hatten die Tipis den gesamten Flussabschnitt entlang gestanden. Wer zu viel Hausrat zurücklassen musste, bekam ihn später von der Gemeinschaft ersetzt. Summer-Rain hatte ihre beiden Ersatzpferde bereits abgegeben, so dass damit zwei Travois beladen werden konnten. Das aufgelöste Lager kam im Eiltempo den ausgetretenen Hauptweg entlang. Schützende Bäume hatten sie bisher vor den Augen der Angreifer abgeschirmt.

Drei alte Männer wurden kurzerhand, ohne ihren Protest zu beachten, auf die Travois ihrer Familien gehievt. Sie alle waren geliebte Großväter, einer sogar ein Urgroßvater, die niemand als leichte Beute für die Soldaten zurücklassen wollte – schon gar nicht ihre Enkelkinder. Das alles schafften die Frauen ganz ohne männliche Hilfe. Es war ihre Aufgabe, denn die Krieger hatten anderes zu tun. Bereits als die ersten Tipis zusammenfielen, die ersten Stangen aus dem Boden gerissen wurden, griffen sie zu den Waffen und ritten auf ihren besten Kriegsponys zum Geröllfeld. Für solche Fälle hatte Red-Eagle, der bisher ihr Kriegshäuptling gewesen war, schon bei ihrem Eintreffen hier im Sommerlager Anordnungen getroffen. Jeder wusste also, was er zu tun hatte. Das waren Dinge, die notwendig waren und in die sich jeder bedingungslos fügte. Die Mustangs der Krieger tänzelten unruhig; sie wussten, was vorging. Gut ausgebildet, waren sie begierig auf den kommenden Kampf. In der kurzen Zeit, in der sich die Reiter versammelten, sah so mancher von ihnen von seinem Standplatz aus die eigene Familie flüchten. Erleichtert atmeten sie auf, wenn sie sahen, wie sie mit dem gesamten Hausrat samt Kindern den Durchgang passierten. Sie würden sich mit ihrem eigenen Leben dafür einsetzen, dass sie auch weiter in Sicherheit blieben. Die Krieger, von denen einige gerade einmal fünfzehn, sechzehn Winter zählten, ritten vor dem Geröllfeld auf und ab. Niemand von ihnen wusste, wie stark der Feind, der stetig den Fluss heraufkam, wirklich war. Sie verließen sich auf Storm-Rider. Wie selbstverständlich hatten sie alle seine Anweisungen befolgt. Flüssig, ohne zu zögern oder Unsicherheit zu zeigen, hatte er ihnen gesagt, was zu tun war. Nicht einmal absichtlich – es hatte sich einfach so ergeben.

Jetzt warteten sie hier auf ihn. Die Späher, die er gleich am Beginn des Beschusses ausgeschickt hatte, waren soeben zurückgekehrt. Red-Eagle wandte sich halb zu den Kriegern um, musterte ihre versteinerten Gesichter, die mit keiner Regung anzeigten, was sie dachten. Doch es war offensichtlich, dass sie nach seinem Sohn Ausschau hielten. Unsicher streifte sein Blick Old-Antelope, ihren betagten Häuptling, dann Great-Mountain, der sich ebenfalls auf seinem Kriegspferd eingefunden hatte, und blieb schließlich bei Storm-Rider hängen, der eben herangeritten kam.

Die vom Signalhorn ausgestoßenen grellen Töne, dieses Hoch und Runter, konnten sie bis hierher hören. Ruhig, nur ruhig, bedeutete ihnen Storm-Rider mit einer Hand und glitt von seinem Mustang, um die Meldung der unberittenen Späher entgegenzunehmen. Einschläge, noch weit weg, aber stetig näherkommend, kündeten von einem Angriff auf ihr Zuhause.

Grey-Wolf, der fürsorglich die Pferde und die Waffen der Späher mitgebracht hatte, übergab sie ihnen, ohne etwas zu sagen. Mochte er auch manchmal übermütig wie ein Kind sein – er war ein umsichtiger, weitsichtiger Mann. Die Späher ordneten sich in die Reihe der Krieger ein. Storm-Rider schwang sich in den Sattel seines Lieblingspferdes Summer-Wind. In der Armbeuge hielt er Summer-Rains Winchester, geladen mit 17 Patronen. Stumm blickten sich Vater und Sohn einen Herzschlag lang an – Gedankenübertragung. Red-Eagle nickte zuerst ihm und dann den Kriegern zu. Na los, schien er zu sagen; es ist gut so. Die Männer hatten beide nicht aus den Augen gelassen. Jeder Einzelne von ihnen traf seine Wahl – im Hinterkopf die Gefahr, die immer näher kam. Niemand brauchte noch zu überlegen, es war längst entschieden. Dann ritt der älteste der Krieger zu Storm-Rider hinüber. Weitere folgten, bis sich schließlich fast alle neben ihm auf ihren Kriegsponys einfanden. Drei zögerten noch, Icy-Wind unter ihnen; doch auch sie lösten sich nur Augenblicke später aus ihrer Starre und ritten an Storm-Riders Seite. Red-Eagle kam als Letzter. Er zog sich den Riemen, an dem die Kriegspfeife hing, über den Kopf, um damit zu zeigen, dass er die Verantwortung für die Antilopenbande an seinen Sohn weitergab. Und so war es beschlossen. Die Würde des Kriegshäuptlings war auf Storm-Rider übergegangen. Das alles hatte nicht lange gedauert.

Ein zufriedenes Murmeln hing in der Luft. Dieser Mann auf seinem Schimmelhengst hatte ihr Vertrauen. Sie würden ihm folgen, seinen Befehlen gehorchen. Solange dieser Kampf dauerte, war keiner von ihnen mehr ein Einzelkämpfer. Storm-Rider hatten sie zu ihrem Anführer gemacht, weil er schon immer jemand war, der die Bewunderung aller auf sich zog – der mit seinem starken Charakter und seinen Führungsqualitäten nicht nur die jungen Männer mit sich reißen konnte. Auch die älteren Krieger blickten zu ihm auf. Manch einer wünschte sich, einen Sohn wie ihn zu haben oder einen Schwiegersohn. Storm-Rider war ein Mann, wie ein Mann sein sollte, trotz seiner Jugend oder der Geschichten, die man sonst noch über ihn wusste. Jetzt spielte das keine Rolle mehr. Durch sein umsichtiges Handeln hier und jetzt hatte er seine Fähigkeiten längst bewiesen.

Wie als wäre das schon immer sein Platz gewesen, ritt er vor die Männer. Während der Zeit, die das dauerte, hatte er schon einen Plan entwickelt. Ohne das vor ihnen liegende Gelände noch einmal betrachten zu müssen, wusste er, was zu tun war. In seinem Kopf stand die Schlachtordnung fest – wo und wie sie angreifen mussten und wo die Schwächen des Feindes lagen. Die große Pferdeherde, ihr ganzer Stolz und ihre Lebensgrundlage, befand sich in Sicherheit, dafür hatte er bereits gesorgt. Das Geräusch der Hufe auf den Gesteinsplatten des Canyons – dort, wo das Wasser des Flusses an den Seiten darüberströmte – war das einzige Geräusch, das man noch von ihnen hörte.

 

Der junge Kriegshäuptling war sich durchaus seiner Verantwortung bewusst. Rasch ritt er die Reihe seine Männer ab, jeden mit einem prüfenden Blick musternd. Diese Zeit musste sein. Erst wenn er wusste, dass wirklich alle hinter ihm standen, konnte auch er ihnen voll vertrauen. Auf seinem nackten Rücken wippte der Köcher mit dem bereits eingehakten Bogen. Summer-Rains Winchester steckte jetzt griffbereit an der Seite von Summer-Wind. Die dazugehörige Patronentasche hing ihm über der Brust. Er hatte es vorhin überprüft. 17 Patronen passten hinein. Erst nach 17 Schüssen würde er nachladen müssen. Neben dem Köcher ragte der Griff des scharf geschliffenen Schlachtbeils auf seinem Rücken hervor. Er hatte das bei Icy-Wind gesehen. Wenn er unter dem Bauch seines Mustangs hindurch musste, war das praktischer, als das große Schlachtbeil im Gürtel zu tragen.

Nach dem raschen Vorbeiritt an seinen Männern hielt Summer-Wind. Wie aus Stein gemeißelt stand das treue Tier völlig still. Alle Kriegsponys ignorierten den Pulverqualm, der vom Fluss heraufwehte, ignorierten die näherkommenden Einschüsse, den Aufbruch des Volkes. Ja, sogar die ihnen völlig unbekannten schrillen Töne der Trompete. Jedes von ihnen wusste, was ihm abverlangt werden würde, noch bevor sein Reiter ihm ein Zeichen gab. Mann und Pferd bildeten eine vollkommene Einheit. Nicht umsonst verbrachten sie die meiste Zeit ihres Lebens zusammen.

Storm-Riders offene Haare flatterten im aufkommenden Wind. Genau wie die anderen Krieger trug er keinerlei Kriegsbemalung, keinen Schmuck – auch die Pferde nicht. An ihren Lanzen, wenn sie denn Zeit gehabt hatten, sie aus ihren Verstecken zu holen, wehten keine Skalps. Sie vertrauten einzig und allein auf ihre Medizin. Jeder von ihnen hatte seinen Tiergeist angerufen, um Unterstützung gebeten und – sollte er sterben – um eine freundliche Aufnahme. Jetzt blickten sie zu Storm-Rider und warteten auf sein Zeichen. Was auch immer er von ihnen verlangte, sie waren bereit, es zu tun.

Der junge Häuptling ließ Summer-Wind, sein liebstes Kriegspony, neben dem seines Vaters halten.

Stumm griff er hinüber nach der Hand seines Vaters und drückte sie kurz. Dann beugte er sich nach vorn zu Summer-Wind, löste den Zügel vom Halfter und ließ ihn auf den Boden gleiten. So würde er die Hände zum Kämpfen frei haben. Andere folgten seinem Beispiel. Sich im Sattel zu seiner vollen Größe aufrichtend, drückte er seinen Oberkörper durch, griff über den Rücken und riss sein Schlachtbeil mit einem einzigen Ruck aus der Halterung. Mit der anderen Hand führte er die Kriegspfeife an die Lippen. Der schrille Laut vermischte sich mit dem Schmettern der Trompete, wurde eins mit ihm, verklang. Noch einmal und noch einmal, aber jetzt allein die Luft zerteilend, unüberhörbar das Donnern der Kanonen überlagernd. Die Mustangs schnaubten aufgeregt, und ihre Köpfe flogen in die Höhe. Den Klang der Kriegspfeife kannten sie, waren vertraut mit jedem Signal und kaum noch zu halten. Im nächsten Moment, aus dem Stand heraus, preschten sie in einer einzigen Formation los. Und so führte Storm-Rider sie mitten hinein in die Reihen der Feinde.

Es waren ihre Frauen, ihre Kinder, ihre Eltern, ihre Großväter und -mütter, ihre Familien, die sie bereit waren, mit ihrem Leben zu beschützen. Manch eine Frau, die zu ihrem Ehemann schaute, war stolz und gleichzeitig wurde ihr weh ums Herz. Würde er noch hier sein, wenn alles vorbei war? Jedem der flüchtenden Comanchen war klar, um was es hier ging. Das Leben der Krieger – der Preis für das ihre.

Ein Ton aus der Kriegspfeife, und die Formation der Pferde löste sich auf. Vier Herzschläge später stießen sie in die Reihen der Angreifer – wie ein Raubvogel auf seine Beute. Für die Soldaten völlig überraschend, zerteilten sie deren Reihen, brachten sie durcheinander und waren wieder verschwunden. Dann kamen sie zurück. Wie der Flügelschlag eines Adlers fächerte sich die Formation in einer einzigen fließenden Bewegung zu einem umgekehrten V. Sich wie in einer Umarmung hinter der überraschten Kavallerie schließend, hinterließen sie einen ungefähren Eindruck, was es bedeutete, sich mit Comanchen-Kriegern anzulegen. Der Wind hätte nicht schneller sein können.

Das Schlachtfeld vor sich im Blick, gab Storm-Rider das nächste Zeichen. Den Rückzug ihrer Familien zu schützen, das war ihre vorrangige Aufgabe. Hier ging es nicht um Töten oder Skalps – nicht um Ruhm, nicht um Ehre. Es ging um das Überleben ihres Volkes. Wie ein Sturm, der über die Ebene fegt, kamen sie über die Soldaten. Ihr Ziel war es, den Feind aufzuhalten. Und das taten sie. Mit waghalsigen Wendemanövern und todesverachtenden Einsätzen verhinderten sie immer wieder, dass der ihnen zahlenmäßig weit überlegene Feind vorrücken konnte.

Die Lippen fest aufeinandergepresst, ihre Angst niederkämpfend, hatte Summer-Rain endlich Großmutter gefunden. Jetzt war alles gut. Aufatmend rutschte sie von ihrem Pony. Überall herrschte hektisches Treiben. Immer noch trieben Frauen ihre beladenen Pferde mit den Travois im Schlepp durch den Felsenüberhang zwischen dem Geröllfeld und dem Canyon. Jetzt waren sie am verwundbarsten. Niemand schaute zurück – auch Summer-Rain nicht. Sie eilte auf Großmutter zu, umarmte die alte Frau und lehnte sich an ihre schmale, knorrige Schulter. Kurz dachte sie an Storm-Rider, sah ihn wieder vor sich, sah, wie er auf sie zukam. Seinen ihr so vertrauten Gang, die Art, wie er den Kopf hob, sein schiefes Lächeln – alles. Sie hätte ihn aus Tausenden herausgefunden.

Großmutter, dachte sie und fühlte ihre Knochen durch das Kleid. Angst schnürte ihr die Kehle zusammen, als sie bemerkte, wie die alte Frau zitterte. Dark-Night fiel ihr ein. Sie hatte sie bisher nicht finden können, auch Dream-In-The-Day nicht. Wo waren ihre beiden Freundinnen? Lebte Dark-Night überhaupt noch? Großmutter musste es wissen. Bevor sie sie jedoch fragen konnte, hörte sie die Männer auf ihren Kriegsponys herandonnern. Sie erkannte Gray-Wolf, Red-Eagle, Icy-Wind – sogar Great-Mountain und Old-Antelope. Dann ihren Bruder Light-Cloud. Er musste verletzt sein, registrierte sie erschrocken, denn er trug einen Verband um den Oberkörper und hielt sich seltsam gebeugt auf seinem Mustang. Da tauchte Storm-Rider in ihrem Blickfeld auf. Der Wind griff in seine Haare. Sie konnte nicht hören, was er rief, doch der Klang seiner Stimme griff ihr ans Herz – als gelte es, daraus zwei Hälften zu machen. Der Schmerz traf sie völlig unvorbereitet. Im nächsten Augenblick waren die Krieger vorbei.

Summer-Rain stand wie erstarrt, merkte nicht einmal, dass jemand ihren Namen rief. Es war Großmutter, die auf sie einredete. „Summer-Rain, Summer-Rain, mein Kind, mein Liebling, mein Alles. Du bist da, du bist wirklich da!“ Außer Atem schob sie sie vor sich her. „Alle haben mir schon gesagt, dass du zurück bist“ – sich unterbrechend – zeigte sie aufgeregt auf eine kleine Baumgruppe in einer flachen Mulde vor einem der Hügel. „Dream-In-The-Day bekommt ihr Baby. Ausgerechnet jetzt. Komm, du musst mir helfen!“ Das war alles, was sie hervorbrachte.

Doch Summer-Rain verstand sofort, was sie meinte, und eilte, ihr Pferd am Halfter, hinter ihr her. Die Baumgruppe bestand aus dichtem Haselnussgesträuch und bot ausreichend Schutz. Dream-In-The-Day lehnte an einem dahinter aufragenden Eichenstamm. Neben ihr kniete Dark-Night, die ihr Gesicht jetzt den Ankommenden zuwandte. Erschrocken über ihren Anblick wollte Summer-Rain zuerst Fragen stellen, unterließ es dann aber. Es war unverkennbar: Jemand hatte der kleinen Mexikanerin die Hälfte ihrer Nase abgeschnitten.

„Warum seid ihr nicht längst fort?“, war alles, was sie sagen konnte. Eben noch musste sie verarbeiten, dass ihre beste Freundin hochschwanger war – und dann das. Dark-Night, die ihren Blick wohl bemerkt hatte, zog sich die heruntergerutschte grüne Binde wieder über die Nase. Ihre schwarzen Augen musterten sie etwas erstaunt. Sie hatte sie hier nicht erwartet. Summer-Rain schluckte bei ihrem Anblick unwillkürlich – so verhärmt und hohlwangig sah Dark-Night aus. Es war ein ungewohnter Anblick; als sie sie verlassen hatte, war sie noch eine Schönheit gewesen. Was war passiert? Inzwischen hatte sich Dark-Nights Blick verändert. Jetzt lächelte sie Summer-Rain freundlich an. Dann beantwortete sie ihre Frage. „Ging nicht mehr. Dream-In-The-Day hatte bereits schlimme Wehen, während wir ihr Tipi abrissen.“

Das Lächeln verschönte ihr eingefallenes Gesicht auf wunderbare Weise. „Du weißt es sicherlich noch nicht, Schwägerin“, meinte sie, das letzte Wort besonders betonend. „Ich bin jetzt Light-Clouds Ehefrau.“ Sie zeigte in die Richtung, in die die Krieger geritten waren. „Hast du ihn gesehen? Ich musste ihm einen dicken Verband anlegen, denn er wollte unbedingt mit den Kriegern reiten. Du kennst ja unseren Light-Cloud!“

Großmutter warf ihr einen missbilligenden Blick zu. Als ob sie nichts Wichtigeres zu tun hätten, als über solche Dinge zu plaudern, sollte das wohl heißen. Vielleicht wollte sie aber auch nur nicht, dass Summer-Rain sich Sorgen machte.

Das Mädchen drehte sich zu Dream-In-The-Day um, die unter Stöhnen die nächste Wehe wegatmete.

„Und wer, bitte schön, ist dein Ehemann? Ich scheine ja ziemlich viel verpasst zu haben!“ Damit zeigte sie auf den hochgewölbten Bauch der Freundin.

Dream-In-The-Day lächelte schief. Natürlich, Summer-Rain konnte das ja nicht wissen. „Gray-Wolf ist mein Ehemann, Summer-Rain“, sagte sie sichtlich stolz.

„Weiß er, dass du hier bist und euer Kind bekommst?“

Großmutter und Dark-Night wechselten einen wissenden Blick.

„Weiß er nicht“, presste Dream-In-The-Day hervor, nach Atem ringend. „Muss er auch nicht, ich komme schon klar. Das hier ist Frauensache, da hat ein Mann nichts zu suchen.“

Wie zur Bekräftigung ihrer Worte deutete Großmutter mit einer knappen Kopfbewegung unter einen der Haselnusssträucher. Dort kauerten zwei Frauen, die Summer-Rain erst jetzt bemerkte. Die eine war Dream-In-The-Days Mutter und die andere, eine etwas ältere, die von Gray-Wolf. Innerlich stöhnte Summer-Rain auf. Auch das noch! Einen Blick auf ihr Pferd werfend, wandte sie sich ihnen zu. „Ihr beiden“, unmissverständlich wies sie mit dem Finger. „Ihr nehmt jetzt sofort mein Pferd und reitet hinter den anderen her.“

Weiter kam sie nicht, denn Gray-Wolfs Mutter richtete sich kerzengerade auf. Hinter ihren Rücken langend, holte sie ein ziemlich mitgenommen aussehendes Gewehr hervor. Eine Munitionstasche hing an ihrem Gürtel; sie fingerte darin herum, dann ergriff sie eine Handvoll Munition und schüttelte sie Summer-Rain entgegen. „Ich gehe nirgendwohin, ich kann meine Tochter beschützen!“ Entschlossen hielt sie die Waffe hoch, um sie dem Mädchen zu zeigen.

Einen Moment lang war Summer-Rain sprachlos angesichts so viel Dummheit, dann stieß sie wütend hervor:

„Wem willst du denn damit Angst einjagen?“

Die Frau blickte zuerst auf ihre Waffe, dann auf Summer-Rain. „Wie meinst du das?“

Wieder hielt sie ihr die Waffe entgegen, jedoch schon etwas unsicherer. Ihr bei einem Jagdunfall verunglückter Mann hatte sie immer in Ehren gehalten. Es musste eine gute Waffe sein!

Ungehalten schüttelte Summer-Rain den Kopf. Sie hatte keine Zeit für Erklärungen. „Steigt auf mein Pferd, alle beide“, forderte sie erneut, diesmal lauter. „Das Gewehr ist so alt, dass du daraus keinen einzigen Schuss mehr abfeuern kannst. Außerdem gehört die Munition, die du da hast, nicht zu diesem Gewehr.“ Noch während sie das sagte, war sie dem alten Trapper dafür dankbar, ihr so viel über Waffen beigebracht zu haben. „Großmutter und ich“, fuhr sie fort, „wir werden uns um Dream-In-The-Day kümmern. So, wie es jetzt aussieht, kann deine Tochter nicht einmal mehr auf einem Travois reisen, was wir im Übrigen auch gar nicht hier haben. Und reiten geht erst recht nicht. Wir müssen hier bleiben. Je weniger wir sind, umso leichter finden wir einen Ort, an dem wir vor den Soldaten sicher sind.“ Ihr Ton war jetzt milder. Sie hatte durchaus Verständnis für die beiden besorgten Mütter. Energisch griff sie nach dem Arm der älteren Frau und schob sie auf ihr Pferd zu. Die jüngere, die bisher ruhig geblieben war, legte ihre Hand auf den Rist des Ponys. „Ist schon gut – komm, hör auf sie. Dein Sohn würde das auch so wollen!“ Sich nach einem Bündel, das zusammengezurrt vor ihr lag, bückend, wuchtete sie es über den Rücken des Pferdes. Während sie es mit flinken Händen so befestigte, dass noch Platz für sie beide blieb, half Summer-Rain ihr dabei.

 

Flüchtig musterte die Frau das Fell, das darauf lag, während ihnen Dark-Night ein weiteres Bündel reichte. Die Miene der kleinen Mexikanerin bedeutete nichts Gutes – hatte sie Summer-Rains Worte doch gehört. Sie und Großmutter würden sich um Dream-In-The-Day kümmern? Schließlich war sie ja auch noch da!

„Dark-Night kann sich den Nachzüglern anschließen“, kam es auch schon prompt von Summer-Rain. „Jemand wird sie schon mit auf sein Pferd nehmen“, kommandierte sie mit energischem Ton.

„Du hast mir gar nichts zu sagen“, schnappte Dark-Night und stemmte beide Fäuste in die Seiten. In ihren kugelrunden schwarzen Augen blitzte es drohend auf.

Summer-Rain betrachtete sie nur kurz; dann kam sie zu dem Schluss, dass es besser war, sich nicht mit ihr anzulegen. „Also gut, wenn du darauf bestehst, dann bleib eben.“

Großmutter verzog den Mund; sie hatte nichts anderes erwartet. Diese beiden würden sich nichts schenken.

Zufrieden trat Dark-Night zu Dream-In-The-Days Mutter und half ihr beim Aufsteigen. „Ich weiß ein gutes Versteck“, sagte sie dabei mit ihrer angenehmen, melodischen Stimme, ohne sich den Ärger von eben noch anmerken zu lassen. „Dort wird deine Tochter sicher sein, bis das Baby da ist. Da oben, in den Höhlen zwischen den Felsen, wird uns niemand finden.“ Kurz zögerte sie – dann, an alle gewandt: „Ich kenne mich dort aus. Lasst mich euch die Höhle zeigen, wo wir am unsichtbarsten sind. Hier jedenfalls können wir nicht mehr bleiben.“

Großmutter kniff die Lippen ein wenig boshaft zusammen. Wie gut sie sich da oben auskannte, war schließlich zur Genüge bekannt. „Wir kommen nach“, meinte sie jedoch nur, an die beiden Frauen auf dem Pferd gewandt. Dann betrachtete sie ihre Nichte, die mit der Hand leicht über das Fell strich, und ihr wurde klar, wie viel inzwischen geschehen sein musste. Ihre Augen begegneten sich – sie würden einander eine Menge zu erzählen haben.

Dream-In-The-Day blickte den beiden sich rasch entfernenden Frauen hinterher, sichtlich froh, die Sorge um sie endlich los zu sein. Die Verantwortung für ihr Baby lastete schon schwer genug auf ihr. Sie wollte sprechen, doch es verschlug ihr den Atem, als die nächste Wehe kam.

„Los, Kind, wir müssen uns beeilen“, übernahm Großmutter das Kommando. Entschlossen raffte sie die Decken, die neben der Schwangeren auf dem Boden ausgebreitet lagen, zusammen, griff sich ein kleineres Bündel, das dort lag, und reichte alles Dark-Night. „Zeig uns den kürzesten Weg bis zu deiner Höhle. Dream-In-The-Day wird nicht laufen können. Fass mit an, Summer-Rain, wir beide tragen sie.“ Gemeinsam hoben sie die Schwangere hoch und nahmen sie in die Mitte. Das Baby wollte unbedingt jetzt in diese gefahrvolle Welt hineingeboren werden. Dream-In-The-Days Atem ging flach und sie versuchte, die stärker werdenden Wehen wieder wegzuatmen. Mit einem verkrampften Lächeln täuschte sie über ihre Schmerzen hinweg.

Der Geschützdonner kam näher. Über dem Fluss hing schwarzer Rauch. Auch die Geräusche der miteinander kämpfenden Männer konnte man bis hierher hören. Noch waren die Soldaten zu weit weg, als dass sie sie sehen konnten. Trotz ihrer Last kletterten die Frauen schnell das steinige Geröllfeld hinauf; sich hinter jedem großen Stein oder Gebüsch versteckend.

Dark-Night führte sie. Ganz oben, hinter Dornensträuchern verborgen, zeigte sie ihnen die Höhle, die sie hemeint hatte. Sie war nicht sehr groß, doch wenigstens war sie trocken und bot vorläufig Schutz. Bei Dream-In-The-Day kamen die Wehen jetzt bereits schnell hintereinander. Großmutter hatte recht gehabt. Hoffentlich waren die beiden anderen Frauen inzwischen in Sicherheit. Gut, dass Summer-Rain sie weggeschickt hatte. Für noch mehr Leute wäre es hier oben zu eng geworden. Sie richteten sich mit den mitgebrachten Decken einigermaßen ein.

Summer-Rain kniete in dem niedrigen Eingang und versuchte, durch das davor wuchernde Gesträuch etwas zu erkennen. Großmutter hockte neben ihr, während sich Dark-Night jetzt um Dream-In-The-Day kümmerte. Lange schwieg die alte Frau. Dann hielt sie es nicht mehr aus. Sie musste erfahren, wie es ihrem Liebling ergangen war. Besonders die Frage nach dem Fell lag ihr auf der Zunge. Ungeachtet der Schüsse, die von unten bis hier herauf zu hören waren, und der Sorgen um ihre Leute wollte sie alles wissen. Es würde vielleicht ein wenig ablenken. Summer-Rain begann also, ihnen von ihren Erlebnissen zu erzählen, während Dream-In-The-Days Wehen schnell nacheinander kamen. Angefangen von ihrem Aufbruch, dann die Sache mit den Apachen bis hin zu John Black und seinem Hund. Keine der Frauen unterbrach auch nur einmal ihre Erzählung. Ja, es war eine gute Methode, sich von dem Geschehen unter ihnen abzulenken.

Sogar Dream-In-The-Day schien sich beim Klang ihrer Stimme zu entspannen – oder das Kind, wie Großmutter behauptete.

Am Ende musterte die alte Frau aus dem Dunkel heraus Summer-Rain. Nachdenklich legte sie den Kopf auf ihre dünnen, sehnigen Arme. In ihren Gedanken tauchte ein Bild auf, das sie lieber nicht heraufbeschwören wollte. Insbesondere nicht vor Summer-Rain, schon gar nicht jetzt. Sanft berührte sie den von Brandnarben gezeichneten Arm des Mädchens und war dankbar, sie wieder hier bei sich zu haben. Als Summer-Rain ihr das Gesicht zuwandte, fragte sie sie leise, so dass es die anderen nicht hören konnten: „Glaubst du, dass dieser Hund eine Verbindung zu deinem Tiergeist hat und er ihn zu dir schickte, um dich zu beschützen?“

Summer-Rain, die sie nur erstaunt über eine solche Frage anstarren konnte, erschauerte. Es war ihr plötzlich, als berührte sie ein Schatten. Sie wusste zunächst keine Antwort. Dann aber, nach kurzem Besinnen, lächelte sie und schüttelte das, was sie bedrücken wollte, ab. „Diese Erklärung hätte dem alten Trapper gefallen, Großmutter“, sagte sie.

Die alte Frau nickte. „Ich bin froh und dankbar, dass sich dieser alte Mann um dich gekümmert hat – sehr froh …“ Schwer seufzend lehnte sie sich zurück an die Felsenwand der Höhle. Das Schweigen, das sich danach auf alle legte, wurde nur durch Dream-In-The-Days unterdrückte Schmerzenslaute unterbrochen.

„Was denkt ihr? Haben sie es alle rechtzeitig geschafft? Und unsere Männer – die Krieger – können sie diesen Feind dort unten besiegen?“, unterbrach Dark-Night leise die nur zäh dahinfließende Zeit.

Großmutter beugte sich zu ihr hinüber, sanft die Binde über ihrer Nase berührend. „Mach dir keine Sorgen“, sagte sie ebenso leise. „Wir können es nicht wissen. Bis dahin sollten wir uns diese Fragen nicht einmal stellen.“

Das war zwar nicht das, was Dark-Night hören wollte, doch bevor sie sie weiter damit beunruhigen konnte, legte die alte Frau ihr sanft die Hand auf den Mund. Bis auf Dream-In-The-Days unterdrücktes Stöhnen herrschte lange Zeit wieder Schweigen. Dann meinte Großmutter, als hätte Dark-Night ihre Frage eben erst gestellt: „Wenn sie es nicht geschafft hätten, würden die Soldaten dort unten jetzt jubeln; aber sie sind still.“

Damit hatte sie natürlich recht. Nur war das bisher niemandem außer ihr aufgefallen. Tatsächlich – draußen war es merkwürdig still geworden. Der Beschuss hatte aufgehört. Es drängte alle, aus der Höhle zu kriechen, um sich davon zu überzeugen, doch das wäre sehr dumm gewesen. Plötzlich wurde ihnen klar, dass niemand außer Dream-In-The-Days Mutter und Schwiegermutter von ihnen hier oben etwas wusste. Sie waren also völlig auf sich allein gestellt. Um die Zeit, bis das Baby käme, zu überbrücken und keine unnütze Grübelei aufkommen zu lassen, begann Großmutter, Geschichten aus ihrem eigenen Leben zu erzählen. Dream-In-The-Day hatte sich ein Stück Holz zwischen die Zähne geschoben, damit niemand sie jetzt, wo es vielleicht unten von Soldaten nur so wimmelte, hören konnte. Weil die Wehen stärker wurden, biss sie fest darauf. Während Großmutters Stimme leise dahinplätscherte, rückte die Geburt ihres Babys immer näher. Es konnte nicht mehr lange dauern.