Mündliches Erzählen als Performance: die Entwicklung narrativer Diskurse im Fremdsprachenunterricht

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3.5 Mündlich-verbales Erzählen (4): ästhetische Konzeption fiktionaler Diskurse zwischen zwei Mündlichkeitsformen

Die Recherche des Potenzials mündlich-verbalen Erzählens wird durch die Frage nach der ästhetischen Konzeption des fiktionalen narrativen Diskurses fortgesetzt. Leitgedanke ist, dass die mediale Mündlichkeit der narrativen Vermittlungsform ‚Erzählperformance‘ die ästhetische Konzeption des Diskurses wesentlich beeinflusst. Deshalb werden zunächst die Charakteristika der mündlichen Erzählsituation benannt (Kap. 3.5.1) und anschließend Merkmale der Anpassung des Erzähldiskurses an die mündliche Erzählsituation herausgearbeitet. Sie bestehen in der Modellierung der konzeptionellen Mündlichkeit und Schriftlichkeit des Erzähldiskurses (Kap. 3.5.3).

3.5.1 Die Medialität der mündlichen Erzählsituation

Die mündliche Kommunikation von Erzählungen kann von der schriftlichen Kommunikation im Wesentlichen anhand von zwei Faktoren unterschieden werden. Der eine Faktor besteht in der direkten Form der Kommunikation, der zweite in den strukturbildenden Merkmalen der als Medium aufgefassten Mündlichkeit.

In der direkten Form, der face-to-face-Kommunikation, stehen sich die Kommunikationspartnerinnen und -partner ohne vermittelnde Instanz gegenüber. Es handelt sich um eine

[…] elementare Konstellation, in der (mindestens) zwei Aktanten miteinander kommunizieren. Beide haben an einem gemeinsamen Wahrnehmungsraum teil, worauf sich der Ausdruck ‚face to face‘ mit Blick auf die wechselseitige visuelle Wahrnehmung bezieht. Die Hervorhebung der visuellen Wahrnehmung lässt den Ausdruck besonders zur Bezeichnung nonverbaler Kommunikation geeignet erscheinen. Übertragen auf die akustische Wahrnehmung, bezeichnet er aber auch insgesamt die für die Sprechsituation kennzeichnende gleichzeitige Präsenz von Sprecher und Hörer (Diskurs), die bei vermittelteren Kommunikationsformen (Text) aufgegeben ist. (Ehlich 2007: 5)

In der Hier-und-Jetzt-Situation (Bühler 1965: 102) sind die Kommunikationspartnerinnen und -partner gleichzeitig präsent und kommunizieren über dasselbe räumliche und zeitliche Zeigfeld. An der direkten Kommunikation ist die Körperlichkeit der gleichzeitig präsenten Partnerinnen und Partner beteiligt: Auge, Ohr, Stimme, Bewegung, Gesichtsausdruck, Stimmung, Gefühle. Damit sind mehrere Zeichensysteme im Spiel, neben dem verbalen das akustische und das visuelle.

Strukturbildende Merkmale des Mediums Mündlichkeit sind die Linearität der Produktion und Rezeption, die Irreversibilität und Flüchtigkeit des Gesprochenen (Zollna 1999: 14).

Im Rekurs auf intermediale literaturwissenschaftliche Ansätze (Wolf 2002b: 163-192, Wolf 2002a: 23-104, Rajewsky 2002: 7) kann die narrative Vermittlungsform ‚Erzählperformance‘ als eine medienspezifische Gattung bzw. selbst als Medium aufgefasst werden. Wolf definiert Medium als ein

[…] distinkt angesehenes Kommunikationsdispositiv. Dieses ist in erster Linie durch einen spezifischen (z.B. symbolischen oder ikonischen) Gebrauch eines semiotischen Systems (Sprache, Bild), in manchen Fällen auch durch die Kombination mehrerer Zeichensysteme […] zur Übertragung kultureller Inhalte gekennzeichnet und erst in zweiter Linie […] durch bestimmte technische Medien bzw. Kommunikationskanäle. Medium in diesem Sinne umfasst also die traditionellen Künste mit ihren Vermittlungsformen ebenso wie neue Kommunikationsformen, gleichgültig, ob ihnen – ein ohnehin heute vielfach problematisierter – Kunststatus zuerkannt wird oder nicht.“ (Wolf 2002b: 165)

Die Erzählperformance stellt dieser Definition zufolge eine narrative Kunstform dar, die in direkter, mündlicher Kommunikation zwischen Erzählenden und ihrem Publikum hervorgebracht wird.

3.5.2 Mediale Mündlichkeit vs. konzeptionelle Mündlichkeit

Die Medialität der Mündlichkeit (Kap. 3.5.1 und Kap. 4.2) stellt nur die eine Seite der mündlichen narrativen Präsentationsform dar. Die zweite Seite erschließt sich, wenn man das Phänomen der Mündlichkeit unter konzeptionellem Aspekt aus werkinterner Perspektive betrachtet. Konzeptionelle Mündlichkeit bedeutet im Unterschied zur medialen Mündlichkeit die innertextuell bzw. diskursintern konstruierte Mündlichkeit eines Textes bzw. eines Diskurses. Diese wird erzeugt durch Bezugnahme auf die Merkmale medialer Mündlichkeit1. Der Text bzw. der Diskurs versucht damit, über seine mediale Verfasstheit hinauszuweisen und Gegenwärtigkeit zu simulieren. Das Phänomen der Mündlichkeit unter beiden Aspekten, dem medialem und dem konzeptionellem Aspekt, zu betrachten, ist für die Recherche des Potenzials mündlichen Erzählens und für Analyse der Erzählperformances der Studie aus folgenden Gründen relevant:

1 Mediale und konzeptionelle Mündlichkeit stellen unterschiedliches ästhetisches Potenzial für den Fremdsprachenunterricht bereit, das sich vor allem im Zusammenhang nutzen lässt. Während die mediale Mündlichkeit ein breites Spektrum plurimedialer Zeichen zur ästhetischen Gestaltung bereithält, verfügt die konzeptionelle Mündlichkeit nur über monomediale, sprachliche Zeichen. Bei der Realisierung der mündlichen Präsentation der Erzählung als Performance müssen die Zeichen aufeinander bezogen werden, um ihr jeweiliges Potenzial und ihr (aufeinander bezogenes) Gesamtpotenzial zu entfalten. Wie die Beziehung gestaltet wird, hängt von der ästhetischen und pädagogischen Konzeption der Erzählperformance ab.

2 Mediale und konzeptionelle Mündlichkeit sind unterschiedlichen Welten zuzuordnen, die im Augenblick der Produktion und Rezeption gleichzeitig gegenwärtig sind. Während die mediale Mündlichkeit Teil der realen Welt ist, wird die konzeptionelle Mündlichkeit künstlich erzeugt. Sie gehört zur ästhetischen Illusionsbildung. Beide Aktionen, das Erzählen in direkter Kommunikation durch reale Erzählende und die Erzählung der Handlung und die Dialoge der Figuren, spielen sich in unterschiedlichen Handlungsräumen ab, dem realen und dem imaginären Raum des Fiktionalen. Die erzählte Geschichte ist immer nur Repräsentation von Zeiten, Orten, Geschehnissen, Handlungen und Dialogen, die sich nicht in der real ablaufenden Zeit abspielen. Und genau das ist der Grund dafür, dass ein Text / ein Diskurs zu Mitteln greift, um die Gegenwärtigkeit seiner Welt mit dem ihm zur Verfügung stehenden verbalen Mitteln vorzutäuschen, d.h. zur Strategie des Mündlichkeitsbezugs zu greifen. Die konzeptionelle Mündlichkeit hält strukturelles Potenzial bereit, um die beiden Welten für die Zeit der Rezeption in eine Beziehung zu bringen, die die Rezeptionsdisposition der Zuhörerschaft steigert. Konzeptionelle Mündlichkeit erzeugt Spannung, involviert die Zuhörer in das fiktionale Geschehen.

3 Konzeptionelle Mündlichkeit kann in einer weiteren hörerbezogenen Funktion eingesetzt werden. Es ist davon auszugehen, dass ein Diskurs, der seinen mündlichen Rezeptionsmodus mitbedenkt, anders gestaltet wird als ein ausschließlich zur schriftlichen Rezeption produzierter Text. Der Mündlichkeitsbezug stellt Mittel zur Diskursstrukturierung zur Verfügung, die darauf ausgerichtet sind, den Rezeptionsmodus in Mündlichkeit zu berücksichtigen, d.h. die Prozesshaftigkeit, Flüchtigkeit und Irreversibilität der mündlichen Rezeption (Kap. 3.5.1) auszugleichen. Konzeptionelle Mündlichkeit hält strukturelles Potenzial zur hörerbezogenen Diskursstrukturierung bereit. Dieses Potenzial kann pädagogisch zur Regulierung der (fremd-)sprachlichen Rezeption genutzt werden.

Aus den genannten Gründen ist davon auszugehen, dass die Lehrkräfte bei der Auswahl der Erzählung bereits ihre künftige Rolle als reale Erzählerinnen und Erzähler bedenken und demzufolge die mediale Mündlichkeit der Erzählsituation und die performative Gestaltung ihres Erzählens im Blick haben – oder sich von der Erzählung für eine bestimmte Performance inspirieren lassen. Die Möglichkeiten der Modellierung der konzeptionellen Mündlichkeit werden deshalb im folgenden Kapitel dargestellt.

3.5.3 Modellierungsmöglichkeiten konzeptioneller Mündlichkeit

Die konzeptionelle Mündlichkeit eines Textes bzw. Diskurses übernimmt in der werkinternen Kommunikation die Rolle eines Gegenpols zur konzeptionellen Schriftlichkeit. Beide Prinzipien bilden ein Spannungsfeld, zwischen dem sich der Text bzw. Diskurs bewegt, wobei die konzeptionelle Schriftlichkeit1 das Prinzip kommunikativer Distanz, die konzeptionelle Mündlichkeit das Prinzip kommunikativer Nähe darstellt. Zur begrifflichen Unterscheidung zwischen konzeptioneller Schriftlichkeit und konzeptioneller Mündlichkeit als Gegensatzpaar zur medialen Schriftlichkeit / Mündlichkeit stütze ich mich im Wesentlichen auf die Ergebnisse der Oralitätsforschung von Koch / Oesterreicher (1985) und des Freiburger Sonderforschungsbereichs „Übergänge und Spannungsfelder zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit“ (Raible 1988b, 1991b, 1991c). Zur präzisen Erarbeitung der Kategorien für die funktionale Analyse des mündlich-fiktionalen Erzähldiskurses (Kap. 3.6) verbinde ich die in der Oralitätsforschung gewonnenen Gestaltungsprinzipien von Texten bzw. Diskursen mit denen der intermedialen Narrativik.

Für eine Übertragung der Prinzipien konzeptioneller Schriftlichkeit und Mündlichkeit auf text- bzw. diskursgenerierenden Prinzipien narrativer Werke bieten sich Erzählmodus und Erzählhaltung an – darin insbesondere die Merkmale telling vs. showing (Antor 2004: 115), Situationsentbundenheit vs. Situationsverschränkung, Strukturiertheit vs. Vorläufigkeit, (Koch / Oesterreicher 1985: 23), Entspanntheit vs. Gespanntheit der Sprecherhaltung (Weinrich 2001: 47-53) – ferner Strukturprinzipien wie z.B. die syntaktischen Narreme sowie besondere Versprachlichungsstrategien der Textoberfläche. Da im Zusammenhang der Studie überwiegend von einem mündlichen narrativen Werk ausgegangen wird, werde ich zur Bezeichnung der Gegenpole statt ‚konzeptioneller Schriftlichkeit vs. konzeptioneller Mündlichkeit‘ die Begriffe konzeptionelle Distanz vs. konzeptionelle Nähe (Koch / Oesterreicher 1985: 21) verwenden.

 

Während bei der Medialität der Mündlichkeit ein Entweder – Oder (Raible 1991b: 7) vorliegt, d.h. die narrative Präsentationsform entweder mündlich oder schriftlich erfolgt, ist die konzeptionelle Mündlichkeit graduierbar. Die Bezugnahme eines Textes bzw. Diskurses auf die mediale Mündlichkeit lässt sich demzufolge auf einem Skalar zwischen den Polen konzeptioneller Distanz und konzeptioneller Nähe positionieren. Die Regulierung des Verhältnisses zwischen konzeptioneller Nähe und konzeptioneller Distanz fasse ich als Modellierung der diskursinternen, konstruierten, konzeptionellen Mündlichkeit. Die Modellierung erfolgt mithilfe narrativer Verfahren, die sich den Merkmalen narrativer Texte bzw. Diskurse zuordnen lassen. Sie stehen dem schriftlichen Text wie auch dem mündlichen Diskurs zur Verfügung, werden jedoch unterschiedlich, im Hinblick auf das ‚Bedienen‘ des jeweils intendierten Rezeptionsmodus genutzt.

Die Bezugnahme narrativer Werke auf die Mündlichkeit kann in zwei „Großformen“ (Bergfelder-Boos /Bergfelder 2015: 11-13) realisiert werden2. Die erste Großform (A) setzt vor allem auf den „Schein mündlichen Kommunizierens“ (Ewers 1991b: 106) durch Illusionsbildung. Dafür stehen narrative Verfahren zur Verfügung, die an charakteristische Merkmale alltäglicher mündlicher Kommunikation anknüpfen bzw. sie fingieren, weshalb diese Verfahren auch als ‚fingierte Mündlichkeit‘ (Koch / Oesterreicher 1985: 24, Anm. 23, Müller-Oberhäuser 2004a: 475) bezeichnet werden. Als zweite Großform (B) stehen gattungstypologische Verfahren diverser Textgenres (wie z.B. die des Märchens, der Legende, aber auch der Novelle und des Romans) und der Rekurs auf poetische Verfahren vergangener oder aktueller poésie orale zur Verfügung (Zumthor 1983: 47, 62).

Die folgende Übersicht (Abb. 3) listet, aufgeteilt in die Großformen A und B, Ansatzpunkte zur Modellierung konzeptioneller Mündlichkeit auf:

Abb. 3:

Ansatzpunkte zur Modellierung konzeptioneller Mündlichkeit

Für die Großform A sind fünf Merkmale der Tiefen- und Oberflächenstruktur des narrativen Diskurses aufgeführt. Den Merkmalen werden unter der Rubrik Distanz-Prinzip und Nähe-Prinzip die Gestaltungsprinzipien der Merkmale zugeordnet3. Die mittlere Position (ausgeglichen) wird angezeigt, aber nicht begrifflich ausdifferenziert. Die Möglichkeiten der Modellierung konzeptioneller Mündlichkeit werden im Folgenden anhand der in der Übersicht aufgelisteten Gestaltungsprinzipien vorgestellt.

Großform A: fingierte Mündlichkeit:

① Erzählmodus: telling vs. showing:

Diese beiden Prinzipien des Erzählmodus (Antor 2004: 115) stehen in der Narrativik für die Prinzipien Diegese vs. Mimesis und bezeichnen ein dominant szenisches Erzählen (Wolf 2004: 157). Zwei Möglichkeiten der Modellierung sind für den Mündlichkeitsbezug wichtig.

1 Die eine besteht in der Regulierung der temporalen Beziehungen zwischen Geschichte und Erzählen (Fludernik 2010: 44-47, 103f., 113-115, Genette 1972: 77). Wichtigster Faktor ist hier das Erzähltempo, die durée (Genette 1972: 122-144, Reuter 1991: 76-83). Dieser Faktor hält auf der Distanz-Seite das Prinzip der Raffung (sommaire bei Genette 1972: 129, 130-133) bereit, bei dem Ereignisse größerer Zeiträume der erzählten Zeit zusammengefasst werden, auf der anderen Seite das Prinzip der Zeitgleichheit (scène bei Genette 1972: 141-144 ), das auf dem Prinzip der Dehnung beruht und zur Ausgestaltung von Szenen führt. Mithilfe der Szene-Technik kann der Eindruck vermittelt werden, die erzählte Handlung finde gerade zum Zeitpunkt des Erzählens statt. Szenische Gestaltung bedient das Prinzip der Gegenwärtigkeit und verleiht der Erzählung Anschaulichkeit und Dramatik.

2 Die zweite Möglichkeit besteht in der Regulierung des Verhältnisses von Erzähler- und Figurenrede. Ein Text mit ausschließlicher Figurenrede spielt ebenfalls mit der Vergegenwärtigung der Erzählung. Die Figurenrede suggeriert die Gleichzeitigkeit von Produktion und Rezeption. Im Extrem kann diese Gestaltung den Eindruck erzeugen, die Erzählung er­zähle sich von alleine, ohne vermittelnde Erzählinstanz. Die Figuren scheinen direkt zum Adressaten zu sprechen (s. auch das monologische Sprechen in Rajewsky 2002: 125). Die dramatische Variante dieser Regulierung besteht in der direkten Rede, denn sie suggeriert die mediale Mündlichkeit der Origo-Situation.

② Erzählhaltung / Sprechhaltung

Was die Haltung des Erzählers gegenüber seinem Gegenstand und die Haltung und Gemütsverfassung der Figuren betrifft, so können sie oszillieren u.a. zwischen Situationsentbundenheit und Situationsverschränkung, zwischen Reflektiertheit und Involviertheit (Koch / Oesterreicher 1985: 23), Expressivität und Affektivität (a.a.O.).

Die beiden Pole „entspanntes vs. gespanntes Erzählen“ (Weinrich 2001: 47-53) sind sowohl dem Erzählmodus als auch der Erzählhaltung zuzuordnen. Entspanntes Erzählen führt den Adressaten der Erzählung weit in die Vergangenheit zurück. Dem gegenüber zoomt das gespannte Erzählen die Ereignisse nahe an die Gegenwart heran. Der Wechsel von entspanntem in gespanntes Erzählen kündigt die Höhepunkte der Erzählung an. Entspanntes Erzählen findet im Tempus der Vergangenheit (Tempusgruppe I, z.B. im imparfait und passé simple) statt, gespanntes im Tempus der Gegenwart (Tempusgruppe II: z.B. présent, passé composé). Der Gebrauch des Präsens in der gespannten Sprechhaltung (Weinrich 2001: 52f.) ist besonders für den Fremdsprachenunterricht wegen des Schwierigkeitsgrads der Vergangenheitstempora interessant und stellt ein Mittel performativer Gestaltung dar. Die erzählenden Lehrkräfte gestalten – ebenso wie die Erzählerin Marie-Célie Agnant (2006b) – die Phasen des Dramatisierens im Präsens, denn ihr performatives Erzählkonzept ist insgesamt auf eine gespannte, die Erzählsituation in die Gegenwart hineinholende Haltung ausgerichtet4.

③ Strukturierung der Erzählung / syntaktische Narreme

Was die Strukturierung der Erzählung betrifft, so gehören zum Prinzip der Distanz eine stringente Rhythmisierung der Erzählsequenzen und eine komplexe Gesamtstruktur. Das Nähe-Prinzip imitiert die assoziative Struktur alltäglicher, mündlicher Kommunikation. Die Gesamtstruktur erscheint hier einfach und vermittelt den Eindruck von Vorläufigkeit (Koch / Oesterreicher 1985: 23). Auf der Distanz-Seite sind außerdem syntaktische Narreme wie thematische Einheitsstiftung (Wolf 2002a: 50) und Teleologie (Wolf 2002a: 48) verortet. Auf der Nähe-Seite fehlt es der Kohärenzbildung an Elaboriertheit und die Themen können schon mal in alle Richtungen gehen.

Für die Analyse des empirischen Materials spielen die von Brinker / Ausborn-Brinker (2010: 30-31) als grammatische Kohärenzbildung bezeichnete Wiederaufnahme durch sog. Pro- Formen, die für die Nähe-Sprache typischen linearen Verknüpfungen (Heinemann / Heinemann 2002: 70f.) und die anaphorische Wiederaufnahme eine große Rolle.

④ Versprachlichungsstrategien

Mit der Gegenüberstellung von Distanz- und Nähe-Sprache beziehe ich mich auf die von Koch / Oesterreicher herausgearbeiteten „universale[n] Merkmale der Sprache der Nähe“ (1985: 27), aber auch auf weitere, vor allem auf pragmatisch ausgerichtete linguistische Forschungen.

Charakteristisch für die Distanz-Sprache ist eine hohe Informationsdichte und ein hoher Grad an Elaboriertheit (Koch / Oesterreicher 1985: 22), während die spontane Nähe-Sprache des mündlichen Alltagserzählens sich wegen des geringen Planungsaufwandes durch Vorläufigkeit und Prozesshaftigkeit auszeichnet. Auf der Ebene der Lexik sind für die Nähe-Sprache hohe Affektivität und Redundanz (Söll 1974: 55) charakteristisch. Der hohe Wiederholungsgrad der Lexik verleiht dem Diskurs Länge und holt auf diese Weise seine geringere Informationsdichte ein: „Die geringere Dichte eines oralen Textes wird also durch seinen größeren Umfang kompensiert.“ (Söll 1974: 54) Die Affektivität der Nähe-Sprache manifestiert sich im häufigen Gebrach direktiver und expressiver Sprechakte, in Exklamationen, im Gebrauch von kraftvollen (Koch/ Oesterreicher 1985: 22), onomatopoetischen, oft sensuellen, bildhaften Ausdrücken.

Auf der Ebene der Syntax ist für die Distanz-Sprache ein gezielter Einsatz der Hypotaxe charakteristisch, während die Nähe-Sprache Parataxe bevorzugt (Koch / Oesterreicher 1985: 21f.). Weitere Charakteristika sind Unvollständigkeit der Syntax und Segmentierung bzw. Linksversetzung (Söll 1974: 45-47, 123-132, 140, Stark 1997: 27-33).

Auf der Ebene der Pragmatik sind Signale des Sprecherwechsels (wie z.B. Et toi? Qu’en penses-tu?) oder Rückversicherungsstrategien (wie z.B. Pas vrai?), Unterbrechungs- und Gliederungssignale für das mündliche Erzählen charakteristisch. Ein weiteres, für die mündliche Kommunikation typisches Merkmal ist die Umkehrung der Thema-Rhema-Folge5. Charakteristisch für das Deutsche wie das Französische ist, dass der höchste Mitteilungsgrad, das Rhema, am Ende des Satzes steht (Blumenthal 1997: 37, 40, Bußmann 2008: 732). Die Sprache der Nähe kehrt die Endstellung in Frontierung des Rhemas (Söll 1974: 47f.) und durch Linksversetzung um und hebt es dadurch hervor. Von dieser Technik machen die Lehrkräfte beim mündlichen Erzählen häufig Gebrauch (Kap. 9.2.23).

Großform B: gattungstypologische Verfahren

Was die Großform B betrifft, so interessieren im Rahmen der Studie zwei miteinander verwandte Verfahren.

① genretypische Verfahren narrativer Textsorten

Im Kontext der Studie sind besonders die gattungstypologischen Verfahren des Märchengenres von Bedeutung (Kap. 3.4), das der „Urform mündlichen Erzählens“ (Wolf 2002a: 36) nahesteht und deshalb selbst in seiner schriftlichen Verfasstheit noch über Erzählstrategien verfügt, die es seiner ursprünglich oralen Tradierung verdankt. Es handelt sich um mnemotechnische Strategien, die den narrativen Diskurs für erzählende Poeten memorierbar machen und der Zuhörerschaft das Verstehen und Behalten der wichtigsten Informationen erleichtern. Dazu gehören das Erzählen in Mustern und die Dominanz der Handlung sowie die additive Gestaltung des Erzählflusses und das Prinzip der Wiederholung (Kap. 3.4).

② gattungstypologische Verfahren der poésie orale

Das zweite Verfahren der Großform B rekurriert gattungstypologisch auf die poésie orale / oral poetry6 und knüpft damit ebenfalls an mnemotechnische Verfahren der primären Mündlichkeit an, setzt aber stärker auf poetische Verfahren, die dem Diskurs ein hohes Maß an Elaboriertheit verleihen und die Distanzsprache dominieren lassen. Mit dem Rekurs auf die poésie orale werden in kongenialer Weise die Herausforderungen des mündlichen Rezeptionsmodus mit einer poetischen, zwischen Epik und Lyrik oszillierenden Gestaltung des Diskurses verbunden. Für Zumthor zielen die poetischen Verfahren der poésie orale darauf, das Merkmal der Flüchtigkeit medialer Mündlichkeit in den Diskurs zu integrieren, damit einen flexiblen, elaborierten, suggestiv wirkenden Diskurs zu formen. Einheitsstiftend seien die den Diskurs dominierenden Rhythmen:

L’art poétique consiste pour le poète à assumer cette instantanéité, à l’intégrer dans la forme de son discours. D’où la nécessité d’une éloquence particulière, d’une aisance de diction et de phrase, d’une puissance de suggestion: d’une prédominance générale des rythmes. L’auditeur suit le fil, aucun retour n’est possible: le message doit porter (quel que soit l’effet recherché) au premier coup. (Zumthor 1983:126)

Der Diskurs der poésie orale wird damit durch einen poetisch-lyrischen, melodischen Rhythmus strukturiert, der gesungen und getanzt werden kann. Weitere charakteristische Verfahren der poésie orale (s. Zumthor 1983: 136-144) sind « la rime, l’allitération, les échos sonores de toute espéce, […] la scansion des rythmes » (Zumthor 1983: 140). Moderne Formen der poésie orale finden sich Zumthor zufolge in chansons contestataires (1983: 62), sie finden sich im Rap und in der slam poetry (Anders / Brieske 2007: 52-53, Anders / Krommer 2007: 46-48, Mertens 2007: 28-39), die als urbane Poesie sehr lebendig sind und an die o. g. Verfahren anknüpfen bzw. Markierungen der poésie orale aufweisen7.

 

Im Bereich der Großform A bieten sich folgende Modellierungen an:

 die konsequente Privilegierung eines Extrems (Distanz oder Nähe) oder die Einnahme einer ausgeglichen-mittleren Position,

 die Kombination von Distanz-Elementen mit Nähe-Elementen,

 der Paradigmenwechsel an markanten Stellen, z.B. den Höhepunkten der Erzählung,

 eine Steigerung von Distanz in Nähe und umgekehrt.

Auf jeden Fall dramatisieren die Privilegierungen der Nähe-Verfahren den narrativen Text und verstärken innerhalb des Diskurses die phatische und expressive sprachliche Funktion (Jakobson 1960: 94).

Im Hinblick auf die Großform B bieten sich folgende Modellierungen an:

 die Verstärkung gattungstypologischer Merkmale, z.B. der äußeren Handlung durch Akkumulation von Ereignissen und Wiederholungen,

 die Integration von poetisch-lyrischen Elementen in den narrativen Text wie Lieder, Reime, Gedichte, Sprüche,

 der Rekurs auf Sonderformen der „Urform des Erzählens“ wie Kettengeschichten.

Die Hereinnahme bzw. Verstärkung gattungstypischer Verfahren primärer Mündlichkeit können einerseits den Diskurs rhythmisieren und poetisieren, andererseits zu einer besonderen Ökonomie des Diskurses beitragen, die diesen für Erzähler und Zuhörer nachvollziehbar und memorierbar machen. Diese Verfahren verstärken die phatische, expressive und poetische und auch die pädagogische Funktion des Diskurses.