Das letzte aller Tage

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Sari: Lindemanns #279
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„Meine Mama ...“, begann sie zögerlich, „meine Mama muss nächste Woche deswegen auch ins Krankenhaus ...“ Dann brach sie ab und Tränen kullerten über ihre Wange.

„Ich habe euch gewarnt!“, sagte Sabine etwas mitleidlos. „Kommt, lasst uns über etwas anderes reden. Ich bestell noch mal ne Runde zum Runterspülen.“

„Sag mal, Sabine, du bist aber abgebrüht.“ Ich schüttelte meinen Kopf.

„Glaub mir, Schätzchen“, sagte Sabine, „als ich das zum ersten Mal gehört habe, war ich genauso geschockt wie du. Danach habe ich mir geschworen, meine Gebärmutter bis aufs Blut zu verteidigen. Die nehme ich mit ins Grab!“

„Aber wir können doch nicht einfach so tun, als ob das normal wäre, was uns Frauen angetan wird. Wir müssen doch aufgeklärt werden. Da muss man doch was unternehmen“, sagte ich kopfschüttelnd.

„Etwas zu unternehmen, hast du doch eben versucht“, stellte Sabine nüchtern fest. „Weißt doch, was deine Krankenkasse dazu gesagt hat. Und glaubst du etwa, ein anderer Frauenarzt würde da irgendwas bei der Ärztekammer bestätigen oder bezeugen? Und wenn ja, was denn? Frau Doktor Vaginia operiert zu viel. – Was spricht dagegen? Sie ist halt fleißiger als ihre Kollegen. Vergiss es, Schätzchen, und freu dich lieber, dass du noch mal davon gekommen bist! Prost!“

„Aber ...“, protestierte ich.

„Nichts aber! Halt dich damit nicht auf und frag in Zukunft lieber mich, bevor du da unten an dir rumschrauben lässt. Los jetzt, Gläser in die Hand“, bestimmte Sabine. „Ich hab auch einen guten Trinkspruch: Auf unsere Gebärmütter und auf dass wir vom Scheidenpilz verschont bleiben!“

„Also hör mal ...!“, echauffierte ich mich.

Dennoch tranken wir unsere Gläser leer, die geschockte Martina in einem Zug, und bestellten noch eine weitere Runde Sekt. Martina bestellte sich allerdings ein Pils und einen Schnaps. Hans, unser Stammwirt, brachte die Getränke und hielt Martina für einen kurzen Moment das Pils vor ihre Nase und sagte: „Das ist doch besser als die Sektplörre der Weiber. Lieber ein Pils im Glas als einen Pilz in der Vagina ... zum Wohl, Martina!“

„Hau bloß ab, du Penner“, lachte Sabine lauthals wie ein Bauarbeiter. „Hast du uns etwa wieder einmal belauscht? Die nächste Runde geht für drastisches Fehlverhalten und frauenfeindliche Äußerung aufs Haus, dass das klar ist!“

„Klar!“, sagte Hans und zwinkerte uns lachend zu.

Alkohol ist manchmal doch eine Lösung.

Fünfzehn Jahre sind seit dieser Zeit vergangen und seit fünfzehn Jahren gehe ich nun zu meinem Gebärmutter-Retter-Frauenarzt, Doktor Paules. Seit dieser Zeit begleitet er mich durch Krebs-Vorsorgeuntersuchungen, Scheidenpilze, Brustschmerzen, Abstriche, PMS und neuerdings wohl durch die bedrohlichen Wechseljahre. Fünfzehn Jahre lang war ich mit ihm zufrieden – bis zum heutigen Tag. Wir saßen uns gegenüber, zwischen uns wie eine Mauer der schwere Mahagonischreibtisch. Abwartend sah er mich an.

Mit welchen Worten sollte ich ihm mein Problem erklären? Ach, was soll’s, dachte ich und legte los. „Ich will meinen Orgasmus wiederhaben“, platzte es aus mir heraus. Schamvoll sah ich nach unten auf meine im Schoß gefalteten Hände. Mann, wie blöd bist Du eigentlich?, fragte ich mich. Das hätte ich auch anders formulieren können. Langsam hob ich meinen Kopf und sah ihm direkt in sein sanft lächelndes Gesicht.

„Liebe Frau Marsch“, setzte er an. „Könnten Sie mir ihr Problem etwas deutlicher schildern?“

Konzentrier dich! „Sie haben mir doch diese Hormonersatzpillen verschrieben.“ Ich legte die Packung auf den Mahagonischreibtisch.

„Ja, kommen Sie damit klar? Sie wissen, dass Sie die jetzt mindestens fünf Jahre lang nehmen müssen?“

„Nein ... also ja ... das heißt, ich erinnere mich, dass Sie das gesagt haben ... Aber nein, ich komme damit nicht klar. Ich habe nämlich kein Gefühl mehr, wenn ich mit meinem Mann schlafe. Ich habe auch überhaupt keine Lust mehr. Das geht so nicht!“, herausfordernd sah ich ihn an.

„Meine liebe Frau Marsch, Sie sind ja jetzt auch schon älter (wie bitte? Ich bin erst Mitte vierzig! – und gefühlte dreißig!), da ist das mit der Libido nicht mehr so wie früher! (Was?) Sie befinden sich jetzt mitten in den Wechseljahren, in der Perimenopause. Mit der Zeit wird Ihre Libido ganz verschwinden. Da kann man gar nichts machen. (WAS?) Sie müssen sich an diesen Zustand gewöhnen (Das will ich aber nicht!).“ Sanft lächelnd sah er mich an. In diesem Moment hätte ich ihn erwürgen können.

„Das kann aber nicht sein, Herr Doktor Paules!“, protestierte ich. „Bevor Sie mir diese Hormonersatzdinger da verschrieben haben, war bei mir alles in Ordnung! Ich hatte Lust auf Sex und meine Orgasmen. Das ist jetzt die dritte Pillenpackung von unterschiedlichen Herstellern, die Sie mir im letzten halben Jahr gegeben haben. Erst seit ich mit diesen Hormonen anfing, ist das alles noch viel schlimmer geworden. Sie sind es doch, der meinen Unterleib mit diesem Zeug komplett lahmgelegt hat. Ich spüre seither nichts mehr, alles ist wie tot! Verstehen Sie mich? Sie können mir doch nicht ernsthaft sagen wollen, dass mein Sexualleben jetzt zu Ende sein soll?“

„Liebe Frau Marsch, Ihre Eierstöcke sind nun mal dabei, ihre Arbeit einzustellen. Sie verkümmern langsam, aber sicher. Ihre Hormonproduktion lässt jetzt immer mehr nach und hört irgendwann ganz auf. Deshalb fehlen Ihnen folglich mehr und mehr die notwendigen Hormone. Und das muss behandelt werden. Sie sind jetzt eben bald, na wie soll ich sagen ... keine richtige, also keine funktionierende Frau mehr.“

Ich holte tief Luft, was Doktor Paules sofort mit erhobenen Händen und den Worten „Moment, Moment, lassen Sie mich ausreden“ quittierte. „Sehen Sie, die Eierstöcke sind für die Produktion der weiblichen Sexualhormone zuständig wie die Östrogene und das Progesteron. Und die sorgen unter anderem für bestimmte Steuerungshormone in unserem Gehirn, die wiederum die Abgabe der Sexualhormone steuern. Die regulieren dann die Fruchtbarkeit und Sexualfunktionen, verstehen Sie das?“ (Ich nickte nicht.) „Alles wird ab jetzt nachlassen, die Elastizität Ihrer Haut, wodurch Ihr Hautgewebe schlaffer wird, und Ihre Haare wachsen dann auch nicht mehr so gut und werden weniger, wohingegen sich Behaarung an anderen Stellen bemerkbar machen kann.“ Dabei tippte er sich mit dem Finger dezent zwischen Nase und Oberlippe.

Du meine Güte, was für ein Horrorszenario. Und dann auch noch einen weiblichen Schnauzbart – wer will das schon? Mir wurde übel.

„Auch müssen Sie sich jetzt um Ihre Knochengesundheit kümmern. Dazu brauchen Sie die Hormone“, hörte ich ihn wie durch Watte weiterplappern.

Was erzählt er mir da eigentlich alles?

„... auch die Blutfette und die hinzukommenden Herz- und Kreislauferkrankungen ...“

Das glaube ich jetzt alles nicht. Was läuft hier?

„... tja, das und noch mehr erwartet Sie in den nächsten Jahren – so in groben Zügen mal gesagt. Die Vorboten kennen Sie ja schon, Ihr Brustspannen, die unregelmäßigen Zyklen und ganz besonders Ihre zunehmende Gereiztheit ...“

In aller Seelenruhe saß Doktor Paules da, beschrieb mir meine deprimierende Zukunft und wollte mich glauben lassen, dass ich ab jetzt keine normale Frau mehr bin. Das liege aber nicht an mir, sondern an der Natur, weil die nämlich eine Fehlsteuerung bei mir eingebaut hat. Und deshalb muss ich ab jetzt auch medizinisch behandelt werden. Je mehr er mir erzählte, umso wütender wurde ich. Die Unterhaltung begann mich unheimlich zu ärgern. Als ob ich mittlerweile nicht selbst weiß, dass meine Fruchtbarkeitsphase bald endgültig vorbei sein wird. Aber muss ich deswegen zu einem sexlosen, erschlafften Etwas mit dünnen Haaren mutieren? Wollte ich das alles wissen? Ich habe ein Problem, ein individuelles Problem! Ich bin doch hier um zu erfahren, wie es mit meinem Sexleben weitergehen soll! Ich wollte keinen Vortrag über irgendwelche Krankheiten und Gebrechen, die mich in absehbarer Zeit heimsuchen würden. Sollte das ein Witz sein? Selbst wenn dem so wäre, wäre es dann nicht netter gewesen, mir meinen zu erwartenden, körperlichen Totalausfall schonender beizubringen?

„Frau Marsch, hören Sie mir noch zu?“ Er sah mich irritiert an. „Haben Sie das öfters?“, kritisch beäugte mich mein Frauenarzt.

Was meint er? Ich hab doch gar nichts gemacht, außer, dass ich mir lebhaft vorstellte, wie ich ihm so ein Elektroschockerdingsbums an den Hals halte ... brrrzzz ... und schlagartig würde er aufhören, mich zu nerven.

„Entschuldigung, was sagten Sie?“, fragte ich ertappt meinen Kopf schüttelnd.

„Ich fragte Sie, ob es Ihnen öfter passiert, dass Sie sich während eines Gesprächs geistig einfach ausklinken.“

Ach das meinte er. „Nö“, antwortete ich prompt und dachte dabei: Das passiert mir nur bei dir, weil du so ein unsensibler Idiot bist und dir mein Sexleben egal ist. „Ich war ganz bei Ihnen“, sagte ich, was allerdings gelogen war. „Aber mit einer Aufzählung all der schrecklichen Dinge, die jetzt laut Ihrer Beschreibung aus dem Nichts auf mich zukommen werden, bringen Sie mich in meiner momentanen Situation auch nicht weiter. Ich glaube, ich gehe jetzt lieber.“

„Frau Marsch, nun gedulden Sie sich doch noch einen Moment, ich muss Sie doch aufklären, damit Sie die Notwendigkeit der Hormontherapie auch verstehen. Meiner Meinung nach, wenn ich mir das erlauben darf, sind Sie recht unkonzentriert und unaufmerksam. Auch das spricht leider dafür, dass Ihre Leistungen in jeglicher Hinsicht, bedingt durch die Wechseljahre, schon anfangen nachzulassen. Sie brauchen die Hormone!“

Dummschwätzer, dachte ich, sagte aber nur: „Nun, Ihre Aufklärung (das Wort Aufklärung betonte ich spitz) bringt mich, auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole, keineswegs weiter, und ich muss sagen, ich bin nach all den Jahren, die ich bei Ihnen in Behandlung bin, sehr enttäuscht von Ihnen!“

 

„Wie bitte? Ich bemühe mich doch, Ihnen Ihren Zustand zu erklären ...“

„Ich brauche niemanden, der mir meinen Scheißzustand erklärt“, fiel ich ihm wütend ins Wort. „Ich befinde mich zufälligerweise darin und weiß sehr wohl, wie es mir geht! Sie haben meine Kernbotschaft nicht verstanden. ICH WILL KEINE WECHSELJAHRE! UND ICH WILL KEINE MENOPAUSE! UND ICH WILL WIEDER EINEN ORGASMUS HABEN!“, donnerte ich laut los.

„Sehen Sie! Ihre Aggressivität kommt auch noch dazu. Sie brauchen dringend Hormone, sonst wird das immer schlimmer mit Ihnen.“

„Jawohl, Sie haben recht! Meine Aggressivität kommt auch noch dazu und ich werde immer schlimmer und schlimmer“, fauchte ich. „Und anstatt mir zu helfen, nicht immer schlimmer und schlimmer zu werden, haben Sie nichts Besseres zu tun, als mir eine weitere Pillenpackung über Ihren doofen Tisch zu schieben. Mal gucken, was dieses Mal mit Ihrer lieben Frau Marsch passiert, was?“ Ich holte tief Luft, um weiterreden zu können. „Haben Sie überhaupt annähernd eine Ahnung, wie es ist, null, und ich betone, absolut NULL (mit dem Daumen und Zeigefinger formte ich eine Null) für seinen eigenen Körper zu empfinden? Haben Sie überhaupt eine Ahnung davon?“, bellte ich weiter, „wie sich dabei zudem mein Mann fühlen muss? Nein! Haben Sie nicht! Sie sitzen hier und erklären mir gerade, dass meine Eierstöcke verschrumpeln und deswegen meine Knochen zerbröseln. Dass mein Körper zerfällt und ich herzkrank werde, und dass ich mich von meiner Libido verabschieden muss. Sie sitzen hier und erklären mir mit Ihrem sanften Lächeln, das man – bei allem Respekt – gerne für kleine Kinder oder Bescheuerte aufsetzt, dass mein Körper ein biologischer Versager ist, weil er länger lebt, als er Hormone produzieren kann. Glauben Sie allen Ernstes, das ich DAS von Ihnen hören wollte?“

„Jetzt beruhigen Sie sich doch. Sie müssen der Realität eben ins Auge sehen. Und natürlich helfe ich Ihnen gern. Wir können es ja mit einer anderen Hormontherapie versuchen. Vielleicht verbessern sich Ihre Beschwerden dann.“

Er ging zum Schrank und holte ein weiteres Unverkäufliches Muster heraus. „Probieren Sie doch mal diese.“

„Ich will aber nichts mehr ausprobieren!“ Vehement schob ich die Packung wieder zurück. „Sie schlagen mir jetzt die vierte Hormontherapie vor. Bei den ersten Pillen musste ich Tag und Nacht mit Übelkeit und Kopfschmerzen kämpfen. Mein Herz raste und meine Augen flimmerten. Meine Brüste schwollen dermaßen an, dass ich dachte, die explodieren gleich! Die zweiten ließen meine Beine so dick aufquellen, dass ich meine Hosenbeine nicht mal mehr über die Waden bekam. Von den Wasseransammlungen in meinen Fingern und der Dauerverstopfung ganz zu schweigen. Und die letzten Pillen haben mich zur Heulsuse und zum Sexkrüppel gemacht. Ja, bin ich denn Ihr Versuchskaninchen? Sie kennen mich doch nun schon seit über fünfzehn Jahren. Könnten Sie sich bitte etwas mehr Mühe geben? Könnten Sie mich bitte individuell beraten und mich nicht einfach nur eine Pillensorte nach der anderen durchprobieren lassen? Helfen Sie mir! Sagen Sie mir, wie ich die nächsten Jahre mit meinen abschlaffenden Eierstöcken weiterleben soll.“ Ich war verzweifelt und die ersten Tränen kullerten los.

„Meine liebe Frau Marsch, nun beruhigen Sie sich doch. Wenn Sie keine Hormone nehmen wollen, dann verstärken sich Ihre Beschwerden wieder, und das möchten Sie doch auch nicht, oder?“

„Nein, das möchte ich auch nicht! Ich möchte das ALLES nicht! Ich hab’s doch schon gesagt, ich möchte keine Wechseljahre! Ich möchte wieder ich sein. Ausgeglichen, unternehmungslustig, sexy. Ich möchte mein altes Leben zurück“, jammerte ich.

„Nun, Ihr altes Leben bekommen Sie nie wieder zurück.“ Sanft lächelnd und mit einem mitleidigen Gesichtsausdruck schüttelte Doktor Paules langsam, aber bestimmt seinen Kopf. Genau diesen Gesichtsausdruck konnte ich jetzt nicht gebrauchen!

„Das war’s also? Habe ich keine Wahl?“, entmutigt, jedoch mit einer winzigen Spur Hoffnung, dass er mir widersprechen würde, sah ich ihn an.

Er schüttelte jedoch nur weiter seinen Kopf. „Probieren Sie die aus“, er schob die Pillenpackung langsam, mit einem schleifenden Geräusch, wieder in meine Richtung. Ich nahm die Packung in die Hand, drehte und wendete sie skeptisch und fragte ihn, ob auch diese Hormone, wie all die anderen, keine verhütende Wirkung haben.

„Richtig, Frau Marsch. Ich kann Ihnen doch in Ihrem Alter kein hormonelles Verhütungsmittel mehr verschreiben. Die Hormonspirale wollten Sie ja nicht mehr haben und gegen eine normale Spirale waren Sie auch. Wenn Sie in Ihrem Alter die Pille zur Verhütung nehmen würden, hätten wir zwar den positiven Nebeneffekt, dass sich Ihr Zyklus wieder reguliert und vielleicht eine positive Wirkung auf Haut und Haare ...“ Warum sagt er eigentlich immer WIR? Es geht doch um mich. Und was spricht gegen eine positive Wirkung auf meine Haut und Haare?

„Aber ...“, sprach er weiter, „in Ihrem Alter würde dadurch auch deutlich Ihr Risiko für Erkrankungen wie Herzinfarkt, Schlaganfall oder Blutgerinnsel steigen. Die Einnahme der Pille, vor allem in Kombination mit dem Rauchen, erhöht zusätzlich die Inzidenz (die was?) und die Mortalität von Herzinfarkten und Schlaganfällen. Auch Adipositas steigert das Erkrankungsrisiko. Raucherinnen und adipöse Patientinnen sollten daher eine andere Verhütungsmethode als die oralen Kontrazeptiva wählen. Auch Frauen mit Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörungen oder einem familiären Thromboserisiko sollten keine Ovulationshemmer einnehmen.“

„Wieso erzählen Sie mir das eigentlich alles? Sehe ich aus, als ob ich einen gestörten Fettstoffwechsel habe oder eine Bluthochdrucklerin bin? Und warum sagen Sie nicht einfach das Wort Pille anstatt Kontrazeptiva und all die komischen anderen Wörter, die kein Mensch versteht?“

Doktor Paules stutzte. „Frau Marsch, ich verstehe Sie nicht. Sie wollten doch keine Verhütung mit synthetischen Hormonen und jetzt fragen Sie mich nach der Pille? Da muss ich Sie doch aufklären!“

Ich hielt ihm die Pillenschachtel vor die Nase. „Nein, das haben Sie falsch verstanden. Ich fragte nicht nach der Pille, sondern ich fragte Sie lediglich, ob diese Hormone zugleich auch verhütend wirken. Ich dachte nämlich, wenn ich schon Hormone nehmen muss, dann könnten die wenigstens eine Schwangerschaft verhüten. Dann hätte ich eine Sorge weniger. Schließlich muss ich doch daran auch noch denken, oder wie sehen Sie das?“

„Um Gottes willen, ja, Sie müssen auf jeden Fall noch an eine Verhütung denken!“, sagte Doktor Paules eindringlich.

An Verhütung denken ist gut, dachte ich. Wozu eigentlich? Ich hab doch eh keine Lust auf Sex. Meine schwindende Libido und meine Orgasmusunfähigkeit verleiden mir sowieso alles. Ohne Sex gibt’s auch nichts zu verhüten, ergo keine Kinder (außer man heißt Maria).

„Eine Schwangerschaft ist bei Ihnen erst dann sicher auszuschließen, wenn Sie Ihre letzte Blutung festgestellt haben. Das ist im Allgemeinen zwischen dem fünfzigsten und dem zweiundfünfzigsten Lebensjahr. Natürlich könnte die Unfruchtbarkeit auch durch eine Untersuchung des FSH-Spiegels und des Östrogenspiegels festgestellt werden.“

„Interessant“, sagte ich. „Und was ist ein FSH-Spiegel?“

„FSH bedeutet follikelstimulierendes Hormon und das stammt aus dem Vorderlappen der Hirnanhangdrüse, auch Hypophyse genannt. Das Hormon fordert die Produktion der Östrogene im Eierstock und bewirkt somit ein Heranreifen des Eis. Wenn das Östrogen allerdings absinkt, kommt es zur Unregelmäßigkeit und Abnahme der Follikelreifung. Vereinfacht gesagt strengt sich der Körper dann mehr an, um das follikelstimulierende Hormon FSH zu produzieren. Der Wert im Blut steigt dadurch an. Um Ihnen das Ganze in Zahlen zu beschreiben, zeige ich Ihnen kurz eine Tabelle.“

Er zog ein Blatt Papier aus der Schublade seines Tischmonstrums. „Schauen Sie mal, in der ersten Zyklushälfte beträgt der FSH-Wert im Blut zwischen 3,0 und 8,1 Einheiten. Zum Eisprung liegt die Konzentration bei 2,6 bis 16,7 Einheiten. In der zweiten Zyklushälfte zwischen 1,4 und 5,5, in der Schwangerschaft liegt er bei unter 0,3 Einheiten und Frauen nach den Wechseljahren weisen einen FSH-Wert von 26,7 bis 133,4 Einheiten auf. Sehen Sie das?“, sagte Doktor Paules und tippte auf die Zeile mit den Wechseljahren. Ich bin zwar stinksauer, aber nicht blind, dachte ich und schoss zwei Pfeile aus meinen Augen direkt in sein Hirn.

„Der Wert steigt drastisch an, wenn die Eierstöcke nicht mehr richtig funktionieren beziehungsweise ihre Arbeit einstellen.“

„Hmm ... lassen Sie mich das mal kurz rekapitulieren. Mein Körper funktioniert nicht mehr, wie er soll. Auf der einen Seite sinkt etwas rapide ab und auf der anderen Seite steigt etwas rapide an. Und deshalb soll ich jetzt zum vierten Mal einen weiteren Hormoncocktail ausprobieren, obwohl die zugeführten Hormone meine Beschwerden bislang nicht verringerten, sondern, wie die Praxis zeigte, verstärkten. Künstliche Hormone, die sich einen Dreck um meine schwindende Libido kümmern, die sich demnächst, laut Ihrer Aussage, komplett verdünnisiert hat. Wenn ich die Hormone, die Sie mir so freundlich gratis anbieten, nehme, worin besteht dann eigentlich mein Vorteil? Steigt dann wieder das Gesunkene oder sinkt dann das Gestiegene?“

„Ich verstehe nicht ...“, sagte Doktor Paules leicht verunsichert.

„Sehen Sie! Mir geht es genau wie Ihnen. Ich verstehe auch nicht!“, sagte ich ein wenig arrogant.

Irgendwie gefiel es mir, diesen Mann, der sich während unseres Gespräches zwar fachlich ergoss, sich jedoch nicht einmal annähernd mit meiner persönlichen körperlichen und seelischen Verfassung auseinandersetzte, so verdutzt zu sehen.

Ich stand ganz langsam auf und sah ihn dabei durchdringend an, mit einem Blick, der ihm sagen sollte, dass er noch mal über dieses Pauschal-Hormon-Wechseljahr-Gespräch nachdenken sollte.

„Kann ich noch etwas für Sie tun?“, fragte er leise nach einer kurzen Pause.

„Nein, danke!“, sagte ich und hängte in Gedanken noch ein du Blödkopf! dran. Widerwillig nahm ich die Pillenpackung, ließ sie in meine Handtasche plumpsen und ging grußlos. Auf dem Heimweg hatte ich das Gefühl, als ob einzelne Sätze des Gespräches wie silberne Flipperkugeln gegen meine Gehirnwände knallten. Ich wartete ängstlich auf den ultimativen Schlag in meinem Kopf, der meine Schädeldecke zum Abheben bringen würde ...

So läuft das also: Mein Körper steuert mit den Wechseljahren selbstständig auf einen Super-GAU zu und mein Arzt schwatzt mir eine Pille auf. Die Pille nach der Pille. Futter weiter brav deine Hormone und schweig dazu! Ist es nicht völlig normal, wenn man sich nach so einem Gespräch einfach umbringen will?

Jetzt bin ich dem Zerfall geweiht und raus aus dem großen Spiel des Lebens? Dass ich zunehmend Falten bekommen werde, war noch meine geringste Sorge. Auch mit Falten kann man guten Sex haben! Werde ich ab jetzt nie wieder ein normales Sexualleben haben? Werde ich nie wieder eine normale Frau sein? Werde ich für immer frigide bleiben? Werde ich frustrierter? vergesslicher? kränklicher? müder? aggressiver? heulender? depressiver?

Habe ich das richtig verstanden? Im selben Maße, in dem meine Eierstöcke abschlaffen, verkümmern ich und der Rest meines gesamten Körpers gleichermaßen? Ein gravierender Fehler im System! Da hat die Natur bei uns Frauen ja ganz schön gepfuscht! Operation gelungen, Patient tot ... Verdammt! Ist die Frau ein Irrtum oder nur eine schlechte Laune der Natur? Bin ich neuerdings ein Totalausfall? Was erwartet das Leben von mir? Dass ich mit diesem Horror einverstanden bin und mit einem Siechtum auf Raten einfach klaglos klarkomme? Und bei all diesem ganzen Mist muss ich auch noch aufpassen, nicht schwanger zu werden ... schwanger! In meinem Alter ... das wär’s jetzt noch ... da kann ich mich ja gleich erschießen!

Nun ja, dass die Wahrscheinlichkeit einer Schwangerschaft bei Frauen ab fünfundvierzig gerade mal bei zwei bis drei Prozent und bei Eintritt in die Menopause bei deutlich unter einem Prozent liegt, beruhigt mich etwas. Die Wahrscheinlichkeit, im Lotto drei Richtige zu haben, liegt bei 1,76 Prozent, für sechs Richtige bei 0,000007 Prozent. Weder drei noch sechs Richtige habe ich durch jahrzehntelanges Lottospielen bislang geschafft – da werde ich doch beim Kinderkriegen ab fünfundvierzig nicht plötzlich zum Glückspilz mutieren!

Nach Zahlen des Statistischen Bundesamts wurden in Deutschland im Jahr 2010 insgesamt 677.947 Kinder lebend geboren. 576 der Mütter waren zwischen 46 und 50 Jahren alt, 67 Mütter waren älter als 50 Jahre. Oh mein Gott – mit über fünfzig ein Kind zu kriegen, das will ich mir erst gar nicht vorstellen.

 

Wie lange kann eine Frau überhaupt schwanger werden? Soweit ich weiß, ist eine Schwangerschaft zumindest theoretisch denkbar, solange die Frauen ihre Menstruation haben. Nachdem bei uns europäischen Frauen durchschnittlich zwischen einundfünfzig und zweiundfünfzig Jahren die Menopause, also die letzte Regelblutung, einsetzt, habe ich ja noch ein paar Jährchen zu verhüten. Selbst wenn man zweiundfünfzig Jahre alt ist, darf man sich nicht lediglich aufgrund des Alters in Sicherheit wiegen. Bei manchen Frauen tritt dieser Zeitpunkt nämlich früher ein, bei manchen später. Grundsätzlich und blöderweise ist also eine Schwangerschaft während der Wechseljahre möglich. Auch wenn die Möglichkeit bei „unter einem Prozent“ liegt, bedeutet das schlichtweg, dass es dennoch eine Wahrscheinlichkeit gibt.

Um das Ganze noch zu toppen, hält die Natur eine Überraschung für Mütter jenseits der vierzig bereit. Der Körper bereitet sich nämlich mit den herannahenden Wechseljahren auf einen Endspurt vor. Die Hormone spielen komplett verrückt, was auch die unglaublichen Stimmungsschwankungen und weitere unwillkommene Veränderungen in diesem Alter bei uns Frauen erklärt. Mit diesen Hormon-Wechselbädern versucht der Körper anscheinend, die allerletzten Follikel aus den Eierstöcken rauszuquetschen. Und da kann es manchmal passieren, dass mehr als nur eine Eizelle durch den Eileiter wandert. Und wenn es in dieser Phase zur Befruchtung kommt, dann steigt die Wahrscheinlichkeit, Zwillinge zu gebären. ÜBERRASCHUNG!

Zwillinge – nicht auszudenken. Das fehlt wahrscheinlich jeder Frau ab vierzig gerade noch. Und wie kann man das verhindern? Mein Arzt sagte ja, dass er mir in meinem Alter von der Pille als Verhütungsmittel abrät, da die Risiken, an Herz-Kreislauf-Problemen oder Thrombose zu erkranken, dadurch enorm steigen. Also besser Finger weg von der Pille in den Wechseljahren. Und auch von synthetischen Hormonen?

Zu Hause las ich erst mal den Beipackzettel meines neuen, vierten unverkäuflichen Musters, das mir mein Frauenarzt ans Herz gelegt hatte. Die Verpackung war ansprechend und feminin gestaltet. Schön dezent in unschuldigem Babyhellblau mit weißen Bling-Bling-Glitzerblümchen darauf – irgendwie auf jugendlich gepimpt. Ist das ein Trick der Pharmaindustrie, damit wir uns nicht wie alte, wechseljährige Frauen, sondern wie lebensbejahende Teenager fühlen? Ich machte mich an die Patienteninformation und las:

Die Hormonersatztherapie (HET) enthält zwei aktive Substanzen: ein Estrogen (Estradiol) und ein Gestagen (Nomegestrolacetat). Die Substanzen wirken auf ähnliche Art wie die natürlichen, im Körper vorhandenen Hormone. Die HET wird angewendet zur Linderung der Symptome nach den Wechseljahren.

Na, schau einer an. Jetzt bin ich nach Meinung meines Frauenarztes schon nach den Wechseljahren. Gut, dass dieses Wissen jetzt auch bei mir angekommen ist. Und was soll das bedeuten:

„Die Substanzen wirken auf ähnliche Art wie die natürlichen, im Körper vorhandenen Hormone.“ Wieso ähnliche Art? Wenn ich eine Bluttransfusion zum Ersatz meines fehlenden Blutes brauche, dann muss doch die Blutgruppe auch stimmen und nicht einfach nur ähnlich sein! Was soll denn mein Körper mit Substanzen einer ähnlichen Art anfangen?

Als Nächstes las ich die Vorsichtsmaßnahmen, wann diese Pille nicht eingenommen werden darf und was bei der Anwendung mit anderen Arzneimitteln zu beachten ist. Und wenn noch Fragen sind? Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie bitte Ihren Arzt oder Apotheker ...

Welche Nebenwirkungen sind möglich?

Die folgenden Krankheiten werden häufiger bei Frauen, die HET nehmen, berichtet, verglichen mit Frauen ohne HET: Brustkrebs; Abnormes Wachstum oder Krebs der Gebärmutterschleimhaut; Eierstockkrebs; Blutgerinnsel in den Venen der Beine oder Lunge; Herzkrankheit; Schlaganfall. Möglicher Gedächtnisschwund, wenn mit der HET nach dem Alter von 65 Jahren begonnen wird.

Ja, da fragte ich mich doch sofort, wozu man im Alter von 65 Jahren noch ein Gedächtnis braucht? Sind die Hersteller dieser ähnlich wirkenden Substanzen eigentlich noch ganz dicht?

Dann las ich noch die häufigen Nebenwirkungen: Regelschmerzen, verlängerte Blutung, Menstruationsstörungen, Weißfluss, Verschlimmerung von Gebärmuttermyomen, Schmerzen im Unterleib, Bauchschmerzen, Schwellung, Kopfschmerzen, Muskelkrämpfe, Gliederschmerzen, Nervosität, Depression, Libidoverlust, Gewichtszunahme. Weitere weniger häufige Nebenwirkungen: Gutartige Tumore der Brust, Gebärmutterpolypen, vaginale Candida-Infektion, Erbrechen, Verstopfung, Durchfall, Migräne, Benommenheit, Gelenkschmerzen, Oberflächliche und tiefe Venenthrombosen, erhöhter Appetit, allgemeine Körperschwäche, Hautausschlag, Haarausfall ... und noch so einiges mehr!

Und dieses Zeug soll ich jetzt nehmen? Bei den ganzen Nebenwirkungen sollte man am besten einen Notarzt zum Nachbarn haben. Mein Frauenarzt bringt mich damit jedenfalls nicht weiter, sondern höchstwahrscheinlich nur zügig um. Aber das würde ich ja gar nicht mehr merken, weil mir die synthetischen Hormone vorher mein Gedächtnis zerschreddern. Der Vorteil dieses Herstellers besteht eindeutig darin, dass sich die Wechseljährigen mit der Zeit durch möglichen Gedächtnisschwund nicht mehr daran erinnern, wen sie später zu verklagen haben, falls durch die Einnahme der Hormone etwas schiefgehen sollte! Ich schnaubte wütend.

Von der Einnahme dieser synthetischen Hormone ist zumindest mein Frauenarzt überzeugt. Hat der jemals den Beipackzettel gelesen? Bekommt der eigentlich für Medikamentenempfehlungen Provision? Und worin bitte besteht denn jetzt der Unterschied zwischen einer Verhütungs-Pille und einer Wechseljahr-Pille, wenn beide dieselben Nebenwirkungen hervorrufen? Der einzige Gewinner bei diesen Pillchen scheint die Pharmaindustrie zu sein, die sich damit eine goldene Nase verdient.

Das Geschäft mit uns Frauen ist in jeder Hinsicht ziemlich lukrativ. Allein die Aufzählung banaler Frauenkosmetikartikel, die wir, suggeriert von den Kosmetikkonzernen, unbedingt benötigen, sprengen jeglichen Rahmen. Hochglanzfotos luxuriöser Produkte rauben uns tagtäglich den Verstand.

12,3 Milliarden Euro werden jährlich für Schönheitsprodukte ausgegeben und Jahr für Jahr steigen die Gewinne weiter an. Das Streben nach Schönheit lassen wir Frauen uns ganz schön was kosten. Der Kampf gegen Falten im Gesicht hat Hochkonjunktur, und der Markt ist hart umkämpft. Die schönsten Fotomodelle lächeln uns von riesigen Plakaten entgegen und lassen uns glauben, dass jeder Mensch durch die passenden Produkte so jung und schön aussehen kann. Mittlerweile haben auch wir es geschnallt, dass die ewige Jugend versprechenden Schönheiten in den Magazinen im zarten Teenageralter sind. Obwohl die Hautalterung erst ab dreißig richtig einsetzt, hat kaum ein Fotomodel diese magische Grenze überschritten. Und werbewirksame Hollywood-Stars über dreißig werden erst einmal am Computer entknittert, bevor eine Kampagne gestartet wird.

Zähneknirschend muss ich feststellen, dass diese Bilder auch bei mir nicht ihre Wirkung verfehlen. Wir (ich) kaufen und kaufen und kaufen ... Der schöne Schein der Jugendlichkeit suggeriert uns ein nicht zu haltendes Versprechen und lässt uns tief in die Haushaltskasse greifen.

An alle Frauen ein Zuruf, der uns (und ganz besonders mir!) gar nicht gefallen wird: Eine wissenschaftliche Studie, die nachweist, dass Anti-Age-Cremes das Altern der Haut tatsächlich hinauszögern, gibt es bislang (laut Stiftung Warentest) noch nicht. Und für all diejenigen, die den Traum von der ewigen Jugend trotz dieser Ergebnisse auf gar keinen Fall begraben wollen, gibt es immer noch eins: Prinzip Hoffnung. Aber auch wenn es heißt, dass die Hoffnung zuletzt stirbt, müssen wir alle daran denken: Auch sie stirbt! Und was machen wir jetzt mit dem Bataillon von Tuben, Töpfchen und Tiegelchen im Badezimmer, beschriftet mit Zaubervokabeln wie „rejuvenating“, „hydrating“, „illuminating“, „retexturizing“ und „skin-enriching“? Rausgeschmissenes Geld, behauptet die Wissenschaft, Anti-Aging sei in Wahrheit unschlagbar günstig, es belaufe sich auf die simple Trias: gesunde Ernährung, ausreichend Schlaf und immer ordentlich Sonnenschutz.