Volk Gottes

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Die einleitenden Worte Kardinal Ottavianis über die Kirchenkonstitution anlässlich des Beginns der Debatte am 1. Dezember 1962 nehmen die von der Theologischen Kommission befürchteten Einwände gegen das Schema (zu juridisch, nicht pastoral und ökumenisch genug) vorweg.310 Nach ersten Anmerkungen durch Kardinal Liénart (Lille) über die zu schwache Präsenz des mystischen Aspektes der Kirche311, plädiert Kardinal König (Wien) als vierter Redner für eine gründliche Überarbeitung des vorgelegten Textes. Er regt unter anderem eine Einleitung der Kapitel III und IV über die Bischöfe und die Laien durch einen Abschnitt über das „Volk Gottes“ an, zu dessen Aufbau schließlich die hierarchischen Ämter bestimmt sind. Die Verbindung zwischen Klerus und Laien müsse auf diese Weise deutlich gemacht werden. Laien seien, so König, nicht bloß passive Empfänger der Lehre sondern nehmen als Mitglieder der Glaubensgemeinschaft auch Einfluss auf sie.312 In verschärfter Form wird dieses Argument von Bischof De Smendt (Brügge) als achtem Redner zum Ausdruck gebracht. Im „Volk Gottes“, so der Bischof, sind alle durch das in der Taufe empfangene gemeinsame Priestertum verbunden, vorgängig zu ihren Ämtern und Aufgaben: „Omnes partecipamus regali sacerdotio populi Dei. Papa est unus ex fidelibus, episcopi, sacerdotes, laici, religiosi, omnes sumus fideles.“313 Das „Volk Gottes auf dem Weg“ werde durch Christus geleitet, der sich dabei der Ämter bedient. In der eschatologischen Perspektive werde das „Volk Gottes“ als Realität bleiben, während das hierarchische Amt vergehe. Daher gehe dieser Begriff zur Beschreibung der Kirche auch den anderen voran.314 Kardinal Döpfner (München-Freising) spricht am 3. Dezember von der Notwendigkeit einer „idea fundamentalis“ für die Kirchenkonstitution und nennt die „ecclesiologia populi Dei“ als eine solche Grundlage für die späteren Ausführungen zum Episkopat.315 In Bezug auf den „Volk Gottes“-Begriff sind die in der Debatte in 162 Beiträgen316 geäußerten Argumente damit bereits im Wesentlichen beschrieben: 1. Das vorgelegte Konzilsschema bedarf einer Überarbeitung hinsichtlich des mystischen (heilsgeschichtlichen) Charakters der Kirche.317 Dabei ist eine Ergänzung zum Begriff „Leib Christi“ durch andere biblische Bilder, u.a. „Volk Gottes“ nötig.318 2. Durch „Volk Gottes“ soll die gemeinsame Sendung und Würde aller Glieder der Kirche zum Ausdruck kommen, bevor Differenzierungen hinsichtlich des geistlichen Amtes, des Ordensstandes und der Laien erfolgen.319 Zudem äußert eine größere Zahl der Konzilsväter den Wunsch nach einer positiven Beschreibung und Aufwertung der Rolle der Laien in der Kirche.320

Auf zwei Beiträge aus der Konzilsdiskussion soll noch kurz hingewiesen werden. Bischof André Marie Charue fügt seiner Stellungnahme bereits einen Vorschlag für eine Neugliederung des Schemas in vier Kapitel bei, die mit der Gliederung des Philips-Entwurfes übereinstimmt. Er bezieht damit Position für eine Neufassung von „De ecclesia“.321 Weihbischof Léon Elchinger beschreibt in seiner Rede vom 1. Dezember ein sich neu anbahnendes Kirchenbild. Habe man früher von der Kirche als Institution gesprochen, so spreche man heute von „communio“, haben gestern der Papst und der einzelne Bischof im Mittelpunkt gestanden so heute die Bischöfe und ihr Kollegium, handelte man gestern von der Hierarchie, so heute vom christlichen Volk.322 Die Parallele von „communio“, Kollegium und „Volk Gottes“ ist auffallend und verdeutlicht eine für die spätere Rezeption des Konzils wichtigen Richtungswechsel. „Volk Gottes“ und „communio“ werden in dieser Sichtweise Ausdrücke eines veränderten Kirchenverständnisses.323

Die erste Sitzungsperiode des Konzils wird am 8. Dezember abgeschlossen, die Debatte um „De ecclesia“ unterbrochen. In der Folge kommt es zu verschiedenen Initiativen, die eine Bearbeitung oder Neufassung des Kirchenschemas zum Ziel haben. Im Januar kommen ostfranzösische Bischöfe und Theologen zu einer Klausurtagung zur Beratung über „De ecclesia“ zusammen. Anthropologische und soteriologische Aspekte sollen, so Congar in einer Diskussion auf dem Treffen, im neuen Kirchenschema den Vorrang vor einer rein soziologischen Betrachtung der Kirche erhalten. Daher, so der Vorschlag der Gruppe, sind der heilsgeschichtliche Zusammenhang, die geschichtliche Dimension der Kirche und ihre Sakramentalität von besonderer Bedeutung. Der Begriff „Volk Gottes“ soll im Sinne einer geschichtlichen Dynamisierung dem „Leib Christi“-Begriff zur Seite gestellt werden.324 Während die Franzosen für eine Überarbeitung des vorhandenen Schemas plädieren, nehmen deutschsprachige Bischöfe und Theologen unter der Leitung Kardinal Döpfners die Arbeit an einem Alternativentwurf auf. Dieser wird bei einer Versammlung der deutschsprachigen Bischöfe am 5. und 6. Februar 1963 diskutiert, überarbeitet und am 21. Februar in Rom übergeben.325

Das sog. „Deutsche Schema“ folgt einer theologischen Grundlinie. Es präsentiert in seinem Prolog die Kirche als „universales Sakrament“ (Nr. I,2). „Sakrament“ wird im Sinne des griechischen „μυστήριον“ auch als geschichtliche Entfaltung des göttlichen Heilsplanes verstanden.326 Der Begriff verbindet die unsichtbare, gnadenhafte Dimension der Kirche mit ihrer sichtbaren, geschichtlichen Gestalt. Diese sakramentale Ekklesiologie wird auf der Basis der verschiedenen biblischen Kirchenbilder entwickelt. So beginnt das 1. Kapitel „De Mysterio Ecclesiae“ mit einer Darstellung des Erlösungshandelns Christi, aus dem das im Heiligen Geist geeinte „neue Israel“ hervorgeht, das für seine irdische Pilgerschaft mit den nötigen geistlichen und gesellschaftlichen Mitteln ausgestattet ist (Nr. I,3):

„Dieser Zusammenschluss der Gläubigen ist nach dem Zeugnis der Heiligen Schrift Kirche Gottes, Israel Gottes, Herde Gottes, erwähltes Volk, königliche Priesterschaft, Volk, das er sich erworben hat, […] jetzt also Volk Gottes. Die christliche Gemeinschaft ist Gottes Pflanzung, sein Weinstock, in den Ölbaum des alten Israel eingesetzt […], neuer Bund, der von Christus begründet ist […], Erbe des Volkes der zwölf Stämme […].“ (Nr. I,4)

„Volk Gottes“ ist hier eingereiht in die Vielzahl der biblischen Metaphern327, denen in den Nr. I,5–6 die Bilder des „Tempels des Heiligen Geistes“ und „Leibes Christi“ hinzugefügt werden: „Diese Kirche, die Volk Gottes und Tempel des Heiligen Geistes ist, ist Leib und wirklich Leib Christi“ (Nr. I,6). Die Kirche ist durch die Anfechtungen ihrer Zeit auf dem Weg der Pilgerschaft in ihre himmlische Heimat (Nr. I,7). Alle diese biblischen Beschreibungen, die als einzelne den theologischen Sinngehalt der Kirche nie ganz ausloten können328, weisen auf die generellen Aspekte des Wesens der Kirche hin. Sie ist mit dem dreieinen Gott untrennbar verbunden und verweist in ihrem irdischen Wirken auf ihn. Die Verbindung zwischen geistlicher Wirklichkeit und äußerer Form ist sakramental zu verstehen. Die Kirche ist sowohl selbst Heilsfrucht, als auch Werkzeug zur Mitteilung des Heils in der Welt. Sie ist zugleich Zeichen des göttlichen Handelns. Das Deutsche Schema weist auf die Begründung der Kirche durch die Taufe hin, auf ihre Einheit und ihre Lehrvollmacht. (Nr. I,8). Zudem enthält es im Kapitel über die kirchlichen Ämter einen langen Abschnitt über die gemeinsame Würde aller Christen im einen „Volk Gottes“ sowie einen über das gemeinsame Priestertum (Nr. III,1). Der „Volk Gottes“-Begriff wird im deutschen Schema zu einer von drei biblischen Leitmetaphern329, die in eine theologische Gesamtsicht der Kirche als „universales Sakrament“ einmünden.330

Als das deutsche Schema die Vorbereitungskommission in Rom erreicht, ist wahrscheinlich bereits eine Vorentscheidung zugunsten des Philips-Schemas als neuer Textgrundlage für die Kirchenkonstitution gefallen.331 In einer Unterkommission unter der Leitung von Bischof Charue erarbeitet eine Redaktionsgruppe, die aus Philips, Rahner, Gangnebet, Lafortune, Balić, Thils (später Moeller) und Congar (für den ursprünglich benannten Daniélou332) besteht, ab dem 26. Februar 1963 das neue Schema. Innerhalb der Gruppe stehen nun also zwei traditionelle Theologen fünf eher fortschrittlich gesinnten gegenüber.333 Damit ist der Weg zu einer neuen Vorlage offen. Philips bittet zunächst jeden der Theologen, einen eigenen Entwurf anzufertigen, so dass in der Diskussion ein neuer gemeinsamer Text entstehen kann.334 In ihn werden dann Anregungen aus den verschiedenen eingereichten Alternativschemata335 aufgenommen.336

Das neue Schema337, das bereits mit den Einleitungsworten „Lumen gentium“ beginnt, stellt in seinem einleitenden Artikel die Kirche als „Zeichen und Instrument, oder auch Sakrament der innersten Vereinigung der ganzen Menschheit mit Gott“ (Nr. 1) vor. Im ersten Kapitel zum „Mysterium“ wird sie als Ereignis der Heilsgeschichte beschrieben. Die Kirche entsteht, indem Christus die Gläubigen zum „Volk Gottes“ versammelt, sie zum „neuen erwählten Volk, zur königlichen Priesterschaft und heiligem Volk macht“ (Nr. 2). Die Kirche ist im alten Bund durch die Erwählung des Bundesvolkes vorgezeichnet und in der heutigen Zeit verwirklicht (Nr. 2). Christus stiftet den neuen Bund und ruft die Kirche aus Heiden und Juden zusammen (Nr. 3) Nach einer Darstellung des Wirkens des Heiligen Geistes in der Kirche (Nr. 4) beschreibt das Schema das Bild der Kirche als „Leib Christi“ (Nr. 5). Der sechste Artikel spricht dann von den anderen biblischen Bildern (Herde, Familie, Pflanzung, Tempel des Hl. Geistes, Heilige Stadt) (Nr. 6). Anschließend wird die zeitliche Pilgerschaft der Kirche beschrieben (Nr. 7). Dem zweiten Kapitel über die Hierarchie, besonders das Bischofsamt geht ein Proömium voraus, das auf die gemeinsame Würde aller Christen im „Volk Gottes“ verweist. Im Kapitel über „Das Volk Gottes, besonders die Laien“ wird das „Volk Gottes“ als „von Ihm [Gott] zum Werkzeug der Erlösung und in die ganze Welt gesandt“ (Nr. 22) eingeführt. Klerus und Laien wirken gemeinsam am Aufbau des „Leibes Christi“ (Nr. 22). Allen Gliedern ist durch das gemeinsame Priestertum die gleiche Würde gegeben (Nr. 23). Artikel 24 entfaltet die Lehre vom gemeinsamen Priestertum und handelt von den charismatischen Gaben des Volkes. Im Folgenden werden dann noch das Apostolat der Laien (Nr. 25), ihr Verhältnis zur Hierarchie (Nr. 26) und ihre Sendung betont (Nr. 27). Das abschließende vierte Kapitel ist der Berufung aller Gläubigen zur Heiligkeit und in besonderer Weise den Ordensleuten gewidmet (Nr. 28–35).

 

Das im Mai und August 1963 in zwei Sendungen verschickte neue Schema berücksichtigt in Bezug auf den „Volk Gottes“-Begriff die Wünsche der Konzilsväter. Es führt das „Mysterium“ bzw. „Sakrament“ als ekklesiologischen Leitbegriff der gesamten Konstitution ein. Es erweitert in einer heilsgeschichtlich-biblischen Sicht den zuvor beherrschenden „Leib Christi“-Begriff um andere Schriftmetaphern, von denen der des „Volkes Gottes“ eine besondere Stellung zukommt.338 Zudem legt das neue Schema unter dem Leitwort „Volk Gottes“ die gemeinsame Würde und Sendung aller Gläubigen den Erläuterungen zu den einzelnen Ständen der Kirche zugrunde.

2.1.3 Die dritte Etappe: Das neue Kapitel II und die redaktionelle Bearbeitung

Unter den schriftlich im Vorfeld der zweiten Sitzungsperiode des Konzils eingereichten Anmerkungen zum neuen Kirchenschema findet sich ein Vorschlag Kardinal Suenens’ zu einer Neugliederung des Textes.339 Er enthält den Entwurf eines neuen Kapitels „Über das Volk Gottes im Allgemeinen“, das den Kapiteln über die Hierarchie (bislang Kapitel II), die Laien (bislang Kapitel III) sowie die Berufung zur Heiligkeit und die Ordensleute (Kapitel IV) vorangehen soll. Erste Hinweise auf diesen Vorschlag finden sich bereits Anfang 1963 in einer Anfrage von Frans Thijssen, dem Konsultor des Einheitssekretariates. Er schlägt vor, im Philips-Schema ein Kapitel „De populo Dei seu de laicis“ vor das Kapitel der Hierarchie zu stellen, da das „Volk Gottes“ eben die gemeinsame Basis für Laien und Klerus sei.340 Diese Anregung, die sich, wie gesehen, auf die Beiträge einiger Bischöfe in der Generaldebatte im Dezember 1962 berufen kann, wird von Suenens weiterverfolgt. In der Sitzung der Koordinierungskommission am 3./4. Juni 1963 fragt er Albert Prignon, Rektor des belgischen Kollegs und von Suenens zur Mitarbeit in die Kommission für die Lehrfragen341 berufen, nach seinen persönlichen Verbesserungswünschen für das neue Schema. Prignon schlägt vor, das bisherige Kapitel III in zwei Kapitel aufzuteilen, eines über das „Volk Gottes“, das seinen neuen Platz vor dem derzeitigen Kapitel über die Hierarchie finden soll, und eines über die Laien.342 Die Kommission entscheidet sich zunächst gegen eine Änderung, auch, um keine weitere Verspätung beim Versand des neuen Schemas zu riskieren. Sie empfiehlt den Vorschlag allerdings der Theologischen Kommission zur Weiterarbeit nach Wiederaufnahme des Konzils im Oktober.343 In der Zwischenzeit beginnt Philips mit der Ausarbeitung des neuen Vorschlags, der wahrscheinlich während des ersten Treffens von Mechelen vom 6. bis 8. September Gestalt annimmt und noch vor Beginn der zweiten Sitzungsperiode fertiggestellt ist.344

Das Konzil wird am 29. September 1963 von Papst Paul VI. wiedereröffnet. An den folgenden beiden Tagen findet die Debatte zum neuen Schema „De ecclesia“ als Ganzem statt. Sie endet mit der Annahme des Textes als neuer Arbeitsgrundlage.345 Bereits während der Debatte sprechen sich einige Konzilsväter für die Aufnahme des Suenens-Vorschlags aus, als erstes der Brixener Bischof Joseph Gargitter.346 Am 2. Oktober diskutiert die Theologische Kommission über die Neuordnung der Kapitel.347 Philips wirbt für diesen Vorschlag, indem er darauf hinweist, dass hierdurch der eigentliche Text kaum berührt werde. Schauf plädiert ebenfalls für die Herausstellung des „Volk-Gottes“-Begriffs, „denn in ihm wird die begriffliche Grundlage für Gläubige und Hierarchie gelegt.“348 Florit, Erzbischof von Florenz, schlägt alternativ ein Kapitel über „Die Gleichheit und Ungleichheit der Glieder der Kirche“ vor. Parente, ein Mitarbeiter Ottavianis, wendet ein, dass mit der Umstellung des Stoffes auch die Lehre beeinflusst werde. Wie Congar notiert, spricht sich der Generalmagister der Dominikaner, Aniceto Fernandez dafür aus, es bei der Bündelung des Stoffes in einem Kapitel zu belassen. Bei einem eigenständigen „Volk Gottes“-Kapitel bestehe die Gefahr, „in einen überzogenen Demokratismus abzugleiten“.349 In der Sitzung der Kommission am 9. Oktober350 stimmen dann 20 Mitglieder für die Einfügung des neuen Kapitels, vier dagegen. Uneinigkeit gibt es noch über den Titel. Neben dem Vorschlag von Charue und Congar, das neue Kapitel „De populo Dei“ zu nennen und dem Vorschlags Florits (s.o.), wird auch der Titel „Über die Gläubigen“ von Ottaviani angeregt. Mit 14 Stimmen gegenüber einer für Florits und sieben für Ottavianis Vorschlag wird der erste Vorschlag gewählt. Die Koordinierungskommission hat zu diesem Zeitpunkt ihre Zustimmung bereits signalisiert. Nochmals kommt es Mitte Oktober zu einer Auseinandersetzung um die Reihenfolge der Kapitel. Tromp schlägt vor, das neue Kapitel hinter das Laienkapitel zu setzen. Nach einer Appellation an den Papst überlässt Paul VI. die Klärung dieser Frage dem Konzil.351 Im Auftrag der Moderatoren erhält Ottaviani von Kardinal Agagianian die Nachricht, dass in der Frage der Erarbeitung und Einfügung des neuen Kapitels das positive Votum der Kommission für die Lehrfragen ausreiche.352 Damit ist der Weg für das neue Kapitel auch ohne vorherige Abstimmung in der Konzilsversammlung frei.353 Die Diskussion über das neue Kapitel wird erst in der Beratung des Konzils über das Laienkapitel Mitte Oktober wieder aufgenommen. Beherrschend ist dabei die Frage nach der Verhältnisbestimmung der Laien zum Klerus. Auch melden sich Stimmen für und gegen die Einführung des neuen Kapitels,354 wenn sich auch eine Grundstimmung zugunsten Aufnahme des Kapitels einstellt. In der durch das neue Kapitel ausgedrückten Sichtweise zeige sich, so Philips, die wesenhafte Sendung der Gesamtkirche, „zu der alle berufen sind, hineingenommen in die gleiche Gnade und Erlösung, der Liebe und der Hoffnung, und jede Ausübung einer Autorität ist nur statthaft im Dienst der universalen Berufung des neuen auserwählten Volkes“355.

Die Kommission für die Lehrfragen erhält mit Bischof Charue am 2. Dezember einen zweiten Vorsitzenden und neben Tromp mit Gerard Philips einen zweiten Sekretär. Letzterer ist schon seit dem 2. Oktober mit der Sichtung der schriftlichen Eingaben zu „De ecclesia“ beauftragt und sammelt die Anmerkungen aus den Redebeiträgen der Konzilsväter. In der zur Bearbeitung der zahlreichen Rückmeldungen eingerichteten Unterkommission bildet Philips zudem Arbeitsgruppen, die wegen der hohen Zahl an Verbesserungsvorschläge und der theologischen Prüfaufträge356 in der Regel jeweils für ein Kapitel verantwortlich sind.357 Philips notiert Ende Oktober sechs Themen für die weitere Bearbeitung: 1. die Neuerarbeitung eines Kapitels über das „Volk Gottes“, 2. die Einarbeitung von Textpassagen zur missionarischen Sendung der Kirche, 3. zur „Kirche der Armen“, 4. zum Verhältnis des Reiches Gottes zur Kirche, 5. zur Eucharistie, in der sich lokalen Kirchen gründen, und 6. zur eschatologischen Dimension der Kirche.358

Die Prüfung des ersten Kapitels durch die Arbeitsgruppe unter der Leitung Charues kann ihre Arbeit bereits Ende November abschließen. Im Wesentlichen kommt es neben den Umstellungen durch das neue Kapitel II zur Verfassung eines neuen Abschnitts über das Reich Gottes und sein Verhältnis zur Kirche. Außerdem wird ein Abschnitt zur Armut als Dimension kirchlichen Handelns erstellt.359 Der Unterausschuss zur Zusammenstellung des neuen Kapitels über das „Volk Gottes“, dem u.a. Yves Congar angehört, arbeitet zunächst die Artikel des Laienkapitels (Nr. 22–24) für die neue Fassung um. Außerdem werden die bisherigen Nr. 8–10 über die Zugehörigkeit zur Kirche und das Verhältnis der Kirche zu den Nicht-Katholiken bzw. Nicht-Christen in das neue Kapitel übernommen. Zudem überträgt man in einem neuen Artikel die allgemeinen Aussagen über das Gottesvolk aus dem I. Kapitel. Congar beklagt allerdings noch am 3. Dezember, dass dem II. Kapitel eine klare Gliederung durch einen theologischen Grundgedanken fehle. Vielmehr sieht er die Arbeitsgruppe herausgefordert, zahlreiche unverbunden nebeneinanderstehende Wünsche und Anregungen für das neue Kapitel bearbeiten und in den Text integrieren zu müssen.360

Die Einfügung des neuen II. Kapitels wird von Suenens später als die „kopernikanische Wende“ in der Geschichte der Kirchenkonstitution bezeichnet.361 In ihm findet eine Bewegung ihren Höhepunkt, die für eine Ablösung der hierarchiebetonenden Sichtweise zugunsten der Betonung der gemeinsamen Würde und Verantwortung aller, vorgängig zu allen Unterscheidungen, plädiert hatte.362 Die Bemühungen um eine positive Bestimmung der Rolle der Laien bewirkt eine Bedeutungsverschiebung des „Volk Gottes“-Begriffs von seiner Zuordnung zum passiven Kirchenvolk zum Ausdruck der kirchlichen Gemeinschaft insgesamt. Die Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen ist „Volk Gottes“. Neben dieser „theologisch-soziologischen“ Neubestimmung hat das neue Kapitel einen weitere Zielrichtung. Es entsteht aus einer Zusammenstellung der bereits erarbeiteten Texte des zweiten Schemas.363 Der erste Artikel des Kapitels beschreibt allgemein die Sendung des ganzen Gottesvolkes und entspricht in Teilen der Nr. 22 (Einleitung des Laienkapitels) des zweiten Schemas.364 Artikel 2 beschreibt das „Volk Gottes“ in heilsgeschichtlicher Perspektive und verwendet Texte aus dem 1. Kapitel. Damit entnimmt es dem Kapitel zur Beschreibung des „Mysteriums“ der Kirche, also der Darlegung ihres Wesens, die Formulierungen, die dem „Volk Gottes“ in der Geschichte der Offenbarung gewidmet sind (Nr. 2 und 3 des zweiten Schemas). Die folgenden drei Artikel des neuen Kapitels übernehmen die Themen der Nr. 24 (gemeinsames Priestertum, Charismen) des zweiten Schemas. Anschließend folgt ein neu geschriebener Artikel zur Einheit und Katholizität des Gottesvolkes. Durch die Kombination der Aussagen über das Gottesvolk aus den Kapiteln I und III des zweiten Schemas entsteht ein hybrides Kapitel, das sowohl Aussagen über das Wesen und die Sendung der Kirche nach dem Zeugnis der Heiligen Schrift, als auch über die soziale Dimension der Kirche enthält. Damit wird die ursprüngliche Logik der Gliederung des zweiten Schemas verlassen. In der schematischen Übersicht stellt sich diese wie folgt dar:

Schema „De ecclesia“ (September 1963)


Teil 1 „De mysterio“ (Kapitel I)Teil 2 Die Glieder der Kirche [Kapitel II (Hierarchie), III (Laien), IV (Heiligkeit bzw. Ordensleute)]
Einleitung (Nr. 1): Kirche als SakramentProoemium (vor Nr. 11): Gemeinsame Würde aller Glieder im „Volk Gottes“
Wesen und heilsgeschichtliche Sendung der Kirche, Zugehörigkeit zur KircheBeschreibung des Wesens, des Auftrags, der Rechte und Pflichten der einzelnen Gruppen („status“) innerhalb der Kirche

Die bearbeitete Fassung mit dem neuen Kapitel II folgt zunächst der gleichen Intention365:

Schema „De ecclesia“ (nach dem Suenens-Vorschlag September 1963)


Teil 1 „De mysterio“ (Kapitel I)Teil 2 Die Glieder der Kirche [Kapitel II (Volk Gottes), III (Hierarchie), IV (Laien) V (Heiligkeit und Ordensleute)]
Einleitung (Nr. 1): Kirche als SakramentEinleitung (Kapitel II): Gemeinsame Würde aller Glieder im „Volk Gottes“
Wesen und heilsgeschichtliche Sendung der Kirche, Zugehörigkeit zur KircheBeschreibung des Wesens, des Auftrags, der Rechte und Pflichten der einzelnen Gruppen (status) innerhalb der Kirche

De facto aber erhält das zweite Kapitel durch seine Zusammenstellung und seine Positionierung innerhalb des Textes eine doppelte Ausrichtung:

 

Durch die Herausnahme der Ausführungen zum „Volk Gottes“ aus der Nr. 2 und Nr. 3, des zweiten Schemas, in denen nur ein kleiner Rest des ursprünglichen Textes verbleibt366, und deren Eingliederung in das neue Kapitel II ist eine deutliche Verbindung der Kapitel I und II sichtbar.367 Die redaktionelle Arbeit ab Oktober 1963 sorgt zudem für weitere Umstellungen und Veränderungen. Entgegen dem ursprünglichen Plan, zunächst eine allgemeine Einleitung zu geben und anschließend von der heilsgeschichtlichen Betrachtung des „Volkes Gottes“ zu handeln, werden die beiden ersten Artikel des neuen Kapitels im Laufe der Redaktionsarbeit zu einem zusammengelegt. Die ursprüngliche Reihenfolge wäre eher der Logik des zweiten Schemas gefolgt, das, wie gesehen, den folgenden Aufbau hatte:

Aufbau des zweiten Schemas (September 1963)


Diese Veränderung des Charakters des zweiten Kapitels wird bereits im Bericht der Unterkommission368 gesehen. Ausdrücklich weist sie darauf hin, dass man mit der Einfügung von Kapitel II die Absicht gehabt habe, die Ausführungen des ersten Kapitels zum Mysterium fortzusetzen. Man habe allerdings ein neues Kapitel gewählt, da das erste sonst zu lang geworden wäre.369 Während das Kapitel I vom Geheimnis der Kirche seit Beginn der Schöpfung bis zur Vollendung handele, beleuchte das zweite Kapitel dieses Geheimnis in der Zeit zwischen der Himmelfahrt und Wiederkunft Christi. Daher finden sich in diesem Kapitel auch Elemente, die für diese Zwischenzeit besonders wichtig sind wie z.B. das kultische Leben in der Ausübung des gemeinsamen Priestertums.370 Außerdem sei, so die Kommission, der Ort des Kapitels deshalb so gewählt, weil man vom Allgemeinen („Volk Gottes“) vor dem Speziellen (Hierarchie, Laien, Ordensleute) sprechen möchte. Zudem sei das neue Kapitel der beste Ort, um über die Einheit der katholischen Kirche und ihre Beziehungen nach außen zu den Nicht-Katholiken darzustellen.371 Die Zusammengehörigkeit der beiden Kapitel wird durch die neu erstellte Nr. 17 unterstrichen, die mit einer Art Zusammenfassung endet, welche an die Darstellung der trinitarischen Sendung der Kirche in Nr. 2–4 anknüpft.372

Dadurch, dass in der redaktionellen Bearbeitung die Einleitung des ersten Kapitels in das Kapitel eingegliedert wird und die bisherigen Nr. 8–10 aus Kapitel I (über die Mitgliedschaft in der Kirche und ihr Verhältnis zu den Nicht-Katholiken) in das neue Kapitel II übernommen werden, ergibt sich in der systematischen Übersicht durch den neuen Aufbau der Kapitel eine folgenreiche Verschiebung:

Aufbau der Kapitel I und II des Schemas nach der redaktionellen Bearbeitung (März 1964)


Kapitel I „De Mysterio“Kapitel II „De populo Dei“
Nr. 1Kirche als SakramentNr. 9Das Volk des neuen Bundes
Nr. 2Die Kirche nach dem Heilsratschluss Gott des VatersNr. 10Das gemeinsame Priestertum
Nr. 3Die Sendung des SohnesNr. 11Die Ausübung des gemeinsamen Priester-tums
Nr. 4Die Heiligung der Kirche durch den GeistNr. 12Vom Glaubenssinn und den Charismen
Nr. 5Das Reich GottesNr. 13Die Universalität bzw. Katholizität des einen Gottesvolkes
Nr. 6Die verschiedenen biblischen BilderNr. 14Über die katholischen Gläubigen
Nr. 7Die Kirche als Leib ChristiNr. 15Über die Verbindung der Kirche zu den Nicht-Katholiken
Nr. 8Die sichtbare und unsichtbare KircheNr. 16Über die Nicht-Christen
Nr. 17Über die missionarische Ausrichtung

Das so überarbeitete Schema präsentiert zwei etwa gleichlange Kapitel die jeweils durch eine grundlegende Bestimmung der Kirche als Sakrament (Nr. 1) und als „Volk Gottes“ (Nr. 9) eingeleitet werden. Das erste Kapitel endet mit der Darstellung des „Leibes Christi“, ein Bild, das so die Wirkung erhält, als wäre es Zielpunkt der Ausführungen zum Geheimnis der Kirche.373 Es entsteht der Eindruck, als würde die Konstitution in zwei verschiedenen Kapiteln das Wesen und die Bestimmung der Kirche darstellen, einmal als Sakrament (in Verbindung mit „Leib Christi“) und einmal als „Volk Gottes“. Ein Beispiel hierfür ist eine kleine Änderung in Nr. 7.374 Im zweiten Schema war der Artikel zur Kirche als „Leib Christi“ mit einem Verweis auf das „Volk Gottes“ eingeleitet worden. Beide Begriffe waren so miteinander fest verbunden. Dieser Verweis fällt nach der redaktionellen Bearbeitung weg. Die Veränderung wurde, so die Erklärung der Redaktionsgruppe, vorgenommen, weil sich die Konzilsväter eine Straffung des Artikels 7 gewünscht hatten.375 Gemessen an der Reihenfolge ihrer Entstehung kann zudem der Eindruck entstehen, das zweite Kapitel enthalte das „Neue“, was das Konzil ausdrücken möchte, während das erste Kapitel das „Alte“ bewahre, indem es wesentliche Elemente des Ausgangsschemas von 1962 aufnehme. Dieser Eindruck wird zusätzlich dadurch verstärkt, dass die in Nr. 14–16 dargestellte Lehre über die Zugehörigkeit zur Kirche einen deutlich offeneren, dialogischeren und ökumenischeren Ton anschlägt, als das Ausgangsschema. Dabei waren diese Artikel bereits in wesentlichen Teilen für das Kapitel I des zweiten Schemas von 1963 erarbeitet worden.

Auf einige weitere Entwicklungen der Kirchenkonstitution zwischen September 1963 und Juni 1964 sei an dieser Stelle noch kurz hingewiesen. Zum einen zeigt die Diskussion in der Konzilsaula den deutlichen Wunsch nach einem eigenen Kapitel über die Ordensleute.376 Die Theologische Kommission entscheidet sich Mitte März 1964 für eine Teilung des bisherigen Kapitels IV (zweites Schema) in ein allgemeines Kapitel über die Heiligkeit in der Kirche und eines über die Ordensleute (später in LG Kapitel V und VI).377 Die Auseinandersetzungen um diese Kapitel haben einen ähnlichen Ausgangspunkt wie die um das spätere Kapitel II. Der ursprüngliche, von der Religiosenkommission erarbeitete Text, verteidigt aus Sicht der Theologischen Kommission eine zu einseitige, isolierte und standesverhaftete Darstellung der Ordensleute, die nicht in den Duktus der neuen Konstitution passt. Daher erarbeitet die Unterkommission von „De ecclesia“ mit Kapitel IV des zweiten Schemas einen Text, der zunächst von der allgemeinen Berufung zur Heiligkeit ausgeht und das Ordensleben als einen besonderen Ausdruck dieser allgemeinen Berufung sieht. Der Nachteil dieser Sichtweise ist, dass hier der Ordensstand in seiner Besonderheit eher nivelliert wird. Die Teilung des Kapitels und der Ort des Kapitels V stellen somit eine Kompromisslösung dar.378 Mit der Verortung des neuen Kapitels V kommt man dem Wunsch vieler Konzilsväter nicht nach, die Abschnitte über die Heiligkeit in die Kapitel I und II zu übernehmen. Dieses habe man, so die Unterkommission, aus Zeitgründen nicht mehr geschafft.379

Der Theologischen Kommission wird Anfang März durch Papst Paul VI. ein auf Initiative Kardinal Arcadio Larraonas erarbeitetes Kapitel über die eschatologischen Aspekte der Kirche mit der Bitte um Einarbeitung in das Schema zugestellt. Es entspricht einem Wunsch Johannes XXIII., in die neue Konstitution einen Abschnitt über die Einheit von irdischer und himmlischer Kirche einzufügen.380 Nach gründlicher Überarbeitung, insbesondere bezüglich des heilsgeschichtlich orientierten Duktus der Konstitution, erhält das ursprünglich eher heilsindividualistisch argumentierende Kapitel zugleich einen kommunitären Bezug zur Gemeinschaft der Kirche.381 Mit diesem späteren Kapitel VII und dem neuen Kapitel VIII „Über die selige Jungfrau Maria“382 ist der Textkorpus der Kirchenkonstitution vollständig. Die Koordinierungskommission beschließt den Versand des Schemas am 26. Juni 1964.383 In der dritten Sitzungsperiode des Konzils werden im Wesentlichen nur noch kleinere Veränderungen an der Textvorlage vorgenommen.384 Die feierliche Schlussabstimmung, die sich durch den zwischenzeitlich eskalierenden Streit um das Kapitel III (Bischofsamt) verzögert, ergibt am 21. November 1964 ein fast einstimmiges Ergebnis.385 Die neue Kirchenkonstitution „Lumen gentium“ wird promulgiert.

2.2 Beobachtungen zum „Volk Gottes“-Begriff in „Lumen gentium“