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Claus Störtebecker

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Märgi loetuks
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Ein düsterer, beteuernder Blick war es, mit dem er von der Toten schied, der ersten, die ihm das Menschheitsmeer vor die Füße gespült, ein zweiter, längerer flog über die Dünenberge zu der Hütte empor, aus deren Schornstein ein friedlicher Rauch kräuselte. Dann wandte er sich jäh und versuchte das Unerwartete. Ein wilder Sprung zur See, die grau und verschleiert auf ihn zukroch, unter seinen Füßen splitterte die dünne Eisdecke, bis zu den Knien sank er ein, dann setzte er abermals in die Höhe, gewann für ein paar Schritte das gefrorene Feld, bis er von neuem in dem berstenden Glas verschwand. Aber gleich darauf hatte der Vorwärtsdrängende das offene Wasser erreicht, und weit ausholend warf sich der geübte Schwimmer hinein. Seine Lebensflamme brannte so stark, daß sie die lähmende Kälte des Elements überwand. Auch hatte er sich den Wogen nicht planlos anvertraut, denn von seinen scharfen Augen war längst ein kleines rotes Segel erspäht worden, das voll gebläht gegen den Strand stürmte.

Heino Wichmann!

Ja, dort hinten, gegen die schwarze Wand des Wassers, dort flatterten die blonden Haare des Kleinen im Wind, geduckt hockte der Meister der Schiffahrt am Steuer, und während das überspülte Haupt des Flüchtenden ab und zu hoch aus den rollenden Fluten auftauchte, da summte ihm die Stimme der Hoffnung zu: »Er sieht dich – noch einen Schlag, und noch einen – er sieht dich.«

Hinter ihm heulten die Hunde und jagten fangbegierig über die noch ungebrochene Fläche, rauhe Stimmen schrien, ein Pfeil sauste über den Schwimmer hinweg und schnitt unhörbar in die Wellen – der Atemlose, vom Kampf bereits Verwirrte schickte dem Todesboten nur ein wildes, verächtliches Lächeln nach. Oh, dieses Herumgeschleudertwerden zwischen Vernichtung und Gelingen, das fühlte der bereits in Wesenlosigkeit Fortgleitende, es bildete das Höchste und Köstlichste, was ihm aus des Lebens Abgrund gereicht werden konnte. Es blitzte wie ein heller Edelstein. Es lohnte sich, danach zu greifen oder im Werben darum zu vergehen. Um ihn begann die eisige Flut mit tausend Stimmen zu singen, und während sein Körper sich immer tiefer hinabgrub, da unterschied er noch die Worte des großartigen Liedes, das ihm den Schlummer und die Schmerzlosigkeit brachte. Sie sangen alle zusammen, die sein Dasein jemals umstanden, Pater Franziskus und die Becke, der Vater und Anna Knuth, der junge Graf und die Mutter, Heino Wichmann und all die vielen Bauern, ja selbst der Jude wirbelte das blitzende Beil um sein Haupt und fiel ein in den gewaltigen Chor, der da trotz allem Leid die unverwüstliche Schönheit von Sonne, Erde und Meer pries und die Feiertäglichkeit jedes wilden, unruhigen Geschehens.

Claus gurgelte, noch aus der Tiefe wollte er einstimmen in dies allgemeine Lob, da spürte er, wie er ohne sein Zutun stieg und stieg, sättigende Luft drang zu ihm, durch die Schwärze brach Licht und öffnete ihm die Augen, und weit vor ihm dehnte sich die Freiheit des Unbegrenzten. Er lag im Kahn, und über ihn beugte sich Heino Wichmann. Das Segel war herumgeworfen, das Bugspriet zeigte gegen die offene See. Hinter ihnen schrumpfte die Küste immer dünner zu einem langen schwarzen Arm zusammen, der liebevoll das dunkle Schwellen an sich zog. Kaum unterschied man noch die höchsten Erhebungen der Insel mit ihren finsteren Waldkronen. Mühsam raffte sich Claus bis zur halben Höhe empor und schickte einen müden Blick aus. Seine Glieder waren noch von seinem Willen und seinem Bewußtsein getrennt, und aus seinen Kleidern floß stromweise das Wasser.

»Heino«, seufzte er, indem sein Herz dem weiten, weiten von Qualm und Nebel erfüllten Raum unruhig entgegenschlug, »wohin führst du mich?«

»Wohin?« Der andere streifte den daniederliegenden Gefährten mit seinem seltsamen Augenspiel, dann brach er in sein gewöhnliches Kichern aus. »He, Bübchen«, meinte er, »welch eine kitzliche Frage! Wohin geht der Mensch, wenn er einen Fuß aus der Tür setzt? Weißt du das? Ich weiß es nicht, denn der Weg kommt meistens auf den Wanderer zu. Aber ängstige dich nicht, ich glaube sagen zu können, ich führe dich deine Straße.«

Dabei stieß der kleine Strohblonde wie zufällig mit dem Fuß gegen etwas Klirrendes. Und siehe da, es war der Ravenneser Hieber, den er bei seiner Ankunft getragen, und neben jenem ringelten sich die Reste der ehemaligen Goldkette. Und jetzt – jetzt entdeckte Claus auch, daß unter der Steuerbank ein kleiner Flechtkorb verborgen stand, der Brot und Milch enthielt. Es war augenscheinlich, hier an Bord war alles für eine längere Fahrt vorbereitet.

»Heino«, rang der Liegende seiner Schwäche ab, »du wolltest dich von uns fortstehlen?«

Der Angeredete griff fester in das Steuer und verglich die Spitze des Bugspriets mit dem Silberband des Mondes, dessen Phantom noch am Tage durch den Seequalm dämmerte. Dann erst wies er ausweichend und in seiner spitzfindigen Art den erhobenen Vorwurf zurück.

»Sei still, Büblein, was heute geschieht, braucht morgen nicht zu geschehen. Mich dünkt, es lief für dich nicht übel ab, weil ich meine Tage hier für erfüllt hielt. Aber nun verkünde auch du mir, warum man dich mit Hunden vom Strand deiner Väter hetzte? Nicht wahr, du frommes Kind, das ist dir doch geschehen?«

Da kroch Claus bis zur Steuerbank heran, und seine Arme leidenschaftlich um das Knie seines Lehrers schlingend, ließ er unter Tränen und Verwünschungen, unter Haß und Zweifeln alles aus sich herauspulsen, was die letzte Vergangenheit ihm an Traum und feindlicher, unbegreiflicher Wirklichkeit entgegengeschickt. Es wurde das überströmende Bekenntnis eines Erdenläufers, der sich mit deutlich gefühlten Schwingen zum Himmel heben will und jetzt vor Schmerz aufheult, weil die geballte Kugel des Lehms, des Schmutzes und des Kotes an seinen Füßen klebt.

»Sag mir, Heino Wichmann«, flehte er zum Schluß inbrünstig, während er den Magister mit beiden Fäusten beinahe von seinem Sitz hob, »wer – wer gab diesen Ungerechten, diesen Blutsaugern, Peinigern und Landschluckern jene fürchterliche Gewalt? Wer beugte ihnen diese Tausende demütiger Nacken unter die Füße, wer – wer?«

Mit herb verzerrtem Munde schaute der Steuermann auf den in wilden, zuckenden Feuern Verglühenden hinab.

»Wer?« wiederholte er, und in seinen zwiefarbigen Augen funkelte etwas wie die Befriedigung über ein endlich erreichtes Ziel. »Wer ihnen das alles gab, mein Cläuslein? – Ihr Wille.«

»Und wir?« stammelte der Junge, in Enttäuschung zurücksinkend. »Gib auch uns eine Hoffnung!« »Wir? Wir suchen noch nach unserem Willen.«

»Suchen?«

»Aber wenn wir ihn gefunden haben«, sagte der Kleine unheimlich leuchtend, »dann werde ich mir im Fürstenprunk des Kaisers Tochter laden, und du, Bübchen, magst meinetwegen auf dem Sinai stehen, um neue Gesetze in die Tafeln zu graben.«

So fuhren sie noch manche Stunde in das Meer hinaus. Der Magister das Steuer in seinen feinen Händen, und auf die Schulter des Freundes gestützt der Junge, das Haupt unabänderlich dorthin zurückgewandt, wo nur noch der sich niederwölbende Horizont die Küste verriet. Längst war sie hinter den ruhig tanzenden Wellen versunken, und doch zauberte sich der Sassensohn unaufhörlich das kleine Stückchen gelben Sandes vor und auf ihn hingelagert das tote Mädchen, dessen offene Augen auch jetzt noch verständnislos auf Leben und Vergehen zurückblickten. Abermals schlug ihm das Herz wie eine Trommel, die zum Kampf fordert.

Allmählich sank der Tag, die Wogen wanderten breiter daher, und ihre Hügel bedeckten sich im Widerspiel des Mondes mit tausend unruhigen Silberameisen. Gegen das Bugspriet aber schwoll das Ungewisse, der Dunst, das Geisterreich des Nebels tat sich auf. Da – gerade als Claus an Gefahr zu glauben begann, da nahm er wahr, wie sein zwerghafter Gefährte plötzlich gegen alle Regel das Steuer freiließ; im nächsten Augenblick war das Segel herabgerissen, und dann – in dem Tor der Dämmerung spielten verwunderliche Zeichen auf und ab. Ein rotes Licht tanzte hervor, ein grünes schoß darüber hinweg, eine seltsame Zwiesprache huschender Feuerchen wurde daraus. Und ehe der schreckgebannte Zuschauer seinen Gefährten noch anrufen konnte, da hatte der Magister hastig in seinen Gürtel gegriffen, und gleich darauf schwang sich schrill und gellend ein nie gehörter Pfeifentriller über die Flut. Der weckte in dem Qualm einen ähnlichen Laut. Nur vielstimmig, verzehnfacht kam es über die Fläche geschwirrt, und nun schwoll auch schwarz und turmhoch die ungeheure Brust heran, aus deren Tiefen dieses unheimliche Gekicher ausgestoßen wurde. Unvermittelt starrten zwei sonnengroße Augen auf die Meerfahrer nieder, rot und grün, eine breite Treppe fiel an dem hohen Bau herab, und wie im Traum fühlte sich Claus von den willensstarken Fingern seines Führers über die Stufen gezerrt.

An Bord des Schiffes – eines drei Stock hohen, wie es der Junge vordem niemals geschaut – wurde es hell. Eine Laterne wurde ihnen vor das Gesicht gehalten, ein Schwarm bärtiger, verwogener Gesellen umdrängte die Fremden, und eine starke Stimme schrie nicht eben freundlich:

»He, ihr Vögel, wer hat euch unseren Pfiff beigebracht?«

»Du bist ein Kalb, Zeiso Ulbrecht aus Wismar«, erwiderte der Magister seelenruhig und versetzte dem Laternenträger eine schallende Maulschelle, »kennst du jetzt meine Handschrift?«

Ein Tumult entstand, aber gerade der Gezüchtigte wehrte mit Armen und Füßen die hinzuspringenden Seeleute ab und brüllte halb toll vor Freude:

»Jungens, Jungens, Mord und Hagel, das Zwerglein ist wieder da, die Brandfackel von Hamburg, der lateinische Hieber. Seht ihr nicht die goldenen Jungfernhaare? Jungens, Jungens, wie werden jetzt die Goldstücke wieder springen. Viktoria für den Hauptmann Wichmann!«

»Heil dem lateinischen Hieber – Viktoria für den Hauptmann Wichmann!«

 

»Es ist gut«, nickte der Kleine gelassen, »und jetzt führt mich zum Admiral.«

In dem Kreise aber regte sich kleinlauter Widerspruch. »Er hält Kriegsrat«, hieß es.

»Da gehöre ich hin«, bestimmte der Magister stolz, und sich zu seinem Begleiter zurückwendend, dessen Antlitz bei den letzten Enthüllungen bleich, wie nie zuvor, durch die Nacht starrte, sagte er beinahe mitleidig:

»Fasse dich, Cläuslein, du befindest dich auf der anderen Seite der Welt. Dort das anfänglich Gute zum Schlechten verzerrt, hier das ursprünglich Schlechte fürs Gute eingesetzt. Narretei und Wahn, hüben und drüben. Nur eines haben wir vor den anderen voraus: wir sind vorläufig noch die Schwachen und Ausgestoßenen, aber aus ihnen geht allemal das Heilige hervor! Komm, Bübchen, ich führe dich jetzt zu einem gar großen Herrn – Gödeke Michael.«

Das zweite Buch 

Es war um das Ostererwachen. Das Jahrhundert – das vierzehnte, da der Stern über Bethlehem geleuchtet – vertröpfelte, und fast dreizehnmal war Winter vom Sommer übergrünt worden, seitdem der alte Beckera in seiner kahlen Hütte auf der Sasseninsel bangsam die Hände über der wunden Brust verkrampft, dazu röchelnd:

»Mutting, es hilft nichts, unser Einziger ist dahin. Paß auf, bald fallen meine Augen mir zu, und sie werden ihn nicht wieder erblicken.« Es war Osterzeit.

Über Kopenhagen stieg eine flammende Sonne auf, die hüllte die damals noch kleine Stadt mit ihren verstreuten spitzen Kirchtürmen in einen fließenden Purpurmantel. Überall, an den Firsten der niedrigen Holzhäuser wie von den Masten der Flotte, die verankert auf der Reede lag, rollte das Licht in langen roten Fahnen herab, so daß es aussah, als ob die Gottheit selbst ein Fest schmücken wolle. Und Gottheit und Menschen in dieser ruhenden Stadt begingen wirklich einen Feiertag, ohne daß die noch schlafumstrickten Bewohner es ahnten, denn Friede neigte sich sacht zur Erde, Friede nach einer mörderischen, rauberfüllten, unsicheren Zeit, und die Sonne, die da ihr Rubinendiadem hoch in den Osterhimmel hob, sie wollte damit das Haupt des neu entstandenen nordischen Reiches krönen!

Das Menschenhaupt aber, das die drei Kronen tragen sollte, es eignete einem Weibe. Königin Margareta von Dänemark, Norwegen und nun auch von Schweden stand unter der Fensternische ihres Arbeitsgemaches, und von diesem Lugaus ihres Schlößchens, das sich ehemals nicht weit von der Langen Linie erhob, jetzt aber längst von der Zeit hinweggezehrt ist, schickte sie schon geraume Weile ihre Blicke nach den sonnenroten Masten der Kriegskoggen hinaus, die sich dort auf der weiten Fläche schaukelten wie in einem Becken voll glutroten Weines. Regungslos verharrte die schlanke und doch imposante und kräftig aufgerichtete Gestalt der zweiundvierzigjährigen Frau neben dem zur Seite geschobenen Vorhang, und man hätte meinen können, die Regentin, die Freundin alles geistlichen Werkes, gäbe sich einer andächtigen Osterstimmung hin. Allein weder auf der merkwürdig hohen Stirn unter den dunklen, welligen Haaren, die nur ganz verhuschend, kaum merklich, von einem blitzenden Silberstaub bestreut schienen, noch in ihren großen rostbraunen Augen, deren Schärfe und überlegener Spott Schrecken einjagen konnten, regte sich auch nur eine Spur von hingebender Schwärmerei. Nein, unter der schmalen, leicht gebogenen Nase Margaretens würde sich vielmehr sofort der ihr eigene geringschätzige Zug belebt haben, wenn man ihr derartiges im Ernst zugetraut hätte. Denn der Heißhunger, mit dem sie sich auf das Studium der Bibel, der Kirchenväter und der ihr erlangbaren Schriften der Mönche warf, bildete nur einen Teil des sie beherrschenden Dranges nach Macht und Geltung und konnte am nächsten Tage womöglich schon abgelöst sein durch den ebenso versengenden Eifer nach den Gesetzen der Ackerwirtschaft oder den Schönheitsmitteln griechischer Hetären. Alles Erlernbare war von dieser Frau auf sich herbeigerafft worden. In alle Fäden, die still durch die Welt strichen, hatte sie bedenkenlos ihre schmale Hand gestreckt. Mit allen Gelehrten, Künstlern, Staatsleuten ihres Jahrhunderts stand sie in Briefwechsel. Nicht etwa, weil eine heiße, innere Anteilnahme sie trieb, sondern nur, um sich immer von neuem zu rüsten gegen die Feinde ihres Geschlechtes. Diesem Hang entsprang auch die lächelnde Hingabe an bedeutende, wenn auch vielleicht alte und häßliche Männer ihrer Lande. Meinte doch der spöttische Aberglaube der Fürstin, die Fähigkeit der ihr Gesellten auf magische Weise einschlürfen zu können. Oder sie errechnete wohl auch nur ganz kühl und nüchtern, daß ihr die Beschenkten von nun an zu schweigender Knechtschaft verfallen seien. Kein wärmerer Herzschlag pulste den von ihr Erwählten entgegen, nur ihre sicher einfangende, perlende und scheinbar so offen quillende Liebenswürdigkeit spann sich fort und fort und verdeckte den Mindereingeweihten die gefährliche Zwiespältigkeit der ihnen so angenehm fließenden Rede. In jener Kunst jedoch hatte Margareta einen derartigen Grad von Vollkommenheit erreicht, daß sie manchmal beinahe selbst versucht war, das von ihr glänzend und leicht in die Luft Gemalte für körperhafte Gestaltung zu nehmen.

Nur ein Mann lebte, der beim ersten Wort, ja, schon am weichen, wohlklingenden Tonfall seiner Herrin erkannte, wann die Regentin die Pfade der Gradheit zu verlassen gedachte. Und obwohl das bartlose, durchfurchte, mopsnasige Antlitz des Drosten Henning von Putbus jene Kenntnis nicht durch ein Wimperzucken verriet, so empfand Margareta mit ihrem seherischen Blick doch ganz genau, wie sehr sie sowohl als ihre schönen Wortgespinste hier von ein paar trüben, erloschenen und häufig tränenden Fuchsaugen durchschaut wurden. Aber gerade dieses gegenseitige Wissen um ihre tiefsten Meinungen verband die beiden Menschen zu einer gemeinsamen hohen Bewunderung für ihre Klugheit. Es war das Bündnis eines Fuchses und einer Löwin, die sich gegenseitig um ihre Schliche und Pfiffe beneideten.

Auch heute verharrte der Reichshofmeister wegen des frühen Morgenbesuches in respektvollem Schweigen am Eingang unter dem Spitzbogen. Zwar bestand für ihn nicht der mindeste Zweifel, daß seine Gebieterin, der er ja außerdem durch einen Türwächter gemeldet war, sein Erscheinen längst bemerkt hätte, aber er gönnte ihr gleichwohl den Triumph, ihren ersten Ratgeber so lange harren zu lassen, bis es ihr gefällig sein würde, das tiefe Nachdenken, das sie ihm zeigte, von sich abzuschütteln.

Margareta lehnte ihren Arm an den Bogen des Fensters und trank hingegeben das Spiel der Masten in sich ein, die sich von den roten Wassern her gegen sie neigten. Unterdessen beschäftigte sich der überlange, grausig dürre und schon greisenhaft zitternde Kanzler damit, sein schreiend buntes Prachtkleid zurechtzustreichen, ja, er schien großen Wert darauf zu legen, daß die gewaltigen offenen Ärmel, die ihm fast bis auf die Knie herabhingen, auch nicht eine einzige Falte würfen. Mitleid fast konnte es erregen, wie unbarmherzig eng das Klappergebein bis über die schmalen Hüften in seine himmelblaue, mit Silberornamenten bestickte Schecke eingepreßt war, und die gelben Beinlinge mit ihren überlangen Schnäbelstrümpfen offenbarten geradezu grausam die ausgezehrte Magerkeit ihres Trägers. Dennoch hätte der greise Dürrling um keinen Preis die übel empfundene Unbequemlichkeit missen mögen. Denn dieser reiche und mächtige Mann geizte im stillen danach, dem farbenfrohen Sinn seiner Gebieterin einen Blick des Staunens abzulocken. Ihrer modelüsternen Laune zuliebe spielte das morsche Gerüst den Gecken.

Jetzt wandte sich endlich Frau Margareta zurück, und sofort begann um ihren etwas breiten, aber sehr ausdrucksvollen Mund ein liebenswürdiges, huldvolles Lächeln zu gleiten. Rasch schritt sie auf den tief zusammenknickenden Drosten zu und streckte ihm die Hand entgegen. Gewonnen führte der Greis die schmalen Finger an seine geborstenen welken Lippen. Auch die Königin trug ein ganz enges, ihre Gestalt fest zusammenschnürendes Gewand von dunkelgrüner Farbe, das eben erst aus dem Süden für sie angekommen war und namentlich die Brüste prall umschloß. Man nannte es »das Gefängnis«, jedoch die Fürstin bewegte sich in ihm frei und anmutig. Als sie den Arm hob, zitterten zwei lange goldene Troddeln bis auf den Erdboden hinab.

»Verzeiht«, begrüßte Margareta den Greis, »ich merkte Euch nicht. Warum habt Ihr Euch nicht kundgetan?«

Der Reichshofmeister pflanzte sein mildes, väterliches Lächeln auf.

»Ich wollte den Blick meiner königlichen Frau nicht unnötig von dem Bild der schönen Freibeuterflotte dort draußen ablenken«, sprach er in sanfter Ergebenheit. Und wie fortgerissen von einem unerhörten Begebnis, keuchte und hüstelte er atemlos weiter: »Ja, seht nur, seht, sechzehn kriegsstarke Koggen. Auch die neuen Lederschlangen führen sie an Bord. Und diese schlimmsten unserer Gegner sind gekommen, um Schwedens neuer Majestät zu huldigen.«

Seine schwache Stimme brach, und die Erregung, die er heraufbeschwor, ließ ihm merklich die Knie zittern.

»Setzt Euch«, befahl Margareta schonend, denn in diesem Augenblick fiel dem kräftigen Weibe der törichte Widerspruch zwischen der Schwäche ihres Kanzlers und seiner putzsüchtigen Maske auf. Als sich der Drost weigern wollte, tanzte ein vieldeutiger Funke in den großen Augen der Frau. Sie war es gewohnt, mit den Narrheiten auch der Klugen zu rechnen.

»Setzt Euch, Henning«, forderte sie nachsichtig, rückte selbst einen der hohen Stühle von ihrem Arbeitstisch fort und nickte, da der Drost sachte hinsank. »Setzt Euch, mein Freund, Ihr habt lange genug vor mir gestanden, da es noch gefährlich war, sich vor Spindel und Fingerhut zu stellen.«

Die Regentin hatte oft Anfälle einer überwallenden Dankbarkeit, und so strich sie auch jetzt sanft und kosend über die pergamentene Wange ihres ersten Vasallen. Herr Henning von Putbus aber schloß die Augen und war für diesen Augenblick überzeugt, daß seine Treue und Ergebenheit reichlich aufgewogen seien. Auch daß die schöne Frau ihn so traulich beim Vornamen nannte, weckte ihm alte unerfüllte Erinnerungen. Hier in Margaretas Arbeitsgemach saß der gerissene Staatsmann oft und spann wie ein verliebter Kater. Dabei übersah er es freilich heute, wie in seiner fröstelnden Rechten ein umfangreiches Pergament zu rascheln begann, von dem schon an Schnüren die großen Staatssiegel schaukelten. Margareta aber bemerkte es, und da sie keine Freundin von langatmigen Kabinettsvorträgen war, sondern ihre wohlklingenden Worte lieber auf andere wirken ließ, so bettete sie ihre Hände auf den Rücken und kreuzte nach ihrer Gewohnheit mit gemessenen Schritten den kleinen teppichbehängten Raum.

»Ja«, ließ sie ihre dunkle Stimme ertönen, »der Allmächtige hat uns Gnade erwiesen. Nach sieben Jahren voll Streit und Elend endlich ein Ziel. Die schwedischen Edlen für uns gewonnen, ihr verspielter König, der selbst unsere weibliche Ehre nicht geschont« – hier warf sie im Vorüberwandeln ihrem Hörer einen spähenden Blick zu, da das Gespenst im Seidenwams jedoch noch immer wie schlafend hockte, sprach sie beruhigt weiter –, »Gott verzeihe es ihm, er entstammt meiner leiblichen Sippe, und ich folgte nur Eurem Wunsch, Drost, daß wir ihn solange im Turm zu Lindholm bewahrten. Ist es so?«

»Es ist so«, murmelte der Kanzler geschlossenen Auges.

»Ihr wart stets streng und unnachsichtig in meinem Dienst«, setzte die Königin ihren Gang fort. »Ich danke Euch. Aber jetzt wollen wir Gnade üben. Er mag ausgehen, der unselige Mann, und mit ihm sein Bube, der Erbe jener von mir gestickten Narrenkappe und seiner französischen Dirnenpest.«

Auch diesmal zuckte der Kanzler keineswegs. Zu sehr war er an die unerhörte Offenheit gewöhnt, mit der die Witib von Dänemark gerade in Gegenwart von Männern an die verschwiegensten Dinge zu rühren liebte. Jener Freimut bildete eben eines der Mittel, durch die Margareta ihre Hörer zu verblüffen suchte.

Plötzlich jedoch blieb die Königin vor ihrem Ratgeber stehen und setzte die Hände in die Seiten.

»Und wie bürgen die Friedensboten von Falsterbo für ihren Schützling?« forschte sie geschäftlich, »denn abgerechnet unserer verwandtschaftlichen Nachsicht brauchen wir eine festere Sicherung, als sie uns der Wankelmut des entthronten Unruhestifters bieten könnte.«

Der Drost zeigte mit zitternder Hand auf eine Stelle des ausgebreiteten Pergaments.

»Dafür habe ich gesorgt«, wies er, während er befriedigt mit dem Kopfe schaukelte, »die Hansischen verpflichten sich für ihren Verbündeten zu einer Zahlung von 60 000 Pfund Silber oder sind bereit, Schloß und Gebiet von Stockholm nach drei Jahren in die Gewalt Eurer Majestät zu überliefern.«

 

»O Stockholm«, rief die Regentin heftig, und eine rasche Röte flutete in ihre Wangen, »wenn dort draußen das rechtlose Piratenvolk diese herrliche Stadt nicht durch viele Jahre mit allem Nötigen versehen hätte, wir brauchten heute nicht mit den hansischen Krämern um Bedingungen zu feilschen. Sagt, wieviel boten sie noch?«

»Sechzigtausend Pfund Silber«, schmunzelte der Drost, schnalzte mit der Zunge und rieb sich die Hände.

»Und Albrecht?« fragte Margareta hastig, und die Gehässigkeit der beleidigten Frau schlug in ihr durch, »wohin trägt er seine Narrenkappe?«

»Seine Verwandten räumen ihm in Mecklenburg einen Ruhesitz ein. Dort kann er weiter Püppchen aus Brotteig kneten, wie er es im Turm von Lindholm gelernt hat.«

»Das ist der Friede«, entschied Margareta ohne weiteres, »gebt her, ich unterschreibe!«

Beide Arme spreizte sie weit aus, ihre prallen Brüste rundeten sich unter dem engen Gewand, und der Drost sperrte seine triefenden Augen auf und staunte seine Herrin an wie ein wundersam Gebild.

»Gebt her!«

Sie ließ sich auf dem überdachten Stuhl hinter dem Eichentisch, nieder, riß die Schwanenfeder an sich und setzte in einem einzigen Zug ihren Namen unter das Dokument.

Eine Weile blieb es still in dem kleinen Gemach, die Weihe eines bedeutsamen Augenblicks füllte den Raum. Nicht lange. Wie träumend hatte die Königin mit einem winzigen Hammer auf eine Silberplatte geschlagen, und nachdem auf den hellen Ton hin ein Wappenknecht eingetreten war, befahl sie halblaut mit der verschleierten Stimme einer gläubig Entrückten:

»Meldet's den Kirchen. Es sollen alsbald alle Glocken geläutet werden. Der dreieinige Gott hat uns und unserem darbenden Volke Frieden beschert.«

Sanft verschlang sie die Hände auf dem Tisch und wartete, bis der Wächter das Zimmer verlassen. Dann aber lehnte sie ihre geschmeidige Gestalt voll aufatmend an die steile Wand des Thronstuhles zurück und hob ihre scharfen Augen zu den Schnitzereien der Bedachung.

»Norwegen und Dänemark«, flüsterte sie mit der tiefen Versenkung eines Schöpfers, »Drost, laßt von morgen auch das Wappen Schwedens über mir sein. Unsere Stimme wird fortan für ein großes, geeintes Reich gehört werden.«

Ehe jedoch der alte Mann noch sein Verständnis für das erhabene Wesen seiner Herrin bezeugen konnte, da geschah etwas Merkwürdiges. Das Haupt der Fürstin sank langsam zur Seite, bis es an der Schulter des dicht neben ihr sitzenden Greises einen Halt gefunden. Und doch merkte der also Geehrte trotz seines Zitterns sofort, daß Margareta keine Zärtlichkeit spenden wollte, sondern wie sie jetzt wirklich aus Zwang und Besessenheit heraus handelte. Halb gezogen streckte sie ihren vollen Arm nach den Masten aus, von denen die schwarzen Wimpel flatterten.

»Sieh, mein Freund«, raunte sie, ganz als ob sie zu einem gegenwärtigen Traumbild spräche, das eben erst aus ihrem eigenen Hauch entstanden, »sieh dorthin! Meinst du nicht, daß an uns noch ein höherer Ruf ergehen könnte? Wie sagt die Heilige Schrift? »Stecke deine Zelte weiter.« Dort draußen schaukelt ein Schwert auf den Wassern. Und unsere See spielt um Engelland, Hispanien und Friesland. Ob es Sünde wäre, nach der Waffe zu greifen, die der Herr uns mit Wind und Fluten entgegentrieb?«

Ihre großen lebendigen Augen weiteten sich überirdisch, ihre Lippen murmelten unhörbar weiter, und ihr Atem stand auf einmal still. Diesmal handelte es sich gewißlich nicht um Täuschung, denn der schöne Körper des Weibes lag so gebannt, als ob ihr innerster, unstillbarer Wunsch aus ihr hervorgetreten sei und sie hielte jetzt Zwiesprache mit ihrem leibhaften Dämon.

Der Drost aber zuckte wehleidig zusammen; nicht nur, da sein morsches Knochengerüst nicht länger die angenehme Last des ruhenden Frauenkopfes zu tragen imstande war, sondern weil ihn der trockene Glaube plagte, daß Frau Margareta nur immer dann so hoch in den Himmel entrückt wurde, wenn es galt, höchst irdische Geschäfte als von oben empfangen darzustellen. Deshalb meinte er auch recht nüchtern, indem er jede übersinnliche Sphäre als zeitraubend beiseiteschob:

»Die Freibeuter wissen ganz genau, was sie wert sind. Es sind ungeduldige, hoffärtige Gesellen darunter. Man wird sie nicht allzulange warten lassen dürfen.«

Kaum hatte das nickende Gerippe in dem blauseidenen Wams dies geäußert, als seine Ansicht auch sofort durch ein äußeres Begebnis bestätigt wurde. Von den Schiffen krachte ein Schlag herüber, eine Dampfwolke ballte sich, und von dem ungewohnten, nie gehörten Knall aufgeschreckt, sprang die Königin plötzlich empor, vergaß ihre eben noch gespürte Erweckung und bewegte sich heftig, ohne irgendwelche Gemessenheit, dem kleinen Fenster zu. Draußen schwelte noch die graue Dampfwolke um die Schiffe.

»Was ist das?« erkundigte sich Margareta jugendlich ungestüm.

Um den verrunzelt eingefallenen Mund des Drosten spielte ein behagliches Lächeln. Es befriedigte den Alten, seine Herrin einmal außer Fassung zu sehen. Darum antwortete er gemächlich:

»Das, hohe Frau, sind die drei Lederschlangen von der »Agile«, dem Admiralsschiff des Störtebecker. Habt acht, er ist ein Fürst unter den Seinen, unermeßlich reich und von wilder, verwegener Gemütsart. Ihr wißt wohl, was das Volk von ihm singt?«

»Ich erinnere mich«, sagte die Regentin und blickte suchend zu Boden. »Eine dumme, törichte Reimerei. Plump und roh wie alle Bauernpoesie.

 
»Vom Mast die schwarzen Flaggen wehn –
Claus Störtebecker ist Kapitän.
Es pfeift der Wind, es schäumt die Flut,
Der Degen kreist, es spritzt das Blut.
Kein Unrecht erbt sich länger fort,
Komm, feine Dirn, zu mir an Bord.
Wir müssen unter Segel gehn –
Claus Störtebecker ist Kapitän.«
 

Lacht nicht«, schloß die Fürstin und verzog verweisend die Brauen, und doch entdeckte der scheinbar so müde Drost, wie Margareta ein paarmal unbeherrscht ihre Zunge über die Lippen wetzte. »Weshalb rühmt man den schweifenden Raubgesellen gleich einem Helden? Besitzt das Volk keine würdigeren Heroen?«

Die Königin schien ernsthaft verletzt, daher war es wohl nur Zufall, daß sie sich dabei prüfend den schweren Stoff über ihrer Hüfte glättete. Der Kanzler aber beugte sich zustimmend vor, er wickelte die langen gelben Beine wurmhaft umeinander und rollte zugleich das Staatsdokument zusammen.

»Verzeiht, Herrin«, versuchte er die Verstimmte vorsichtig zu belehren, »wer lange lebt, der weiß, wie Recht und Unrecht, Gewalttat und Heldenstück keine eigentliche Farbe strahlen. Vielmehr kommt es immer darauf an, woher das Licht auf sie fällt. Und was zudem diese Haufen da draußen angeht, so besitzen sie Freibriefe von Rostock und Wismar, sind daher als kriegführende Macht anerkannt. Meint Ihr wohl, die Kondottieri Eurer italienischen Vettern mit ihrem zusammengelaufenen Gesindel seien besser? Auch halten ihre Admirale Störtebecker und Gödeke Michael unerbittliche Manneszucht und haben sich überdies den Titel »Mehrer des Rechts« zugelegt.«

»Auch das noch«, zürnte die Fürstin und vollführte eine hochmütige Handbewegung. »Wißt Ihr vielleicht auch, Herr Henning von Putbus, woher die Hauptleute jene göttliche Bestallung erlangt haben?«

Das Unterste war in der Frau gereizt, ihr tief verborgener Stolz auf ihre uralte Heldenabstammung; die Tochter Waldemar Attertags reckte sich, von der hohen Stirn leuchtete ihr eine unbeschreibliche Abgeschlossenheit.