Toter Chef - guter Chef

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3.

„Konflikte!? Ob es hier Konflikte gibt? Sie scherzen, Herr Kommissar. Was glauben denn Sie?“ Ingrid Wiesmüller lachte bitter vor sich hin, warf dann ihren beiden Kollegen einen amüsierten Blick zu. Zu fünft saßen sie tief eingesunken in den weichen Sesseln im Empfangszimmer des Direktorates des KaRaGe: Kellert und PKA Hannah Mellrich, Ingrid Wiesmüller, die stellvertretende Direktorin des Gymnasiums, daneben Ulrich Schongauer, durch den weißen Kragen als Priester erkennbar, ansonsten aber leger gekleidet, sowie Thomas Brox, die beiden weiteren Mitarbeiter im Direktorat.

Ingrid Wiesmüller war gertenschlank, dezent geschminkt, gekleidet in ein modisches, cremefarbenes, sicherlich nicht ganz billiges Kostüm. Sie mochte knapp fünfzig Jahre alt sein – etwas jünger als ich, schätzte Kellert –, trug eine goldrandeingefasste Brille mit Halbmondgläsern an einer um den Hals hängenden Kette, sprach laut, gewohnt, dass man ihr zuhörte, und – fand Kellert – so, dass man sich automatisch fügen wollte. Sie hatte sofort und wie selbstverständlich die Gesprächsführung an sich gerissen. Jetzt war sie hier die Chefin, daran ließ ihr ganzes Verhalten keinen Zweifel.

Schongauer – sicherlich über sechzig, fast komplett glatzköpfig bis auf einen mattgrau schimmernden Haarkranz, untersetzt, in dunkler Hose, blauem Hemd mit Kollar, dem etwas zu eng anliegenden weißen Priesterkragen, sowie hellgrauem Pullunder – hatte schon bei der Begrüßung klar gemacht, was seine Funktion war: „Ich sage immer: Ich bilde sozusagen die Brücke zum Bistum. Und bin hier als Schulseelsorger eingesetzt.“ Nun seufzte er und verdrehte die Augen zum Himmel. Dass er hier nicht viel zu sagen hatte, war mehr als deutlich.

Thomas Brox sah so aus, wie viele von Kellerts eigenen Lehrern, an die er sich noch erinnerte. Mit gebügelter Jeans, modischem Pullover, halblangen, mit einem ersten Hauch von Silbersträhnen durchsetzten braunen Haaren und einem gepflegten Dreitagesbart. Gewinnendes Lächeln, ein leicht ironischer Zug um den Mund, fester Händedruck. „Brox. Ich bin hier verantwortlich für die Klassenverteilung, den Stundenplan – alles, wofür man einen Lehrer mit Computerkenntnissen braucht“, so hatte er sich vorgestellt.

Nun blickte er mit ein wenig Distanz zu seiner Kollegin, die plötzlich seine Vorgesetzte war. Oder sich so aufführte. Ein leicht zynisches Grinsen setzte sich in seinen Mundwinkeln fest, als er bestätigte: „Konflikte? Aber ja.“ Dass diese beiden in der Schulleitung arbeitenden Kollegen nicht immer einer Meinung waren, ließ sich schon auf den ersten Blick deutlich an Körpersprache, Gestik und Mimik erkennen.

Ingrid Wiesmüller, Lehrerin für Deutsch, Englisch und Sozialkunde, dachte jedenfalls gar nicht daran, einem ihrer Kollegen die Gesprächsführung zu überlassen. Kellerts Frage, ob es an ihrer Schule Konflikte gäbe, fand sie offenbar wirklich amüsant. „Wir entscheiden hier tagtäglich über Lebensläufe. Über Gelingen und Scheitern. Über Vorankommen oder Stagnieren. Bei den Schülerinnen und Schülern, denen wir Noten geben. Geben müssen. Manche müssen die Schule verlassen. Andere scheitern an dem Niveau, das sie sich selbst erhoffen oder – das ist noch viel häufiger der Fall – das ihre Eltern von ihnen erwarten. Und wir“, erneut blickte sie Zustimmung heischend, aber nicht abwartend auf ihre beiden Kollegen, „wir entscheiden darüber, täglich.“

Brox ließ sich nicht so leicht einschüchtern und mischte sich ein. „Das ist ja ganz normal, werte Kollegin, das gehört nun einmal zum gesellschaftlichen Erziehungsauftrag der Schule“, warf er ironisch ein. „Aber wenn Sie mich fragen: Konfliktträchtiger ist der Umgang mit den Kollegen. Seien wir doch ehrlich!“ „Gewiss, dazu wollte ich ja gerade auch kommen“, fuhr ihm die stellvertretende Direktorin in die Parade. „Wissen Sie, wie viele Lehrerinnen und Lehrer wir hier am KaRaGe haben?“, wandte sie sich unvermittelt an die beiden Besucher, die bislang zwar aufmerksam, aber eben doch weitgehend unbeteiligt dem Gesprächs-Scharmützel gelauscht und sich ihre Gedanken gemacht hatten. Sie waren zu verblüfft, um sofort zu antworten.

„Na kommen Sie schon, wagen Sie einen Tipp“, ermunterte Ingrid Wiesmüller den Kommissar. „Sie auch!“, wandte sie sich an die Kommissars-Anwärterin. Kellert räusperte sich, überlegte kurz, sagte zu sich ‚Warum nicht?‘ und antwortete: „Ich sage mal siebzig?“ „Ich tippe auf knapp hundert“, sekundierte Hannah Mellrich mit selbstbewusster Stimme.

„Nicht schlecht“, nickte die stellvertretende Direktorin, als Lehrerin gefangen in der Routine der bewertenden Rückmeldung. „Einhundertzehn Kolleginnen und Kollegen, und das bei knapp zwölfhundert Schülerinnen und Schülern. So sieht das aus.“ Irgendwie zufrieden blickte sie auf die beiden Kriminalbeamten. Von einer Erschütterung über den Tod ihres bisherigen Chefs war ihr sowieso nichts anzumerken. Ein routiniert benanntes Bedauern hatte sie gleich zu Anfang geäußert, mehr nicht.

Sie hatte ihren Gedankengang aber noch nicht abgeschlossen. „Einhundertzehn Kolleginnen und Kollegen! Alle wollen gesehen, gelobt, beachtet werden. Alle wollen Karriere machen. – Okay, fast alle!“, korrigierte sie sich, als sie sah, dass Thomas Brox einen kritischen Einwand machen wollte. Weder gab sie ihm dazu die Gelegenheit, noch ließ sie sich in ihrem einmal aufgenommenen rhetorischen Schwung ausbremsen. „Alle haben das Gefühl, benachteiligt zu werden. Alle gehen davon aus, dass sie, sie für die spannenden und besser bezahlten Jobs am besten geeignet sind. Alle wollen gut benotet und gefördert, ach was: befördert werden. Und auch darüber entscheiden letztlich wir. Und das soll ohne Probleme und Konflikte gehen? Sie haben vielleicht Nerven!“

„Wir entscheiden streng genommen allerdings nicht darüber, liebe Kollegin“, nutzte Ulrich Schongauer die kleine Pause, um sich mit sanfter Stimme einzubringen. „Das entscheidet letztlich allein der Chef. Wir beraten ihn natürlich dabei“, fügte er in Richtung der beiden Gäste hinzu. „Ich sage immer: Schule ist wie das Leben überhaupt“, meinte er dann in leicht predigtartigem Tonfall. „Alle Konflikte, die es im Leben gibt, bilden sich auch bei uns ab. Schule ist kein Schonraum. So gern wir das auch hätten. So ist das nun einmal.“ Er hob nachdenklich die Hände.

Kellert nutzte die Möglichkeit, nun doch nachzufragen: „Das habe ich durchaus erwartet, dass wir es selbst beim Domgymnasium nicht mit einer Insel der Seligen zu tun haben.“ Damit wies er mit der rechten Hand auf eines der großen, goldgerahmten Ölgemälde an der Wand, das die selige Lissi von Friedensberg zeigte, eine Ordensfrau des 17. Jahrhunderts. Erst vor siebzehn Jahren war sie seliggesprochen worden. „Aber gab es in letzter Zeit Konflikte, die über das Normalmaß hinausgingen?“

„Sie suchen ein Mordmotiv, oder?“ Kalt blickte ihn Ingrid Wiesmüller über die Halbmondgläser ihrer soeben aufgesetzten Brille an. „Sie haben mich also nicht verstanden. Sie suchen nach etwas Besonderem. Nach einer monströsen Geschichte, die alles Verstehen sprengt. Was ich sagen wollte, war aber genau das Gegenteil: Unser Alltag ist so voller versteckter Aggression, unterdrückter Gewalt und zivilisierter Frustration, dass es das Besondere nicht braucht. Das ist Alltag hier, verstehen Sie? Das kann sich überall entladen. Ohne großen Anlass. Was glauben Sie, warum es zu Amokläufen kommt? Irgendwann kocht etwas über. Dafür braucht es manchmal nur einen dummen Zufall, einen eigentlich belanglosen Auslöser.“ Zufrieden schaute sie ihn an, faltete die Arme vor der Brust und fügte hinzu: „So: Da haben Sie Ihr Motiv.“

Ulrich Schongauer hatte den Ausführungen seiner Kollegin zugehört, mehr und mehr aber seine wachsende Distanz signalisiert. Nun schüttelte er stirnrunzelnd den Kopf: „Also so negativ sehe ich das nicht, Frau Wiesmüller.“ – ‚Kein Duz-Verhältnis‘, notierte sich Hannah Mellrich in Gedanken – „Als säßen wir hier permanent auf einem Pulverfass. Als gäbe es nur ein ständiges Gegeneinander: Lehrer gegen Schüler, Kollegen gegen Kollegen. Wir sind immerhin auch eine Gemeinschaft. Eine Schulfamilie. Wenn das so schrecklich wäre, wie Sie, geschätzte Kollegin, das schildern, dann würde ich mich sofort um eine andere Stelle bewerben. Sofort! Ja, Konflikte sind Teil des Lebens, das habe ich vorhin schon betont. Aber sie sind es hier nicht mehr als anderswo.“

„Aber auch nicht weniger, Pater Schongauer, auch nicht weniger!“, fiel ihm Ingrid Wiesmüller ins Wort. „Und ich sage ja auch gar nicht, dass all das die Oberfläche unseres Alltags bestimmt. Im Gegenteil: Es kommt darauf an, diese Gemengelage zu kontrollieren und zu beherrschen. Und genau dafür sind wir zuständig: die Schulleitung! Das ist unser Job. Dafür bekommt man nicht nur Applaus. Da wird man nicht everybody’s darling. Wenn alles glattläuft, halten viele das für normal. Aber sobald es Schwierigkeiten gibt, fallen sie von allen Seiten über uns her. Ist doch so.“

Nun schaltete sich Thomas Brox ein: „Herr Kommissar. Ich stimme der Kollegin Wiesmüller zwar nicht in allem zu. Aber in einem schon: Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Sie den Täter – oder die Täterin – hier in der Schule finden werden. Also mir ist jedenfalls kein Konflikt bekannt, der aus dem alltäglichen Miteinander und Gegeneinander herausragen würde. Kein Grund, warum der Kessel explodieren müsste, um im Bild der werten Kollegin zu bleiben. Oder?“

Zustimmung heischend blickte er auf seine beiden Kollegen. Die waren ausnahmsweise einmal einer Meinung und nickten: Ulrich Schongauer zögerlich und mit nur angedeutetem Heben und Senken des rundlichen, leicht rot angelaufenen Kopfes, Ingrid Wiesmüller mit energischen, ruckartigen Bewegungen. Obwohl ihr Kollege Brox ihren Hauptgedanken gar nicht aufgenommen hatte.

Es klopfte. Ohne auf eine Reaktion zu warten, öffnete sich die Tür zum Empfangszimmer des Direktorates. Eine vielleicht vierzigjährige, schick gekleidete und dezent, aber perfekt geschminkte, schlanke Frau trat ein, beladen mit einem Tablett voller Tassen, Untertassen, kleinen silbernen Löffeln, einem Zuckerdöschen, einem Milchkännchen und einer Kanne frisch aufgebrühten Kaffees. Die Frau warf einen freundlichen, offen lächelnden Blick in die Runde und fragte: „So, möchte jemand einen Kaffee?“

 

„Danke, Frau Blum, Sie sind ein Schatz! Aber das wissen Sie ja!“, antwortete Ingrid Wiesmüller sofort, und ihre Stimme nahm eine Wärme an, die sie vorher noch nicht hatte erkennen lassen. „Frau Blum, unsere Chefsekretärin!“, stellte die Lehrerin die Mitarbeiterin vor. „Erst seit zwei Jahren bei uns, aber schon absolut unbezahlbar.“

Die derart Gelobte lächelte, hob aber abwehrend die Hände. „Nein, nein. Sagen Sie das nicht. Ich tue doch nur meine Pflicht. Das aber einfach gern.“ „Und gut“, ergänzte Thomas Brox schmunzelnd. „Lassen Sie das Lob doch einfach mal so stehen, Saskia! Das Sekretariat ist das Herzstück einer Schule. Nicht das Direktorat, wie viele von uns in dreister Selbstüberschätzung meinen.“ Sein Blick verlor sich für den Bruchteil einer Sekunde im Raum. Aber er fuhr fast unmittelbar danach fort: „Und wenn das Herz nicht schlägt, wie es soll, dann leidet der ganze Körper. Seit Sie da sind, Saskia, geht es uns prächtig.“

Brox hielt kurz inne, besann sich und ergänzte: „Was nicht heißen soll, dass es uns vorher schlecht ging.“ Saskia Blum lächelte, warf den Kopf abwägend hin und her und machte sich dann daran, den Raum wieder zu verlassen. „Wenn Sie noch etwas brauchen: Sie wissen ja, wo Sie mich finden.“

4.

Die beiden Kriminalbeamten hatten dem freundlichen Austausch neugierig gelauscht, wortlos, aber mit unausgesprochener Dankbarkeit der Sekretärin zugenickt und nahmen sich nun jeweils einen Kaffee. „Gratuliere!“, mischte sich Kellert nun ein. „Da haben Sie einen guten Fang gemacht. Das sieht man gleich. Also wenn unsere gute Sekretärin in zwei Jahren in den Ruhestand geht, melde ich mich bei Ihnen.“

„Unterstehen Sie sich!“, gab Ingrid Wiesmüller spielerisch mit dem Zeigefinger drohend zurück. „Die brauchen wir schon selbst!“ Das kleine, unaufgeregte verbale Intermezzo tat allen im Raum gut, das war deutlich zu spüren. Selbst Ingrid Wiesmüller hatte sich in ihrem Sessel zurückgelehnt und saß nun viel entspannter da als zuvor. Aber es half ja nichts. Sie waren nicht zum Plaudern zusammengekommen.

„Nun sind wir hier, weil Ihr Alltag völlig aus den Angeln gehoben wurde“, führte Kommissar Kellert zum eigentlichen Anlass des Gespräches zurück. „Ihr Chef, Dr. Geißendörfner, ist ermordet worden. Äußerst brutal. Da hat jemand in großer Wut und aus tiefem Hass gehandelt. Der Kessel ist explodiert. Darum geht es. Wir“ – hier deutete Bernd Kellert auf seine Mitarbeiterin, was diese dankbar zur Kenntnis nahm – „müssen und werden diese Tat aufklären.“

Seine Augen verengten sich, seine Miene drückte bittere Entschlossenheit aus. „Und ob das nun aus einem scheinbar nichtigen Anlass heraus passierte“ – hier blickte er nickend zu Frau Wiesmüller – „oder ob da doch eine schwierigere Geschichte dahintersteckt, das werden wir sehen. Auch, ob es etwas mit Dr. Geißendörfners Tätigkeit hier am Domgymnasium zu tun hat. Das ist natürlich nur eine von mehreren Möglichkeiten. Keine Sorge, unsere Ermittlungen setzen breit an. Wir werden alles prüfen, das kann ich Ihnen versichern! Alles!“

Er blickte konzentriert, aber lächelnd auf die drei Mitarbeitenden des Direktorates. Sie bildeten nun die Leitung des KaRaGe. „Ich bin Ihnen für alle Form der Mitwirkung dankbar“, sicherte der Kommissar ihnen zu, „und glauben Sie mir: Ich weiß, wie heikel diese Angelegenheit ist. Ihr Schulbetrieb muss weitergehen. Das ist mir völlig klar. Und ich verspreche Ihnen größtmögliche Diskretion und Vorsicht. Soweit es eben machbar ist.“

Dankbar und Zustimmung signalisierend lächelte ihn der Schulpfarrer an. Thomas Brox nickte, ohne große Gefühlsregungen erkennen zu lassen. Ingrid Wiesmüller hingegen schaute Kellert herausfordernd und mit leicht skeptischem Schmunzeln an. Wenn ein Kommissar so begann, würde er etwas wollen, da war sie sich sicher. Rhetorisch geschult war sie selbst eben auch. ‚Gib ihnen etwas, bevor du etwas von ihnen willst.‘ Jaja, leicht durchschaubar. ‚Also: Nur heraus damit!‘, dachte sie.

Ihre Erwartung wurde nicht enttäuscht: „Ja, wie war er denn nun, Ihr Chef?“, fragte Kellert. „Als Direktor der Schule und als Mensch. Ich möchte, nein muss mir ein möglichst genaues Bild von ihm machen. Bitte, es geht nicht um eine verklärende Erinnerung von wegen ‚über Tote sagt man nichts Schlechtes‘. Das würde weder Ihnen helfen noch mir. Ich muss verstehen, was für ein Mensch er war.“

Die stellvertretende Schulleiterin fühlte ganz selbstverständlich sich selbst als Erste angesprochen und antwortete ganz direkt: „Da kann ich Ihnen nur wenig sagen, Herr Kommissar. Ich bin erst vor zweieinhalb Jahren an diese Schule gekommen. Vorher war ich an einem kirchlichen Gymnasium in Würzburg. Als hier am KaRaGe die Stellvertretung ausgeschrieben war, habe ich mich beworben. Seitdem bin ich hier. Mit dem Chef hatte ich privat fast keinen Kontakt. Aber wir sind alles in allem gut miteinander klargekommen. Als Schulleiter war er fraglos kompetent: ein echter Pädagoge. Vielleicht ein bisschen zu nachgiebig gegenüber Eltern und Schülern. Ich wäre manchmal etwas härter gewesen. Nein, nicht härter, klarer.“

‚Das glaube ich dir aufs Wort‘, dachte Kellert. Unterdessen hatte Ulrich Schongauer das Wort ergriffen. „Ich kenne – kannte – den Bertram am längsten. Zumindest seit Lilli nicht mehr hier ist.“ Kellert blickte ihn irritiert an. Schongauer fing seinen Blick auf und ergänzte sofort: „Lilli Schildbach, die Vorgängerin von Frau Wiesmüller. Die ehemalige zweite Chefin. Also die war eine Ewigkeit hier an der Schule.“

Schongauer hatte den Faden verloren, überlegte kurz, strich sich mit der linken Hand über die Glatze, dann fiel ihm sichtlich wieder ein, was er hatte sagen wollen: „Jedenfalls: Wir haben damals zusammen Philosophie studiert, der Bertram und ich, hier an der Uni in Friedensberg. Ich im Rahmen meines Theologiestudiums, er als angehender Philosophielehrer. Philosophie, Latein, Griechisch, das war seine Kombination. Das sagt schon vieles über ihn aus. Ein Humanist. Ich sage immer: ein wahrhaft humaner Humanist. Breit gebildet. Humorvoll. Gütig.“

Die stellvertretende Direktorin wollte etwas einwerfen, aber dieses Mal setzte sich der Schulpfarrer durch: „ … wenn man ihn ließ. Nicht alles lässt sich mit Güte klären. Leider Gottes! Ach ja: Noch etwas! Er war ein gläubiger Mensch. Ein Katholik natürlich, sonst hätte er diese Schule nicht leiten dürfen. Aber aus Überzeugung, nicht wie manche hier“ – er vermied bewusst, jemanden konkret anzublicken – „nur pro forma. Aber er trug seinen Glauben nicht vor sich her. Er war einfach Teil seines Lebens. Und das – behaupte ich jetzt einfach mal – haben die Schülerinnen und Schüler auch gespürt.“

Nachdenklich blickte Ulrich Schongauer vor sich hin. Er tupfte sich sanft mit der rechten Hand über die Wange. Zerdrückte er eine heimliche Träne? Er kämpfte sichtlich darum, die Beherrschung nicht zu verlieren. Erfolgreich. Mit unveränderter Stimme sprach er weiter: „Dann haben wir uns überraschend hier an der Schule wieder getroffen, der Bertram und ich. Er stammte ja von hier. Seine Familie hat hier einen guten Namen, und das schon seit Generationen. Damals war er noch stellvertretender Direktor. Und der Lobkowitz der Chef. Zwölf Jahre ist das jetzt her.“

Er rechnete nach: „Ja, zwölf Jahre. Gute Jahre. Geprägt von vertrauensvoller Zusammenarbeit. Fast immer.“ Wieder hielt er inne: „Das Bistum hätte keinen besseren Direktor für diese Schule finden können, denke ich. Er hätte alles getan, um den guten Ruf der Schule – seiner Schule, wie er immer sagte – zu retten, falls er bedroht wäre.“ Er blickte kurz, von dieser unbemerkt, auf Ingrid Wiesmüller. „Er wird fehlen. Der Schule. Mir.“

Fragend blickte Kellert zu Thomas Brox. Aber der zuckte nur mit den Schultern und meinte leichthin: „Dem kann ich eigentlich nichts mehr hinzufügen. So sehe ich das auch. Selbst wenn ich in manchem anderer Meinung war als der Chef. Politisch. Und pädagogisch. Aber wir haben uns respektiert. Sonst hätte er vor sechs Jahren ja wohl kaum meiner Beförderung in die Schulleitung zugestimmt, oder?“

Er überlegte und fügte dann doch noch einen Gedanken hinzu: „Nun, pressegeil war er, ist ja klar.“ „Wie bitte?“ Kellert war sich nicht sicher, ob er sich verhört hatte. „Pressegeil“, wiederholte Brox mit verächtlichem Gesichtsausdruck. „Aber das sind alle Direktoren. Wollen, dass ihre Schule in den Zeitungen auftaucht, auch im Internet. Natürlich nur mit positiver Außendarstellung. Über jede Kleinigkeit soll berichtet werden. Je mehr, desto besser. Und möglichst selber mit drauf auf das Foto. Auf einer Seite mit den Kaninchenzüchtern und Schützenvereinen.“

Ingrid Wiesmüller hatte mit zunehmendem Kopfschütteln zugehört. Jetzt schaltete sie sich ein. „Kollege Brox, was soll das? Sie wissen doch so gut wie wir alle, dass man heute in den Medien präsent sein muss. Sonst wird man nicht wahrgenommen. Da machen die Schulen keine Ausnahme. Sie haben Recht, Dr. Geißendörfner wollte, dass über das KaRaGe möglichst oft berichtet wurde. Aber doch nicht aus persönlicher Eitelkeit! Es ging ihm um den Ruf der Schule. Immer.“

Die stellvertretende Schulleiterin sprach scharf und klar. Sie ließ keinerlei Rückfragen an die Integrität ihres Chefs zu. ‚Loyal, auch über den Tod hinaus‘, dachte Kellert, während sie weitersprach, teils an die Besucher gerichtet, teils an die beiden Kollegen: „Dr. Geißendörfner war sich über die lange Tradition des Domgymnasiums nur zu gut im Klaren. Und er wusste, dass auch sein Porträt einmal in Öl gemalt drüben im Festsaal hängen wird. Wie es eben so üblich ist. Tradition verpflichtet!“

Brox zog eine Grimasse, was Ingrid Wiesmüller geflissentlich übersah. „Wir leben in einer Gesellschaft, die sich viel zu rasch über jahrhundertelang bewährte Erfahrungen und Werte hinwegsetzt“, dozierte sie weiter. „Wir hier versuchen, dem entgegenzusteuern, Dr. Geißendörfner allen voran. Aber verstehen Sie mich richtig“, hier wandte sie sich an ihre beiden Besucher. „Er war gleichzeitig ein Kind seiner Zeit und ein Mensch der Gegenwart. Traditionsbewusstheit und offene Zeitgenossenschaft schließen einander nicht aus. Im Gegenteil! Dafür steht unsere Schule. Dafür stand unser Chef. Dafür! Und er wusste, dass Medienarbeit und Außendarstellung ein unverzichtbarer Teil moderner Schulführung sind.“ Sie konnte sich eine kleine Spitze nicht verkneifen: „Auch wenn Sie da anderer Ansicht sein mögen.“

Thomas Brox grinste matt, sparte sich aber eine Erwiderung. Unnötig. Er winkte kaum wahrnehmbar mit der rechten Hand ab. Plötzlich fiel ihm jedoch noch etwas ein: „Sie sollten mit der Teresa sprechen! Teresa Andernach, unsere Schülersprecherin. Zwölfte Klasse. Die kann Ihnen die Sicht der Schülerinnen und Schüler am besten nahebringen. Wenn Sie ein komplettes Bild haben wollen, sollte diese Stimme doch nicht fehlen. Oder sehen Sie das anders, Frau Kollegin?“

Ingrid Wiesmüller, an die sich diese Frage natürlich gerichtet hatte, kniff die Lippen zusammen, hielt es aber offensichtlich unter ihrer Würde, darauf einzugehen. Immerhin senkte sie sekundenlang die Lider und schüttelte kaum wahrnehmbar den Kopf. Brox fügte an: „Teresa Andernach: eine selbstbewusste junge Dame, Sie werden es schon sehen. Und die hat auch ihre Sträußchen mit dem Chef ausgefochten, wenn ich mich richtig entsinne.“ Er wandte sich an seine beiden Kollegen. „Das wäre doch sinnvoll, oder?“

Ingrid Wiesmüller blickte nach wie vor skeptisch. „Was soll das schon bringen? Ich würde die Schülerinnen und Schüler gern aus der ganzen Sache heraushalten.“ „Das geht nicht. Sie sind doch schon mittendrin“, fiel ihr Thomas Brox ins Wort. Missbilligend blickte sie ihn an. „Vielleicht. Wenn es nicht anders geht. Aber bitte“ – sie blickte die beiden Polizisten an – „mit aller Zurückhaltung. Und glauben Sie der Teresa nicht alles, was sie sagt. Sie neigt zu sehr einseitiger Wahrnehmung und Darstellung.“

Brox wollte widersprechen, aber die stellvertretende Schulleiterin hatte inzwischen wieder die Kontrolle über die Gesprächsführung übernommen. Ihr Blick ließ ihn verstummen. Kellert warf ein: „Gut, dann bestellen Sie doch bitte dieser Schülerin, dass ich sie sprechen möchte. Dass wir sie sprechen wollen“, korrigierte er sich.

Ingrid Wiesmüller nickte, hüstelte, blickte auf die Wanduhr, die sich zwischen den großformatigen Gemälden berühmter Persönlichkeiten von Friedensberg und dieses Gymnasiums fast zu verstecken schien. Sie wandte sich an die beiden Besucher: „Oh! In fünf Minuten ist große Pause. Da müssen wir für die Kolleginnen und Kollegen da sein. Gerade heute! Das werden Sie verstehen, oder?“

 

Die stellvertretende Schulleiterin schaute die beiden Kriminalbeamten mit scharfem Blick an. Sie spürte durchaus, dass sie das Gespräch so nicht beenden konnte und noch irgendetwas Verbindliches anfügen musste. „Natürlich werden wir die Kolleginnen und Kollegen auffordern, bestmöglich mit Ihnen zu kooperieren“, fügte sie an. „Und dass sie von sich aus auf Sie zugehen, falls ihnen irgendetwas Außergewöhnliches aufgefallen ist. Erhoffen Sie sich davon jedoch nicht zu viel. Aber wir werden es zumindest versuchen. Und bitte teilen Sie uns mit, wenn wir Ihnen in irgendeiner Weise behilflich sein können. Je eher wir wissen, warum diese furchtbare Tat geschah, umso besser!“

Bernd Kellert nickte wortlos. Nein, in diesem Ton ließ er normalerweise nicht mit sich und seinen Kollegen reden. Sein Gegenüber schien sich über die Rollenverteilung, die nun zwischen ihnen herrschte, nicht ganz im Klaren zu sein. Aber das würde er dieser Frau Wiesmüller – falls nötig – zu gegebener Zeit schon deutlich machen. Nicht jetzt, nicht hier.

Er legte die Karte mit seinen Kontaktdaten auf den Rundtisch in der Mitte des Raumes. Die stellvertretende Direktorin hatte nichts anderes erwartet. Sie beendete ihre Ausführungen ohne Pause: „Wenn also jetzt von Ihrer Seite aus nichts ganz Dringendes mehr ansteht …“

Sie ließ den Satz ausklingen. Die Botschaft war deutlich. Kellert überlegte kurz, schien noch etwas anfügen zu wollen, verabschiedete sich dann jedoch und verließ mit seiner jungen Mitarbeiterin das Direktorat. Sie würden aber gewiss noch im Sekretariat vorbeischauen, um sich von Saskia Blum zu verabschieden.