Toter Chef - guter Chef

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5.

Dominik Thiele war überrascht, welchen inneren Zwiespalt er empfand. Einerseits war es seltsam, seinen Chef nicht zu begleiten. Viereinhalb Jahre lang waren sie nun schon ein Team, und sie hatten sich wirklich sehr gut eingespielt. Ohne viele Worte. Blicke und Gesten reichten inzwischen aus, um sich perfekt zu verständigen.

Auf der anderen Seite spürte er ein großes Gefühl von Befreiung. Er selbst – nur er! – war allein unterwegs. Einen Chef, der das Kommando hatte, brauchte er nicht. Nicht mehr. Er würde das auch so hinbekommen, da war er sich sicher. Schon viel zu lange – so empfand zumindest er das – stand nun auch die nächste Beförderung aus. Doch, er wollte und würde Kriminalkommissar werden. Und dann sein eigener Chef sein, soweit das möglich war. Die Zeit als Mitarbeiter von Bernd Kellert lief aus. Gewiss, das war einerseits durchaus schade. Andererseits: Gut so! Er hatte genug gelernt.

Er parkte seinen Dienstwagen mitten im Villenviertel von Friedensberg. Geräumige, zwei- bis dreigeschossige Bauten erhoben sich hinter hohen Grundstücksmauern und inmitten weitläufiger Gartengrundstücke, die von mächtigen alten, noch blätterlosen Laubbäumen überwölbt wurden. Diese Gründerzeitvillen waren inzwischen über einhundert Jahre alt. Sie kosteten unendliche Gelder zur Unterhaltung und Heizung, das wusste Thiele. Auch jetzt, im März, musste man diese Häuser noch komplett heizen. Sonst würde es kühl und klamm. Kinder, die in solchen Villen wohnten, waren gerade in dieser Jahreszeit oft erkältet. So zumindest hatte es Verena aus ihrer Schulerfahrung berichtet.

Thiele mochte die hohen Räume in diesen Villen, auch die ausladenden Gärten mit den alten, majestätischen Bäumen. Hier wohnen wollte er jedoch kaum. Und würde es auch nicht. Dazu fehlten ihm die familiären Einbindungen in die Erbfolgen, die die Bewohner auszeichneten. Ganz abgesehen von den finanziellen Mitteln.

„Geißendörfner“ stand auf einem alten Messingschild rechts neben einem schon etwas verwitterten Tor in den brusthohen Umgrenzungsmauern aus dunkelrotem Ziegelstein. Ohne Vornamen, ohne Titel. Thiele klingelte, sofort öffnete sich das Tor. Er hatte sein Kommen angekündigt und wurde erwartet. Wortlos öffnete eine vielleicht siebzigjährige, unscheinbar gekleidete grauhaarige Frau die Haustür und führte ihn durch einen dämmrigen Flur in ein geräumiges Wohnzimmer. Gediegene Kirschholzmöbel, bis zur Decke reichende, maßgefertigte und bis zum letzten Platz gefüllte Bücherregale, eine Sitzgruppe auf hochflorigem Teppich. Trotz der zwei großen Fenster blieb es hier leicht dämmrig.

Eine ‚Dame‘ – das Wort fuhr Thiele zu seiner eigenen Überraschung durch den Kopf – erhob sich, zierlich, mit einem silbern glänzenden Kurzhaarschnitt, elegant gekleidet. „Thea Geißendörfner“, stellte sie sich unnötigerweise vor, reichte ihm die schmale, mit drei Ringen geschmückte rechte Hand mit kaum wahrnehmbarem Druck und wies auf einen Sessel ihr gegenüber: „Bitte sehr, setzen Sie sich doch.“ Die alte Frau, die ihn bis hierher begleitet hatte, zog sich zurück, ohne auch nur ein einziges Wort gesprochen zu haben.

Thiele versuchte, die Gesichtszüge seines Gegenübers zu erforschen, ohne dabei allzu aufdringlich zu wirken. Hinter dem rechten Ohr entdeckte er ein silbern aufblitzendes Hörgerät, fast unsichtbar, aber doch erkennbar. Ungewöhnlich bei einer Frau, die noch keine sechzig Jahre alt sein konnte. Müde wirkte die Hausherrin, ein eingefallenes Gesicht, erloschene Augen, das ja. Aber Spuren von Verzweiflung und tiefer Trauer konnte er nicht entdecken. Gefasst blickte die formvollendet gestylte Frau ihn an. Ein mattes Lächeln glitt über ihr Gesicht, denn natürlich bemerkte sie seinen Blick.

„Sie suchen die trauernde Witwe, nicht wahr?“, fragte sie mit klarer, fester, eher dunkler Stimme. „Und finden sie nicht. Und überlegen, warum das so ist. Habe ich Recht?“ Thiele rutschte auf seinem Sitz hin und her, wollte antworten, doch sie kam ihm zuvor: „Das ist schon in Ordnung, junger Mann. Äh, Herr Thiele.“ Sie erinnerte sich seines Namens, der ihr bei der Ankündigung seines Besuchs genannt wurde.

„Nun, die werden Sie nicht finden, die am Boden zerstörte Ehefrau“, fuhr sie fort. „Und ich bin es auch nicht. Jedenfalls nicht in dem Sinne, wie Sie es vielleicht vermutet haben. Und ich will Ihnen auch sagen, warum das so ist. Damit Sie von Anfang an klar sehen. Was soll man da groß darum herumreden?“ Sie hatte sich offenbar genau überlegt, was sie sagen wollte. Ihre Worte kamen ohne Stocken und Zögern.

„Wir sind“ – sie korrigierte sich – „wir waren vierunddreißig Jahre verheiratet, der Bertram und ich. Er war vierundzwanzig und ich dreiundzwanzig, als wir heirateten. Beide noch im Studium. Vierunddreißig Jahre! Da kennt man sich gut. In- und auswendig. Stärken und Schwächen. Da gibt es keine Geheimnisse, jedenfalls nicht viele.“

‚Was will sie mir sagen?‘, überlegte Thiele. ‚Sie will doch auf etwas hinaus!‘ Er musste nicht lange rätseln. „Sie werden es sowieso herausfinden, deswegen sage ich es jetzt lieber gleich“, fuhr Thea Geißendörfner fort. „Unsere Ehe war nicht mehr das, was sie früher einmal war. Ja, wir haben noch zusammengelebt. Und ja, wir haben uns auch noch einigermaßen gut verstanden. Aber eher wie alte Freunde. Wie Weggefährten, wenn Sie verstehen, was ich meine.“

Thiele war sich nicht ganz sicher, ob er das verstand, ihm blieb aber keine Zeit zum Nachdenken. „Sehen Sie“, Thea Geißendörfner blickte ihm fest in die Augen, „der Bertram hatte eine Geliebte. Das ist neun Jahre her. Da musste er sich irgendetwas beweisen, bevor er fünfzig wurde, oder was weiß ich. Er hatte eine Affäre. Mit einer Kollegin seiner Schule. Monika Höffgen. Den Namen werde ich nicht vergessen. Fünfzehn Jahre jünger als ich, wenig überraschend. Alles wenig spektakulär, so etwas hören Sie sicherlich ständig. Halt eine Affäre wie viele andere auch.“

Der Kriminalhauptmann, frisch verheiratet, wusste gar nicht, ob er das ‚ständig‘ zu hören bekam. Eigentlich nicht. Aber natürlich dachte er gar nicht daran, sein Gegenüber zu unterbrechen. Die Frau des Ermordeten redete sowieso zielbewusst weiter: „Ich versuche es Ihnen zu erklären: Ihm ging es dabei nicht um Sex. Zumindest nicht nur. Es brauchte einige Zeit, bis ich verstand, dass er diese Frau wirklich liebte. Wie weh das tut, wenn einem das klar wird, das lassen wir hier mal außen vor. Er wollte mit ihr, ja was: Noch einmal neu anfangen? Die Zeit aufhalten? Eine zweite Chance? Natürlich ohne mir wehtun zu wollen, das hat er immer beteuert. Als wäre das möglich!“

All das berichtete Thea Geißendörfner gefasst. Sie wirkte nicht verbittert. Eher abgeklärt. „Eine Zeit lang ging das so, mehrere Monate. Ich hier, er mal bei ihr, mal bei mir. Dann habe ich ihn vor die Entscheidung gestellt: entweder sie oder ich. Und seine Schule auch: An einem katholischen Gymnasium war eine Affäre zwischen dem damals noch stellvertretenden Direktor und einer Kollegin untragbar. Und Direktor wäre er sicherlich nicht geworden, wenn er mich verlassen hätte.“

Die Hausherrin verzog das gekonnt geschminkte Gesicht zu einer Grimasse, bei der die Falten sichtbar wurden. Kaum hörbar zog sie die Luft durch die Nase ein und ergänzte: „Denn natürlich ließ sich all das nicht völlig geheim halten. Obwohl nicht viele an seiner Schule davon wussten. Sagte er zumindest. Lilli natürlich, seine Trauzeugin. Also: Lilli Schildbach, damals auch schon Mitarbeiterin im Direktorat und später dann seine Stellvertreterin. Aber die hat natürlich nichts herumerzählt. Die gehörte ja praktisch zur Familie.“

Nach kurzem Innehalten fuhr sie fort: „Nun: Er hat sich dann entschieden – für mich. Oder die Schule. Oder beides? Seiner weiteren Schulkarriere stand anschließend jedenfalls nichts mehr im Weg. ‚Fehltritte‘ kann man verzeihen oder beichten, so ist das bei uns Katholiken. Monika Höffgen wurde versetzt. Und er war wieder bei mir.“ Sie überlegte. „Zumindest oberflächlich. Er hat ihr lange, lange nachgetrauert. Das merkt man als Ehefrau schon. Und das war für mich das Schlimmste: Wie tief das ging, wie sehr er wirklich an ihr hing. Oder an seinen Vorstellungen, die er mit ihr verband.“ Bevor Thiele nachfragen konnte, führte sie das Gespräch in Eigenregie weiter. „Wir? Wir haben uns arrangiert. Irgendwann habe ich all das akzeptiert. So war es und so ist es. Fertig.“

Sie seufzte einmal auf, atmete hörbar dreimal durch und blickte ihr Gegenüber an. „Ja, das trifft mich natürlich, dass Bertram nicht mehr lebt. Dass er ermordet wurde! Mein Leben wird sich ändern. Aber es zerreißt mir nicht das Herz. Das ist vor vielen Jahren zerrissen worden. Damit kann ich leben.“

‚Ob sie das wirklich so unberührt lässt?‘, überlegte Thiele, der sich in die ihm hier erzählte Geschichte nur bedingt einfühlen konnte. All das sprengte seine eigenen Erfahrungen. „Also keine Wut?“, fragte er nach, fast die ersten Worte seit seinem Eintreten. „Ach, Wut!?“, entgegnete sie. „Ja, doch: Auf das Leben! Aber nicht mehr auf ihn, das wollen Sie doch eigentlich fragen, oder? Keine ‚Mordswut‘, darauf wollen Sie ja hinaus, oder?“

Thiele fühlte sich durchschaut. Und falls Thea Geißendörfner nicht eine begnadete Schauspielerin war, nahm er ihr auch ab, was sie ihm erzählt hatte. „Haben Sie denn Kinder?“, fragte er nach. Sie lachte bitter. „Aber ja, hören Sie: Wir sind katholisch. Das hieß damals noch etwas. Als Katholikin meiner Generation hat man Kinder. Das gottgeschenkte Leben soll doch weitergehen.“ Sie lächelte mit einem nachdenklichen Zug um die Mundwinkel in sich hinein. „Vier haben wir. Alle natürlich längst aus dem Haus. Drei Buben, ein Mädchen. Und ein Enkelkind gibt es auch bereits, Lotta. Die ist jetzt auch schon fast drei.“

Thieles fragender Gesichtsausdruck ließ sie weiterreden. Wo es zuvor so geklungen hatte, als habe sie sich die Rede genau Wort für Wort zurechtgelegt, erzählte sie nun freier und offener. „Nein, keiner wohnt mehr hier in Friedensberg, falls Sie das interessiert. Für Bertram war klar, dass er hier leben wollte, hier, wo seine Familie seit drei Generationen ansässig ist. Aber für die heutige Jugend ist das anders. Mobilität ist das Zauberwort.“

 

Ihr Blick wanderte nach links, wo auf einem alten, aufgeklappten Sekretär mindestens fünfzehn Bilder erkennbar waren. Alle in Silberrahmen: Kinderfotos, Hochzeitsbilder, Einzelporträts. Thiele konnte nur einen oberflächlichen Überblick gewinnen. „Alle ausgeflogen“, kommentierte sie, und dieses Mal lag ein wirklicher Kummer in ihrer Stimme, gepaart mit Stolz. Seltsame Mischung. „In die große, weite Welt. Peter lebt in Florida, Christian in Leipzig – das ist der Vater von Lotta, wissen Sie? –, Bettina in der Nähe von Hamburg und Benedikt, unser Jüngster, der studiert Mathematik in München. Den zog es schon vor dem Abitur fort von hier.“

Sie drehte sich wieder ihrem Gesprächspartner zu: „Und ich?“, sinnierte sie. „Ich bin hier, in Friedensberg, seit meinem Studium. Hängengeblieben. So ist das nun mal.“ „Waren Sie denn auch berufstätig?“, fragte Thiele nach. Sie drehte den Kopf, so dass ihr gesundes linkes Ohr seine Frage aufnehmen konnte. ‚Vielleicht redet sie auch so viel von sich selbst, weil sie nicht mehr so gut hört‘, schoss es ihm durch den Kopf. Dieses Verhalten hatte er schon oft bei schwerhörigen Menschen beobachtet. Aber Thea Geißendörfner hatte ihn offensichtlich durchaus verstanden.

„Wie denn?“, gab sie müde zurück. „Mit vier Kindern? Ich habe Pharmazie studiert, aber noch vor dem Examen kam Peter, der Älteste. Trotzdem, das Studium habe ich dann auch noch mit Kind abgeschlossen. Das war mir wichtig. Aber als Pharmazeutin gearbeitet habe ich nie. Das bereue ich auch nicht. Für die Kinder da zu sein, das war mir wichtiger. Vielleicht das Schönste in meinem Leben. Von heute aus gesehen. Na ja, und als dann auch noch Benedikt, der Jüngste, aus dem Haus ging, habe ich mir schließlich doch etwas gesucht. Ich arbeite mit halber Stelle drüben in der ‚Lese-Ecke‘ – ein wirklich schöner Buchladen, kennen Sie den?“

Thiele schüttelte den Kopf. Er war kein großer Leser. Im Gegensatz zu Verena, seiner Frau, aber die war ja schließlich auch Deutschlehrerin, Deutsch und Katholische Religionslehre. „Wie haben denn Ihre Kinder damals auf die Affäre Ihres Mannes reagiert?“, fragte er nach und ertappte sich dabei, dass er mit etwas lauterer Stimme sprach, als es für ihn üblich war. Er wusste nur zu gut, dass die meisten Tötungsdelikte innerhalb einer Familie erfolgten. Danach würde Kellert ihn fragen.

„Ach Gott, ja“, antwortete Thea Geißendörfner mit wegwerfender Handbewegung. „Wie stecken Kinder so etwas weg? Peter und Christian waren ja damals schon im Studium. Und die beiden Kleinen – so nennen wir die, auch heute noch – am Ende ihrer Schulzeit. Die Großen haben auf Bertram eingeredet, wollten ihn zur Besinnung bringen. Peter hat ihn dann im Laufe der Zeit irgendwie verstanden, schien mir. Während Christian immer ganz auf meiner Seite war.“

Sie hing ihren Gedanken nach. Erinnerungen schienen durch ihr Hirn zu blitzen und hinterließen ein Flackern in ihrem Gesicht. Schließlich führte sie den aufgenommenen Gedanken zu Ende: „Wir haben das dann alle verdrängt. Mehr oder weniger erfolgreich. Sie hätten all das bei unseren Familientreffen nicht gemerkt, als Außenstehender, glauben Sie mir. Manchmal ist das ganz gut, etwas zu verdrängen.“

Wieder lachte sie bitter auf: „Früher dachte ich immer, dass man über alles reden kann, wirklich über alles. Dass man mit Offenheit und der Bereitschaft zur Vergebung auch noch so schwierige Situationen bewältigen kann. Heute weiß ich es besser: Man kann nicht alles im Gespräch klären. Gerade das wirklich Wichtige nicht. Oft hilft es nur, die Zähne zusammenzubeißen und zu schweigen. Vielleicht ist das übrigens das beste Erfolgsrezept für eine gute Ehe: schweigen zu können.“

Sie verfiel wieder ihren Gedanken. Thiele hatte ihr verwundert zugehört. Auf jeden Fall ließ er ihr Zeit. Er spürte, dass sie noch etwas loswerden wollte. Und richtig: „Doch, wir haben funktioniert, Bertram und ich. Die Geißendörfners. Das geht. Und, falls Sie das vorhin wissen wollten: Nein, mein Mann hatte keinen Streit mit unseren Kindern. Bettina hielt sowieso immer zu ihm. Vater-Tochter-Beziehung, Sie wissen schon. Da bleibt man als Mutter manchmal außen vor; egal, was passiert.“

Sie lächelte müde: „Nein, Herr Kommissar“ – ‚Schön wär’s‘, dachte Thiele –, „ein Motiv für einen Mord werden Sie in unserer Familie nicht finden. Wahrlich auch keine heile Welt.“ Sie lachte verbittert vor sich hin. „Nur Normalität. So sieht die nämlich aus. Genau so.“

Für Thea Geißendörfner schien das Gespräch damit beendet, aber Thiele, der bislang ja vor allem als Zuhörer fungiert hatte, stellte noch eine letzte Frage: „Haben Sie denn einen Verdacht, wer Ihren Mann ermordet haben könnte? Hatte er Feinde? Gab es irgendwelche Streitigkeiten?“

Sie überlegte einen Moment lang, schüttelte dann den Kopf. „Nicht dass ich wüsste. Natürlich gab es immer auch Probleme an der Schule, mit Kindern, mit Eltern – vor allem mit denen! Auch mit Kollegen. Das hat er immer wieder loswerden müssen. Er hat viel von seiner Arbeit erzählt. Ich wollte das auch wissen, denn so konnte ich ihm nah sein. Nah bleiben. Und ich habe ihm manchmal Ratschläge gegeben, wie er sich verhalten soll. Ganz gute, glaube ich. Aber etwas Besonderes war nicht dabei. Nichts, an das ich mich erinnern könnte. Nichts, weswegen man einen Menschen umbringen könnte. Das bleibt für mich ein völliges Rätsel.“

Sie endete. Das Entscheidende war gesagt. Beide verloren das Interesse an einer Fortführung des Gesprächs. Aber sie tauschten noch einige Belanglosigkeiten aus, mit denen man eine solche Begegnung eben zu Ende führte. Die alte Frau, die ihn hineinbegleitet hatte, führte Dominik Thiele schließlich auch wieder hinaus. Eine Freundin, die ihr beistehe, so hatte Frau Geißendörfner sie in einer Nebenbemerkung vorgestellt. Ein Name wurde nicht genannt. Und bis zuletzt beschränkte diese Freundin sich auf Gesten und Mimik. Sie sprach kein Wort.

6.

Bernd Kellert und Hannah Mellrich waren immer noch im Karl-Rahner-Gymnasium. Der Kommissar hatte erstaunlich lange mit der Chefsekretärin geplaudert. ‚Fast schon geflirtet‘, hatte Hannah Mellrich gedacht, die wie ein drittes Rad am Roller unbeteiligt danebengestanden hatte. Als sie nun das vom Pausenlärm gefüllte Schulgebäude gerade verlassen wollten, kam ein gehetzt wirkender Mann auf sie zu, gefolgt von zwei Frauen. „Herr Kommissar! Warten Sie! So warten Sie doch! Ich muss mit Ihnen reden!“, rief er.

Kellert musterte den Mann, der ihn mit nikotinfleckigen Fingern am linken Jackenärmel festhielt. Derartige Übergriffe hasste er. Mit einem leichten Ruck riss er sich daher unwirsch los. Er straffte sich und wirkte noch einmal deutlich größer, als es seine eins einundachtzig hergaben. Der deutlich kleinere Mann vor ihm war Ende fünfzig, vielleicht Anfang sechzig, so schätzte er. Die beige Cordhose hatte schon bessere Tage gesehen, auch das rotweiß karierte Hemd und die blaue Weste waren zwar nicht schmutzig, wirkten aber abgetragen. Die fahlblonden, an einigen Stellen fast zur Farblosigkeit verblichenen Haare standen in wilder Unordnung um seinen halbkahlen Schädel, auch der Bart wirkte struppig und wenig gepflegt. Nur die silbern eingefasste Brille blitzte neu und exklusiv.

„Ach, Entschuldigung. Entschuldigen Sie bitte“, brach es aus dem Mann heraus. Er spürte, dass er mit dem Körperkontakt eine Grenze überschritten hatte, trat einen halben Schritt zurück, beugte sich leicht vor und stotterte: „Ich … ich bin Torsten Bedlinger. Ich unterrichte hier Mathe und Chemie.“ ‚Ach, der Bedlinger!‘, ging es Kellert durch den Kopf. ‚Das passt.‘ Natürlich ließ er sich nicht anmerken, dass dieser Name bei ihm einige Assoziationen hervorrief. Zum Beispiel die unvergessenen Klagelieder seiner Nichte über einen absolut unfähigen Mathe-Lehrer …

„Ich muss Sie sprechen, weil mir doch das Auto gehört, mit dem der Chef überfahren wurde. Damit Sie nicht auf falsche Gedanken kommen.“ ‚Gut, da kommst du mir zuvor, Freundchen. Mit dir hätte ich auch noch geredet. Also: Warum nicht jetzt?‘, dachte Kellert. „Ja?“, antwortete er unverbindlich und offen. ‚Lass ihn reden‘, überlegte er. ‚Wer weiß, was er zu sagen hat?‘

„Wissen Sie, ich wohne doch hier gleich um die Ecke. Vor fünf Jahren bin ich in die Friedrich-Spee-Gasse gezogen, keine dreihundert Meter von hier. Da wurde eine schöne Etagenwohnung frei, perfekt für mich. Ruhiger Altbau, genau wie ich.“ Er grinste schief, redete aber gleich weiter. „Und seitdem brauche ich eigentlich kein Auto mehr. Wenn ich irgendwo hinmuss, nehme ich Bus oder Bahn. Das ist viel praktischer. Billiger. Und schont die Umwelt.“

Kellert sah ihn fragend an, während Hannah Mellrich neugierig die beiden im Hintergrund bleibenden Begleiterinnen des Lehrers betrachtete, der ungerührt weitersprach: „Ich hatte eben diesen alten Toyota. Toi, toi, toi, zweihundertachtzigtausend Kilometer. Und fährt noch gut. Erst wollte ich ihn abmelden, damals. Aber dann meinten einige Kolleginnen, es wäre doch toll, ein Auto an der Schule zu haben. Für alle Fälle. Wenn man gerade einmal eines braucht. Und seitdem steht es auf dem Schulparkplatz.“

Er wies in die Richtung des zweistöckig angelegten Parkhauses. „Immer derselbe Stellplatz, oben, zweite Reihe, vorne links. Da stellt sich kein anderer hin, wenn es mal unterwegs ist. Der ist reserviert, sozusagen. Auch ohne Plakette und Verbotsschild. Und alle wissen, wo der Schlüssel hängt. Oben, im Lehrerzimmer, am ‚schwarzen Brett‘. Wer die Kiste braucht, nimmt sie sich halt. Ohne Fahrtenbuch oder Voranmeldung. Ganz einfach so. Jeder bezahlt dann mal eine Tankfüllung. Und bei den Steuern und der Versicherung beteiligen sich die, die das Auto benutzen. Zugegeben: Den ein oder anderen muss ich schon mal daran erinnern. Aber: Das klappt. Völlig problemlos. Alle finden es gut!“

„Und Sie selbst? Nutzen Sie es manchmal auch?“, mischte sich Hannah Mellrich ins Gespräch. Die Rolle als Zuhörerin schien ihr auf Dauer nicht zu genügen. Kellert ließ sie gewähren. „Klar, manchmal schon!“, gab Torsten Bedlinger zurück. „Aber nicht mehr oder weniger als andere auch.“ „Und gestern?“, unterbrach dieses Mal der Kommissar.

„Da war ich doch nachmittags gar nicht an der Schule. Abends erst recht nicht. Da war ich zu Hause. Hab Elfer-Klausuren korrigiert. Scheißarbeit“, kommentierte er.

„Wofür es keine Zeugen gibt, nehme ich an“, warf Kellert ein. „Richtig“, bestätigte sein Gegenüber. „Ich lebe allein“, wieder ließ er sein eigentümliches Grinsen sehen, entblößte dabei eine Reihe von gelblichen und zum Teil schiefen Zähnen und fügte mit spöttischem Blick auf die junge Polizistin hinzu: „Meistens zumindest.“

„Dann werden Sie auch nicht beim Kollegensport gewesen sein?“, führte Hannah Mellrich den Gedanken weiter, ohne auf seine unterschwellige Anzüglichkeit einzugehen. Bedlinger lachte auf, dieses Mal echt amüsiert. „Kollegensport? Sehe ich so aus? Nee, das ist nichts für mich. Da war ich gefühlte dreißig Jahre nicht mehr. Die wollen mich da auch nicht. Beruht auf Gegenseitigkeit.“

Er blickte über seine Schulter zu den beiden Frauen, beide um die vierzig, halblange braune Haare, wenig auffällig. Leicht verwechselbar. Eine mit Brille. Bedlinger grinste breit: „Aber ich dachte mir schon, dass Sie danach fragen. Deswegen habe ich die beiden Kolleginnen mitgebracht. Darf ich vorstellen: Mechtild Rassau und Petra Hömmer-Klein. Die waren gestern beide mit dabei. Also: beim Volleyball.“

Die Befragung der beiden Lehrerinnen ergab tatsächlich keine neuen Erkenntnisse. Elf Kollegen und Kolleginnen waren von sieben bis neun beim Volleyball gewesen, keiner war früher gegangen. Die konnten es alle nicht gewesen sein. ‚Immerhin!‘, dachte Kellert.“ Da können wir schon einmal einige ausschließen.‘ Etwas Außergewöhnliches bemerkt hatten sie nicht. Auch niemanden beobachtet, der sich im Lehrerzimmer oder am Parkplatz herumgetrieben hätte. Es blieb dabei: Alle möglichen Personen konnten den Autoschlüssel genommen und das Auto benutzt haben, sei es aus dem schulischen Umfeld, sei es von außen.

‚Torstens Toyota‘ war offensichtlich in Friedensberg ein geflügeltes Wort. Dass und wie der zu benutzen war, wussten viele. Und wann der Schlüssel das letzte Mal an seinem üblichen Haken gehangen hatte, ließ sich zwar zeitlich eingrenzen, aber auch nicht genau bestimmen. „Ich habe herumgefragt: Wahrscheinlich hat Kollege Lange – Spanisch/Französisch/Ethik – den Wagen als Letzter benutzt, und zwar vorgestern Nachmittag“, fügte Torsten Bedlinger beflissen an. „Wenn ich mehr herausbekomme, melde ich mich sofort bei Ihnen, Herr Kommissar. Denn ich: Ich habe den Chef nun wirklich nicht überfahren … und unterstütze natürlich die Aufklärungsarbeiten, so gut ich kann. Schließlich ist die Polizei mein Freund und Helfer.“ ‚Schön‘, dachte Kellert, ‚tu das. Nur deine gespielte Unterwürfigkeit und dein süffisantes Grinsen kannst du dir gern sparen.‘