Die Rhetorik-Matrix

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Wir werden solche Bias-Manipulationen im Folgenden noch häufig ansprechen, weil sie eben rhetorisch enorm wichtig sind.

Das unbewusste System 1 und das bewusste System 2 haben eine Schwäche: Sie können nicht allzu viel von dem Gehörten merken und so abspeichern, dass die Erinnerung daran nachhaltig bestehen bleibt. Diese Erkenntnis erlebt jeder von uns, wenn er ein Gedicht auswendig lernen soll. Die Konsequenz für eine Rede ist offensichtlich: Beide Systeme des Zuhörers übernehmen geradezu dankbar plausible, klare und leicht memorierbare Botschaften für ihren Denkprozess. Dies ist der eigentliche Kern für die allgemeine Weisheit der praktischen Rhetorik: Konzentrieren Sie sich auf drei bis maximal fünf Aussagen, die man für wichtig hält – mehr kann man nicht im Kopf behalten. Diese „Merkweisheit“ gilt übrigens für beide – den Zuhörer und den Redner!

Dabei sollten Sie als Redner sorgfältig vorbereiten, wie Sie Ihre Merksätze im Kopf des Zuhörers verankern: Nur wenn das Aufgenommene in einer „merkfähigen“ Übereinstimmung zum assoziativen Denk- und Verarbeitungssystem des Zuhörers steht, ist der „Merkerfolg“ sicher. Dies kann übrigens auch so passieren, dass die Rede genau das Gegenteil von dem trifft, was ein Zuhörer über ein Thema annimmt; dass also etwas Dargestelltes derart weit weg vom Gewussten liegt, dass es geradezu eine komische Note annimmt – und dann gerade deswegen einprägsam wird.

Ein Beispiel ist die – zumindest für jeden erwachsenen Bayern und Deutschen – berühmte Rede des früheren bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber zur Vision des Transrapid in München: „In 10 Minuten vom Hauptbahnhof zum Flughafen“. Diese Rede bedient die dargelegte These der leichteren Merkbarkeit doppelt: Edmund Stoiber formuliert darin wiederholt die für einen Zuhörer schier unmögliche Vorstellung: „Sie checken am Hauptbahnhof München ein und sind in 10 Minuten am Flughafen“; sie kann durch diese Wiederholung leichter im Gedächtnis verankert werden. Und sie ist dank Stoibers rhetorischer Performance des hilflosen Faselns von einer derartigen selbstsatirischen Absurdität, dass daraus ein unvergesslicher Witz wird.

Viele der rhetorischen Stilformeln beruhen in ihrer Wirksamkeit auf dieser Regel: Sie sind in ihrer Prägnanz leicht merkbar und können buchstäblich bildlich gesehen werden – wir werden dies noch eingehend analysieren.

Zusammenfassung

Wie wir gesehen haben, gibt es viele neurolinguale Einzelelemente, die ein geschickter Redner als Instrumentenkasten für seine erfolgreiche Rede verwenden kann. Die Basis ist das rhetorische Wissen; ihm muss die rhetorische Übung und sorgfältige Vorbereitung des eigenen rednerischen Auftrittes folgen. Nicht umsonst heißt es seit Jahrtausenden: „poeta nascitur, orator fit“: Zum Dichter wird man geboren, zum Redner hingegen kann man geschult werden. Die Übung des wirkungsvollen Auftritts, der richtigen Körpersprache und einer „gefälligen“ Argumentation entfaltet in Verbindung mit modernen Erkenntnissen der NLI ihre Wirkung. Dies wollen wir nun bei einer Fülle von Einzelpunkten als Teilelementen der Rhetorik-Matrix im Folgenden bearbeiten.

Vorbereitung
IV. Die richtige Strategie für eine Rede = die richtige Vorbereitung einer Rede

„Kein Wind ist demjenigen günstig, der nicht weiß, wohin er segeln will.“

(Michel de Montaigne, 1533–1592)

Wahrscheinlich ist es Ihnen auch schon passiert: Sie wussten, dass Sie eine Rede oder einen Vortrag (z.B. 25 Minuten lang) halten mussten – aber zwischen Ihnen und der Rede lag ein furchterregendes Tier: der innere Schweinehund. Immer wenn Sie an die Rede dachten, hielt dieses Tier Sie von einer Ausarbeitung ab – bis endlich 48 Stunden vor dem Termin der Panikmodus Sie endlich dazu brachte, dieses Vieh zu vertreiben. Schnell zimmerten Sie eine Gliederung und machten sich an drei bis fünf Gedanken, Sie vergaßen ein Zitat nicht und schrieben zwei Seiten mit Ihren Ideen handschriftlich voll. Mit gemischten Gefühlen gingen Sie in die Veranstaltung – „es wird schon gut gehen“ –, nach ein paar Versprechern und nervösem Haspeln ging es dann halbwegs passabel weiter und am Schluss erhielten Sie einen freundlichen Applaus (der vielleicht ein wenig länger hätte ausfallen können). Und auf die drängende Frage „Wie war ich?“ (sie ist als Kalauer bei Männern und Rednern zentral) folgt das nett gemeinte „war o.k.“ Ihrer Kollegen oder Kommilitonen, was im ganzen Satz ungefähr bedeutet: „Dein Vortrag war so durchschnittlich wie der Beitrag einer langweiligen Tagesschau“. Es bleibt eine kurze Erleichterung und das fade Gefühl: Bei diesem Auftritt wäre mehr drin gewesen. Und trotz dieser Erfahrung geht das gleiche Spiel beim nächsten Vortrag wahrscheinlich wieder von vorne los.

Dabei haben Sie, wenn Sie nicht gerade Berufspolitiker sind oder Zentralvorstand eines großen Unternehmens, die Gelegenheit zu einer mittelgroßen Rede (ab 20 Minuten) maximal einmal pro Monat – wenn überhaupt so oft. Auch für Studierende gilt für Seminararbeiten und Präsentationen das Gleiche. Maximal einmal pro Monat haben Sie die Chance, sich einer größeren Zahl von Zuhörern zu präsentieren und einen positiven Eindruck zu hinterlassen. Der potenzielle Effekt einer maximal mittelmäßigen Rede hingegen: Ihre Rede war nach einem Tag vergessen. Wieviele Reden sind Ihnen zumindest als Eindruck eigentlich heute noch in Ihrer Erinnerung positiv präsent? Welche davon war besonders bzw. an welchen Redner erinnerten Sie sich noch länger und woran lag das? Sicherlich nicht daran, dass der Vortrag solides Mittelmaß war.

Vor einer Rede sollten Sie daher nicht auf Ihre Intuition vertrauen oder Ihre Fähigkeit zum spontanen Glanzauftritt. Die Erkenntnisse der NLI sind eindeutig: Der Erfolg einer gelungenen Rede hängt davon ab, das unbewusste „kollektive System 1“ der Zuhörer anzusprechen und gerade damit Ihre wesentlichen Redebotschaften im Bewusstsein der Zuhörer zu verankern. Das bedeutet aber: viel Arbeit in die Vorbereitung stecken – und es zahlt sich mehrfach aus! Wieso? Das erkläre ich Ihnen gerne, wenn Sie die nachfolgenden 4 Schritte gelesen und verstanden haben:

1. Vier Schritte für die Vorbereitung einer Rede

Schritt 1: Der richtige Auftrag

Ihrer Rede geht immer ein Auftrag voraus, den Sie von Ihrem Professor, Ihrem Vorgesetzten, Ihrem Publikum und am besten von sich selbst erhalten.

Er lautet nicht: Halten Sie eine Rede.

Er lautet: Halten Sie eine gute Rede.

Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Eine Rede ist nur dann gut, wenn sie beim richtigen Publikum gut ankommt und das erwünschte Feedback auslöst. Und eine gute Rede ist niemals Mittelmaß.

Was bedeutet das – eine gute Rede? Man müsste meinen, dass ein Arbeitsplatz, an dem es per definitionem nur Berufsredner geben darf, die beste Messlatte dafür ist, was gutes Reden ausmacht. Dieser Platz heißt Parlament – also „der Ort der Redner“ (von lateinisch „parlare“ = es ausreden, bereden). Wer aber je auf einer Besuchertribüne des Bundestages oder eines Landesparlamentes saß (und ich mache mir manchmal die Mühe, mit meinen Studierenden genau das zu tun), der wird erschüttert festgestellt haben: Geboten wird durchweg rhetorischer Durchschnittsfraß – der letztlich auch erklärt, warum kein Parlament der Welt es wagt, für so etwas Eintrittsgeld zu verlangen.

Werden wir deutlich: Dieser rhetorische Durchschnittsfraß begegnet uns überall; ja selbst dann, wenn ein Vorstandsvorsitzender eines DAX-Unternehmens von der Aktionärsversammlung einen Vertrag verlängert haben will, der ihm Millionen pro Jahr einbringt, oder ein Bundesminister im Parlament eine Rede hält, die zumindest in Ausschnitten Millionen Menschen abends in den Nachrichten sehen. Angesichts dieses rhetorischen Umfelds ist die Aufgabe eines guten Redners gar nicht einmal so schwer:

Seien Sie in mindestens 10 Einzelelementen Ihrer Rede besser als der durchschnittliche Redner – und man wird Sie als guten Redner einstufen. Oder auch realistischer: Begehen Sie in Ihrer Rede nur 5 Fehler weniger als der durchschnittliche Redner und setzen Sie 5 gute rhetorische Einzelelemente drauf!

Dieser Weg beginnt aber mit einem wichtigen ersten Schritt, den viele erfahrungsgemäß am Anfang nicht aussprechen – und damit auch konsequent einen Fehlschlag in Kauf nehmen. In diesem ersten Schritt geben Sie sich als Redner vor der Rede einen besonderen Auftrag (den mindestens 98 von 100 Abgeordneten im Bundestag vor ihrer Rede sich so eben nicht gegeben haben und daher mangels Reflexion diesen Auftrag auch nicht erfüllen können):

Sie wollen eine gute Rede halten.

Schritt 2: Die Zielgruppe und ihre Erwartungshaltung

Sie analysieren die Zielgruppe Ihrer Rede. Ob Gelegenheitsrede, Sachvortrag oder Überzeugungsrede: Die Zuhörergruppe hat in der Regel eine spezifische Zusammensetzung und eine gezielte Erwartung. Wir unterscheiden dabei im Wesentlichen 4 Zielgruppen, die sich jeweils durch ganz spezifische Eigenschaften auszeichnen, auf die der Redner unbedingt eingehen muss:

1 Privat: Der engere Familienkreis und der Freundeskreis, in dem Sie auch sehr Persönliches geschützt weitergeben können.

2 Gesellschaftsleben: Vereine, Gesellschaften, Versammlungen anlässlich bestimmter Jubiläen oder Gedenken, aber auch zufällige Gruppen wie etwa bei Sportveranstaltungen; hinzu kommen religiöse Veranstaltungen und Feiern. Das Gesellschaftsleben ist eine Fundgrube für Reden aller Arten! Neben Gelegenheitsreden kann da auch schon mal ein Sachvortrag angesagt sein, aber auch Bewerbungsreden für einen Vereinsposten kommen vor. Gute Reden sind selten, gute Redner sind daher hoch im Kurs. Aber bedenken Sie eines: Gerade hier können Sie auf keinen Fall mit dem Schutz der Vertraulichkeit des Wortes rechnen; im Gegenteil: die moderne Medienkultur bringt es mit sich, dass Sie Ihre Rede (gerade dann, wenn es garantiert nicht sein muss …) sofort auf Youtube und anderen sozialen Medien wiederfinden.

 

3 Beruf und Wissenschaft – und zwar über alle Fakultäten hinweg, von den Geisteswissenschaften über die Sozialwissenschaften bis hin zu Wirtschaft, Recht und Technik. Denken Sie auch hier an die enorme Vielfalt von Gruppen, die von Ihnen erfolgreiche Reden erwartet: Arbeitsgruppe, Abteilungsmeeting, Instituts- oder Fakultätsrat, Projektgruppen, Selbsthilfegruppen, Zeugniskonferenzen, Sitzungen der Geschäftsleitung, Sitzungen der Anteilseigner oder Trägergruppen der Unternehmen. Möglicherweise ist auch einmal Ihre Rede oder Ihr Beitrag bei Podiumsdiskussionen, Debatten oder Verhandlungen gefragt, oder Sie wurden gebeten, Ihre Hochschule bei einem Informationstag potenziellen neuen Studenten vorzustellen. Gute Redner haben die Chance, unmittelbar von Entscheidungsträgern wahrgenommen zu werden, was erfahrungsgemäß positiv für Fortkommen und Einkommen sein kann.

4 Politik: Denken Sie hier auf keinen Fall nur an den Bundes- oder Landtag; vergessen Sie nicht, dass diese „Krönungstempel der politischen Rede“ in der Regel nur über die sonderbare und mühselige Ochsentour erreicht werden können, die Kommunalpolitik heißt: Hier, vor Ort, werden mehr als 98 Prozent der politischen Reden gehalten! Politische Ortsvereine, Kreisverbände, Gemeinderat, kommunale Beiräte und Kreisausschüsse – nur wer hier an der Basis die „rhetorische Lufthoheit“ erringen kann, der kann auf ein Landtags- oder Bundestagsmandat hoffen. Es sind klassische Gelegenheiten, bei denen der Rhetorik-Kandidat seine Sporen verdienen muss – oder eben einsehen muss, dass das wohl nichts wird. Denn wer noch schlechter redet als Mittelmaß, wird sehr wahrscheinlich irgendwann auf der Strecke bleiben.

Die Charakterisierung der Zielgruppe ist eine eher leichte Übung – ob Freundeskreis, Fachkollegen oder politisches Plenum, die spezifische Zusammensetzung dieser Gruppen und ihre Anforderungen an den Redner erklären sich fast von selbst. Damit stecken Sie aber auch einiges ab, was den kollektiven Assoziationscode und die Sprechoptionen betrifft, die Sie bedienen sollen. Hier zeigt sich die soziale und auch neurolinguale Varianz und Sprachkompetenz des Redners am besten. Je mehr er auf die spezifischen Besonderheiten der Zuhörerschaft eingehen, sie verstehen, aufnehmen und in seiner Rede berücksichtigen kann, umso mehr wird der Redner im wahrsten Sinn des Wortes „verstanden“. Die damit zusammenhängenden Fragen hat ein Teilbereich der Psychologie, die Kommunikationspsychologie, eingehend untersucht (vgl. dazu wegweisend: Schulz von Thun u.a., Miteinander reden: Kommunikationspsychologie für Führungskräfte).

Ein Beispiel ist die Verwendung von ironischen Formulierungen oder Witzen: Was der eine Hörerkreis geradezu erwartet – und auch belohnt –, das können andere Hörergruppen im wahrsten Sinn des Wortes überhaupt nicht lustig finden. Wird der Witz in der ersten Gruppe als Demonstration der Authentizität des Redners gewertet, so wäre er in der zweiten Gruppe eine Demonstration mangelnder Diplomatie oder Genderbewusstseins (vgl. dazu Schulz von Thun u.a., Miteinander reden: Kommunikationspsychologie für Führungskräfte, S. 53ff.).

Sehen Sie es mir nach – aber der an sich überholte Herrenwitz ist ein nach wie vor taugliches Beispiel. Es gibt immer noch Kreise, in denen diese Humorform in Reden außerordentlich goutiert wird – und dann muss und wird der Redner das auch bedienen. Schließlich will er häufig das zentrale Anliegen erreichen, von den Hörern als „einer von uns“ akzeptiert zu werden. Was an der einen Stelle für wohlwollendes Gelächter sorgt, kann für ein anderes Publikum ganz schnell ein No-Go sein. Ich will hier die Frage der Political Correctness bewusst nicht weiter bedienen – der derzeitige wütende Disput zwischen Verfechtern und Gegnern dieser Disziplin ist ja nicht nur in den USA zu beobachten. Entscheidend für die Rhetorik ist der linguale – ja, auch neurolinguale Brückenschlag zum Publikum. Wenn das Publikum auch im unbewussten System 1 emotional fühlt, dass der Redner wie „einer von uns“ ist, denkt, spricht, versteht, dann ist das unmittelbare Anliegen der Rede erreicht – übrigens auch im Sinn eines Werte- und Entwicklungsrasters der Führungs- und Kommunikationspsychologie: Der Redner hat in diesem Fall den Balanceakt zwischen Authentizität und Wirkungsbewusstsein erfolgreich absolviert (vgl. Schulz von Thun u.a., Miteinander reden: Kommunikationspsychologie für Führungskräfte, S. 53f.).

Neben der Analyse der Zielgruppe spielen ihre spezifischen Erwartungen eine zentrale Rolle und sind deswegen sorgfältig zu analysieren. Das ist häufig nicht allzu schwer – aber unterschätzen Sie es nicht, hier „den richtigen Erwartungston“ zu finden. Bei der Gelegenheitsrede zum Beispiel steht im Vordergrund der Erwartungshaltung des Publikums die emotionale Verstärkung einer gemeinsamen Gefühlshaltung zu einem bestimmten Anlass. Ob Trauerrede, Dankesrede, Jubiläumsrede: Die Zuhörer werden in ihrer überwiegenden Mehrheit eine bestimmte „kollektive emotionale Einfärbung“ besitzen, die der Redner vorfindet und von der aus eine emotionale Verstärkung und Bestätigung aufgebaut werden muss.

Ein Beispiel aus meiner eigenen Redepraxis: Als Rektor stand ich einmal vor der äußerst heiklen Aufgabe, für einen (auch von mir) hochgeschätzten Professoren-Kollegen die Trauerrede zu halten. Dieser Kollege war am Ende seiner Laufbahn an einer massiven Depressionsphase schwer erkrankt und nahm sich das Leben, eine Woche nachdem seine Mutter hochbetagt gestorben war. Beide wurden gemeinsam beerdigt. Die Erwartung der Trauergemeinde, die sich aus Familienangehörigen, Kollegen, ehemaligen Schülern und Vereinskameraden zusammensetzte, war nach den Gesprächen, die ich führte, vielschichtig: Zum einen sollten unbedingt der hochanständige Charakter des Kollegen, seine beruflichen Verdienste und sein allgemein geschätztes freundliches und hilfsbereites Wesen herausgehoben werden. Aber man wollte auch die Dimension des Suizides, den tiefen Schock für alle, dieses geradezu Konterkarieren eines erfolgreichen Lebens unbedingt angesprochen wissen. Trauer, Trost und die Botschaft: Es hätte doch nicht sein müssen, wir alle hätten dir doch so sehr einen erfüllten Ruhestand gewünscht – wollte ich professionell in dieser nicht einfachen Situation handeln, so musste das alles angesprochen werden, ob ich wollte oder nicht. So schrieb ich in einigen Stunden die Rede, Wort für Wort, suchte passende Zitate und Metaphern – und ich wusste, dass ich die Rede auch tatsächlich vom Manuskript wörtlich vorlesen musste, sollten mich nicht selbst die Gefühle übermannen und ich stockend als Redner versagen. Am Schluss der Feier durfte ich an den dankbaren Kommentaren feststellen, dass die Rede gelungen war – auch wenn sie zu einer von denen zählte, die ich lieber nie gehalten hätte.

Schritt 3: Das Ziel

Als Nächstes definieren Sie das Ziel Ihrer Rede und die dafür erforderlichen Kernbotschaften. Hier zählt das nüchterne Abschätzen: Was will ich wirklich und wie sollen die Hörer sich das merken. Einiges dazu lässt sich schon aus der vorgehenden Analyse von Publikum und Erwartungshaltung gewinnen. Wirkliche rhetorische „Wirkungstreffer“ werden aber erst dann gesetzt, wenn die Erwartungshaltung des Publikums schlichtweg übertroffen werden kann. Oder wenn es gelingt, darüber hinaus in Inhalt und Zielsetzung die Überraschungsmomente zu setzen oder die Botschaften zu formulieren, die das Publikum fesseln bzw. für die Rede positiv einnehmen. Hier ist auch Platz dafür, das gesamte inhaltliche Repertoire an Argumentation, Metaphern und rhetorischen Hilfsmitteln zu durchforsten mit dem Ziel: Was kann die Wirkung meiner Kernbotschaften verstärken? Und das ist eine gezielte Vorbereitung doch allemal wert!

Ein Beispiel dafür, wie es schlecht funktioniert, ist – einmal wieder – den Wahlkämpfen für die US-Präsidentschaftswahl entnommen: Im ersten Wahlkampf von Barack Obama im Jahr 2008 war die Gouverneurin von Alaska, Sarah Palin, die Kandidatin des republikanischen Widersachers John McCain für das Amt des Vizepräsidenten. Als junge, 44-jährige Frau schien sie mit einer stramm konservativen Ausrichtung eine geradezu ideale Ergänzung des politischen Teams der Republikaner für den Wahlkampf. Ihr unkonventioneller Stil (viele Kommentatoren benutzten dazu vornehm den Begriff „loses Mundwerk“) und ihr telegenes Auftreten waren dabei wichtige Pluspunkte. Seriösen Quellen zufolge betrug das Budget für Kleidung, Schminke und Frisur im Wahlkampf unglaubliche 150000 US-Dollar (vgl. Meier, „Palins neue Kleider“, Stern vom 23.8.2008; SZ vom 16./17.4.2016). So weit, so rhetorisch gut!

In TV-Interviews und im TV-Duell mit Obamas Vizekandidaten Joe Biden unterliefen Sarah Palin jedoch wiederholt falsche Aussagen zu Kernbotschaften des Wahlkampfes. So hielt sie Afrika für ein Land – keinen Kontinent; sie konnte nicht die (drei!) Mitgliedsländer der nordamerikanischen Freihandelszone (NAFTA) nennen und antwortete ernsthaft auf die Frage, was sie über Russland wisse, dass man das Land an klaren Tagen von Alaska aus sehen könne. Ihre rhetorischen und inhaltlichen Fehltritte häuften sich. In kürzester Zeit geriet sie aufgrund mangelnder inhaltlicher Vorbereitung zu einem Wahlkampfrisiko für John McCain – der die Wahl gegen Barack Obama dann auch deutlich verlor. Zu guter oder vielmehr schlechter Letzt war sie gern genutzte Zielscheibe von Comedians und Satirikern in den amerikanischen Medien.

Dieses Beispiel spektakulären Scheiterns zeigt eindrucksvoll: Auch wer rhetorisch und persönlich seine Kernbotschaften geradezu ideal verkörpert, kann dies in kürzester Zeit dann ruinieren, wenn die inhaltlichen und argumentativen Äußerungen dazu mangels Vorbereitung und Kenntnis dilettantisch sind und so auch beim Publikum ankommen.

Schritt 4: Inhaltliche Präzision und Prägnanz

Um Ihre Redezeit optimal zu nutzen und Ihre Zielgruppe ohne Umwege zu erreichen, präzisieren Sie bereits vorab die Inhalte Ihrer Rede und verleihen ihnen gezielt Prägnanz mithilfe der geeigneten rhetorischen Mittel. Durch das Wissen um Redezeit, die inhaltliche und argumentative Organisation und die Auswahl der rhetorischen Instrumente gelingen Ihnen wichtige Schritte schon in der Vorbereitung, um die Ziele zu erreichen:

1 Sie vergeuden keine Zeit, weder in der Vorbereitung noch während der Rede.

2 Sie setzen die Eckpunkte für die wichtigsten drei Phasen der Rede: Anfang, Schluss und das, was Sie selbstverständlich an Wichtigem dazwischen unbedingt bringen wollen.

3 Sie erarbeiten gezielt Bilder, Anker und Priming-Begriffe für das assoziative (unbewusste) System 1 und damit für den neurolingualen Kontext der Zuhörer wichtige Überzeugungsschritte, so dass mindestens die Mehrheit dies kollektiv positiv aufnimmt und so auch kollektiv bestärkt.

4 Sie fokussieren sich auf die individualisierten sprachlichen Mittel und Instrumente, die Ihre Zuhörer verstehen und als für sich angemessen empfinden.

Ein gutes Beispiel:

Die geglückte Rede eines Gruppenführers der Feuerwehr zum 40-jährigen Dienstjubiläum des Feuerwehrkommandanten sollte

 keinerlei Fremdwörter enthalten (die Feuerwehrleute untereinander wohl kaum verwenden), wohl aber Begriffe aus der „Gruppenfachsprache“ einsetzen („Wasser marsch“, „C-Rohr“ o.ä.)

 einfache Satzstrukturen verwenden

 an gemeinsame Erlebnisse und unvergessliche Feuerwehreinsätze erinnern

 zwei populäre Zitate verwenden

 mit neurolingualer Intervention die Kernbotschaften ansprechen, die bei jedem Zuhörer zu diesem Anlass unbewusst assoziativ aktiviert sind: sei treu, sei ein Kamerad, sei hilfsbereit, sei ehrlich, sei uneigennützig

 im Appell „so ist er“ auch den Zuhörer in der unbewussten Selbstreflexion „so will und so kann ich auch sein“ ansprechen

Klarheit über die Zielgruppe, Erarbeitung der Kernbotschaften, inhaltliche Prägnanz – es ist offensichtlich, dass solche Pluspunkte im wahrsten Sinn „erdacht“ werden müssen. Wer glaubt, er könne intuitiv und aus dem Stegreif so weit kommen, ist erfahrungsgemäß auf dem Holzweg. Am selben Beispiel lassen sich leicht die Folgen einer ungenügenden Vorbereitung demonstrieren.

 

Ein schlechtes Beispiel:

Die gescheiterte Rede eines Gruppenführers der Feuerwehr zum 40-jährigen Jubiläum des Feuerwehrkommandanten sollte

 Fremdwörter enthalten – der Redner will ja seine Bildung heraushängen lassen und den Kameraden zeigen, wie unterbelichtet sie sind

 komplizierte, lange Satzstrukturen verwenden, denen kein Zuhörer folgen kann

 an zufällig memorierte Erlebnisse erinnern, mangels Vorbereitung aber wichtige und unvergessliche Feuerwehreinsätze nicht erwähnen

 keine Zitate verwenden

 ohne neurolinguale Intervention zu wenige Kernbotschaften ansprechen und damit die unbewussten Assoziationen der Zuhörer ungenutzt lassen – vielleicht allenfalls: „Hans – du altes Haus, du bist eine ehrliche Haut und dafür mögen wir dich alle!“

 im Appell „so ist er“ verharren und die Zuhörer nicht weiter in der unbewussten Selbstreflexion ansprechen

Was läuft hier falsch? Der Redner vernachlässigt, was die Hörer erfahren wollen; die Kernbotschaften entfallen oder werden auf unverbindliche Belanglosigkeiten reduziert. Genauso ist es mit der inhaltlichen Prägnanz, die der routinierten Plattitüde weichen muss. Dies ist auch für den Zuhörer erfahrungsgemäß erkennbar – der Hörer „spürt“ geradezu, ob ein Redner vorbereitet ist oder ob er das Risiko der Improvisation eingegangen ist und damit eine vertane Rede bewusst in Kauf genommen hat. Die Reaktion der Zuhörer bei einem derartigen „Phrasendreschen“ ist verheerend: Das unbewusste System 1 kommt in seiner Analyse mit „verfügbaren Erfahrungen“ zum Schluss: „alles schon mal gehört“, „das ist nicht neu“, „das sagt ja jeder“. Das bewusst arbeitende (und bekanntermaßen eher faule) System 2 nutzt dieses Urteil zum Abschalten mit der vernichtenden Begründung: Der ist es nicht wert, dass man ihm zuhört. Konsequenz: abwesende Gesichter, verstohlene Blicke zum Smartphone oder zur Uhr, zufallende Augen – und zum Schluss freundlicher Applaus der vernichtenden Art …

Ganz fatal wirkt sich das bei Redekandidaten aus, die eigentlich auf ein „kreatives Redeerlebnis“ angewiesen wären, weil mit der Rede etwa ein beruflicher Aufstieg verbunden wäre, zum Beispiel bei der Präsentation eines Papers auf einem wissenschaftlichen Kongress. Diese karriererelevante Kreativität benötigt eben in der Regel auch Zeit. Wer sich diese Zeit nicht nimmt und unvorbereitet in einen Vortrag stolpert, wird dann glatt doppelt bestraft: Die gelungene Pointe, das einprägsame Bild und das unvergessliche Zitat waren wieder einmal in der Kürze der „Panikvorbereitung“ nicht auffindbar, und System 1 und 2 der Zuhörer (in diesem Fall erfahrungsgemäß Konkurrenten und potenzielle Mitglieder der nächsten Berufungskommission) kommen zum Urteil: „Langweiler“ – dieses Urteil ist kollektiv! Der Redner weiß um dieses Urteil auch – zumindest uneingestanden auf der unbewussten Ebene. Diese Frustrationserfahrung motiviert in den meisten Fällen nicht dazu, es beim nächsten Mal besser zu machen, sondern verstärkt eher die Redeaversion des Redners, die sich so zu einer waschechten Logosthenie auswachsen kann (s. dazu unten Kapitel X.).