Die Rhetorik-Matrix

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2. Die kluge Vorbereitung – sammeln, prüfen und sortieren

Die Pädagogik kennt seit Jahrhunderten einen auch für die Vorbereitung von Vorträgen geltenden Erfahrungssatz: Einmal selbst geschrieben ist mehr als siebenmal gesprochen oder gelesen. Dieser Wert kann sicher nicht exakt verifiziert werden (erfahrungsgemäß ist er wohl eher noch größer). In jedem Fall sprechen für die schriftliche Ausarbeitung der wesentlichen Passagen einer Rede im Voraus einige Vorteile. So gibt es für die Vorbereitung einige Faustregeln:

Nehmen Sie sich die Zeit für eine sorgfältige Gliederung (s.u. Kapitel V.).

Denken Sie in Richtung Ihres Redeziels die Argumente und auch die Gegenargumente durch. Bedenken Sie dabei: Nichts ist nach dem Gesetz der Dialektik alternativlos – es gibt immer Gegenargumente!

Ein prominentes Beispiel für die Missachtung dieser Regel ist Angela Merkel. Schon bald nach ihrer Wahl, insbesondere aber in der Weltwirtschaftskrise nach der Lehman-Pleite, der Eurokrise mit der Griechenlandpleite und auch später in der Flüchtlingskrise verwendete sie gerne die Argumentation, ihr Handeln sei „alternativlos“ – und zwar mit derartiger Penetranz, dass eine frustrierte Öffentlichkeit das Wort „alternativlos“ sogar zum Unwort des Jahres 2010 wählte. Heike Göbel erklärt das in ihrem Kommentar in der FAZ-Netausgabe vom 18. Januar 2011 so: „Mit dem Etikett ‚alternativlos‘ stellt sich Politik als ohnmächtiges Vollzugsorgan eines von höherer Macht bestimmten Schicksals hin. Das schafft Verdruss beim Wähler. Warum soll er überhaupt noch seine Stimme abgeben, wenn Regierungshandeln so alternativlos ist, wie behauptet?“ Und die Jury des „Unwort des Jahres“ ergänzt: „Das Wort suggeriert sachlich unangemessen, dass es bei einem Entscheidungsprozess von vornherein keine Alternativen und damit auch keine Notwendigkeit der Diskussion und Argumentation gebe. Behauptungen dieser Art sind 2010 zu oft aufgestellt worden, sie drohen, die Politik-Verdrossenheit in der Bevölkerung zu verstärken.“ (www.unwortdesjahres.net)

Nutzen Sie auf der Suche nach zusätzlichen Argumenten auch die gängigen Kreativtechniken, die Ihnen persönlich weiterhelfen: Ob Brainstorming, Mind-Mapping, „Fundgrubensuche“ oder was auch immer – der Zuhörer ist für jedes bislang ungehörte Zitat oder ein weiterführendes und erhellendes Argument dankbar und spürt die Sorgfalt, mit der sich der Redner auf ihn vorbereitet hat.

Hier hat der Redner heutzutage einen enormen Vorteil: 2500 Jahre lang musste er mühsam Materialien in Bibliotheken, eigenen Zettelkästen und seinem Gedächtnis zusammensuchen – jetzt gibt es die Internet-Suchmaschinen. Die bekanntesten zu nennen (Google, Yahoo, Bing), hieße Eulen nach Athen zu tragen (in diesem Satz sind übrigens gleich zwei rhetorische Kunstgriffe verborgen – zur Auflösung siehe unten die Stichwörter Präteritio und Metapher). Mit alternativen Suchmaschinen wie DuckDuckGo, Qwant, IxQuix und Blekko können Sie sich auch spurenlos auf die Suche machen, ohne Ihre Daten quasi kostenlos den Suchmaschinenstaubsaugern zu überlassen. Aber denken Sie bitte daran: Im Fall einer Debatte oder einer Diskussion wird Ihr Redegegner/-partner mit Sicherheit auch im Internet recherchiert haben. Suchen Sie daher im Zweifel auch jenseits der Seite 1, die Ihnen Google anbietet – sonst könnten Sie ins Staunen geraten, dass Ihr Gegner schneller und besser vorbereitet war als Sie! Und vergessen Sie dabei nicht, dass kommerzielle Suchmaschinen dem Vernehmen nach Suchergebnisse auch gegen Entgelt vorpositioniert haben könnten.

Der dann (hoffentlich) angehäufte Wust an Zetteln, Ideen und Bildern kann aber nicht planlos verwertet werden. Es gibt bewährte Muster, nach denen Sie Ihre Ideen strukturieren können, bevor sie dann mit Argumenten und der Gliederung zur Rede umgearbeitet werden. Diese Strukturprinzipien haben einen weiteren großen Vorteil: Sie zeigen Ihnen, wo Sie möglicherweise noch inhaltliche Defizite und Schwächen haben, und dienen damit Ihrem gedanklichen Controlling.

AIDA – die Werbung macht es vor!

Schon vor über 100 Jahren hat der Amerikaner Elmo Lewis das Grundprinzip einer universellen Marketingstrategie entwickelt – und da der Redner seine Ideen ja auch an den Kunden, nämlich an sein Publikum bringen will, ist dieser Methodentransfer sicher legitim. Dem AIDA-Modell nach gibt es vier Stufen oder Prozessabschnitte, in denen ein Kunde/Hörer letztlich vom unentschlossenen Einstieg zur Kaufentscheidung/Überzeugung für etwas geführt werden soll. Sie lauten

Attention – Aufmerksamkeit erwecken

Interest – Interesse des Kunden erregen

Desire – den Wunsch nach dem Produkt erzeugen und verstärken

Action – die gewünschte Aktion/Reaktion auslösen: Kauf des Produktes oder Applaus und Umsetzung der präsentierten These

Auch der Redner sollte seine Ideen in die unterschiedlichen Prozessphasen einordnen. Dies gibt ihm zum einen die Sicherheit, quasi wie im Direktmarketing, sein Produkt rhetorisch verkaufen zu können. Zum andern zeigt ihm das Ergebnis seiner Stoffsortierung, wo möglicherweise noch Defizite bestehen. Hier kann er dann gezielt nacharbeiten und so eine vollständige Stoff-Basis für seine Rede generieren.

Die 6-Schritt-Methode

Diese Strukturierungsmethoden wurden in der Folgezeit entwickelt, um den Redner noch gezielter an weitere Aspekte/Notwendigkeiten in seiner Rede zu erinnern (vgl. Wieke, Handbuch Rhetorik, S. 96 – „5-Schritt-Methode“; Mohl, Der Zauberlehrling, S. 209f. – „Six-Step-Methode“):

1 Aufmerksamkeit/Interesse wecken

2 das Problem benennen

3 Argumente für die vorgeschlagene Problemlösung

4 Argumente gegen die vorgeschlagene Problemlösung

5 Beispiele/Geschichten/Analogien zur Problembehandlung

6 die Lösung formulieren und an sie appellieren

Beachten Sie: Mit dieser Methode haben Sie noch keine Gliederung erarbeitet – es geht nur darum, möglichst optimal eine Stoffsammlung zu gestalten. Allerdings haben Sie am Ende der Stoffsammlung mit dieser Methode schon ein ziemlich gutes Gliederungsgerüst aufgebaut.

Die Journalisten-Recherche: Die 7 W-Fragen

In vielen Fällen ist die Recherche-Arbeit eines Journalisten vergleichbar mit der Stoffsammlung eines Redners: Am Ende muss ein guter Text stehen, der die jeweiligen Anforderungen erfüllt. Hierfür haben die Journalisten seit langem ein ziemlich gutes Frageschema erarbeitet, das auf mindestens 6 W-Fragen beruht; aus meiner Sicht sollte es um eine siebente Frage unbedingt ergänzt werden (vgl. Wieke, Handbuch Rhetorik, S. 97f.):

1 Was ist geschehen?

2 Wer hat es getan/war beteiligt?

3 Wo fand das Geschehene statt?

4 Wann ist es passiert?

5 Wie war der Ablauf?

6 Warum ist es dazu gekommen?

7 Welche Beweise/Quellen gibt es?

Diese journalistische Aufbereitung spielt vor allem für Sachreferate eine große Rolle, in denen ein Redner über bestimmte Vorgänge berichten soll. Die damit erarbeiteten Informationen sind weitgehend vollständig und können dann guten Gewissens in eine Rede umgearbeitet werden. Auch für Beiträge in Diskussionen und Debatten erhält der Redner auf diese Weise eine gute sachliche Vorbereitung.

Die historische Stoffsammlung

Diese Form der Stoffsammlung ist als Recherchemethode dann gut geeignet, wenn ein Rückblick im Zentrum der Rede stehen sollte, gegebenenfalls verbunden mit einer Ausschau in die Zukunft. Dies ist übrigens häufiger der Fall, als man annimmt: Bei Festreden für einen bestimmten Anlass, bei der Feier eines Jubiläums oder auch Geburtstages und in der wichtigen Redegattung der Trauerrede geht es ja darum, den Gegenstand der Rede vor allem in seiner zeitlichen Abfolge, natürlich auch mit den Höhen und Tiefen, zu beleuchten. Auch für die Präsentation eines Lebenslaufes, etwa bei einem Assessment Center, bietet das Prinzip der historischen Stoffsammlung eine nützliche Grundlage. Die drei Gliederungspunkte liegen auf der Hand: Gestern – Heute – Morgen.

Das Gestern ist der Schwerpunkt der historischen Sammlung. Denken Sie dabei nicht nur im strikt zeitlichen Ablauf; konzentrieren Sie sich auch auf die Fragen: Was war ein Höhepunkt, ein Erfolg? Was war ein Tiefpunkt, eine Niederlage? Was waren besondere Herausforderungen? Was war kurios? – Dieser Punkt ist bei Lebensläufen derjenige, der erfahrungsgemäß das Publikum besonders fesselt. In meinen Seminaren frage ich die Studierenden systematisch nach einem Schwank aus ihrem Leben – man glaubt nicht, welche Geschichten das Leben tatsächlich schreibt! Und es sind genau die Kuriositäten und besonderen Geschichten, an die sich die Seminarteilnehmer nach der Präsentation mehrerer Lebensläufe eindeutig häufiger erinnern – der durchschnittliche glatte Rest ist schon abgehakt und im Zweifel vergessen.

Untersuchungen der Psychologen stützen diesen Befund: Das unbewusste System 1 scheint demnach bevorzugt auch „das Leben als eine Geschichte“ zu strukturieren (vgl. Kahneman, S. 476–481). Die intuitive Bewertung ganzer Lebensläufe sowie kurzer Episoden scheint besonders auf Höchst- und Tiefstände sowie die Endzustände abzustellen, nicht auf die Dauer eines Lebens oder seinen langen sonstigen Verlauf (vgl. Diener u.a.: End Effects of Rated Life Quality, S. 124–128). Die historische Stoffsammlung bietet daher einen wichtigen Ansatzpunkt für die neurolinguale Intervention.

Das Heute ist die faktische Kulmination der Geschichte: Im Jetzt zeigen sich die Entwicklungsstränge mit allen ihren Problemen, aber auch Chancen. Darauf muss der Redner natürlich eine Antwort geben – selbst bei der Trauerrede ist dieses Jetzt entscheidend (s. dazu unten Kap. V.1.). Daher sollten Sie Ihr Material in der Stoffsammlung unbedingt auf diese Punkte prüfen.

 

Das Morgen ist für die Stoffsammlung und die Gliederung unter folgender Perspektive wichtig: Welche konkreten Pläne gibt es, welche Entscheidungen sollen umgesetzt werden? Sind in der Zukunft Entwicklungen zu erwarten, die für diese Pläne von Bedeutung sind – positiv wie negativ? Gibt es Meilensteine und andere Abschnitte auf dem künftigen Weg, die schon jetzt feststehen?

Die Plus-Minus-Formel

Im Gegensatz zur 6-Schritt-Methode, die von einem Problem ausgeht, ist die Plus-Minus-Formel dann geeignet, wenn von vornherein unterschiedliche und auch valide Gegenpositionen für ein bestimmtes Thema bekannt sind, die gemeinsam abgehandelt werden sollten – verbunden mit der eigenen Positionierung des Redners. Die Themen für solche Reden kommen schwerpunktmäßig in der Überzeugungsrede, aber auch im Sachvortrag vor. Einige von vielen Beispielen aus den Jahren 2016/17 sind etwa:

 Pro und Contra Autobahnmaut in Deutschland

 Pro und Contra Braunkohleabbau in Deutschland

 Pro und Contra Verfassungsreform in Italien oder Spanien

 Pro und Contra TTIP oder CETA

Auch hier bietet sich eine systematische Stoffsammlung an, die schwerpunktmäßig der rhetorischen Schule der Dialektik entnommen ist (vgl. Lay, S. 116ff., Wieke, Handbuch Rhetorik, S. 99):

 Was sind die unterschiedlichen Positionen?: objektiv erarbeiten

 Was sind wichtige Vorfragen/Definitionen, die zu klären sind?

 Welche Argumente gibt es pro und contra die jeweilige Position?

 Welche sonstigen Vor- und Nachteile sind für die jeweilige Position relevant und erkennbar?

 Welche Positionen und Argumente lehnen Sie als Redner ab – ggf. mit welchen zusätzlichen Informationen?

 Welche Positionen und Argumente unterstützen Sie als Redner; wie und mit welchen ggf. zusätzlichen Informationen präsentieren Sie sie dem Zuhörer?

Diese Methode der Stoffsammlung ist schon von den Fragestellungen her für Themen prädestiniert, die häufig in einer längeren Rede abgehandelt werden. Sie gibt Ihnen auch die Disziplin, um allzu voreilige Festlegungen methodisch zu vermeiden. Gerade für längere Debatten gibt diese Stoffsammlung daher auch das Rüstzeug, um umfassend vorbereitet zu sein und so auch zu wirken!

Fazit: Wer bereit ist, für eine 20-minütige Rede vor 50 Zuhörern etwa 3 Stunden Vorbereitung zu aufzuwenden, investiert einmalig etwa 150 Euro an Arbeitszeit – ein positiver Eindruck einer Rede kann aber sehr wahrscheinlich zu einer besser bezahlten Position führen, in der Sie dauerhaft 150 Euro pro Monat zusätzlich verdienen können. Wo hat man in Zeiten lausiger Zinsen eine bessere Rendite? Und für Studierende, die im Studium, bei Bewerbungsgesprächen oder ersten öffentlichen Redegelegenheiten die Grundlagen für ihren späteren persönlichen und beruflichen Erfolg legen, ist die erzielte Dividende mit Sicherheit noch höher!

Der positive Eindruck einer gut vorbereiteten Rede kann sich auf mehrere Persönlichkeitsebenen beziehen und sich vorteilhaft auswirken: Zum einen auf Ihre Wahrnehmung als fachlich kompetenter Experte in bestimmten Bereichen, zum anderen auf Ihre persönliche Wertschätzung als guter Redner, der sich in Vorbereitung, Formulierung und Umsetzung einer sicher nicht einfachen Redeaufgabe gewachsen gezeigt hat, und abschließend natürlich auf den Gesamteindruck eines guten Redners. Denken Sie aber auch an Sarah Palin und daran, was man durch ungenügende Vorbereitung verlieren kann: im schlimmsten Fall 150000 Dollar und das Vizepräsidentenamt.

V. Der Redeaufbau – die richtige Gliederung für den richtigen Redetyp

„Die Strategie ist eine Ökonomie der Kräfte“

(Carl von Clausewitz)

Die Schlüsselstelle der Redevorbereitung ist nun erreicht: Nach der sorgfältigen Vorbereitung und Materialsammlung geht es nun darum, die richtige Gliederung für den richtigen Redetyp zu finden. Gemäß der Aussage des großen Militärstrategen von Clausewitz steht nun die Überlegung im Vordergrund, wie die begrenzten rhetorischen Ressourcen optimal ökonomisch eingesetzt werden können: Welcher Redetyp, welche Argumente, welche Ausführlichkeit, welche Zielgruppe oder welches Publikum – all das kann ohne ein effizientes Gerüst der Rede nicht bewältigt werden. Dies gilt umso mehr, als ja für die Rede in der Regel eine bestimmte Zeit vorgegeben ist – im Zweifelsfall die Zeit, die ein Publikum gewillt und in der Lage ist, aufmerksam zuzuhören. Die Redezeit muss also ökonomisch bestmöglich genutzt werden. Hier findet die Konzentration aller Faktoren statt. Wer seine Rede ohne erkennbare Gliederung hält, der stellt das bewusste System 2 und noch mehr das unbewusste System 1 des Zuhörers vor kaum lösbare kognitive Aufgaben: Wie soll man dem Redner überhaupt folgen können?

Eine Gliederung schafft hingegen Übersichtlichkeit – und Lernbarkeit, also die Chance, dass der Zuhörer das aufnimmt, was er vom Redner erfährt, es kognitiv verarbeitet und als heuristisch zutreffend in seinem Denken behält. Einzelne Strukturmethoden der Stoffsammlung können schon das Grundgerüst für die Gliederung liefern (vgl. oben Kapitel IV.5.). Darüber hinaus hängt die Gliederung vor allem vom Redetyp ab, dessen charakteristische Inhalte und Ziele den Redeaufbau maßgeblich prägen sollten. Dabei gibt es bezogen auf die Redeaufgabe zwei Fragegruppen: Die eine beschäftigt sich mit der sozialen Zielgruppe der Rede, die andere hat den konkreten Anlass der Rede zum Gegenstand. Die Rhetorik-Matrix verknüpft beide Aufgabenelemente miteinander.

Auf die soziale Zielgruppe bin ich bereits im Zusammenhang mit der Redevorbereitung (Kapitel IV.1.) detailliert eingegangen; wir kennen die vier Hauptkategorien:

1 Privat

2 Gesellschaftsleben

3 Beruf

4 Politik

Zentral ist es nun, Redeanlass und Redeziel richtig zu lokalisieren; sie werden in der Regel vier Formen von Reden zugeordnet.

1. Die Gelegenheitsrede – nutzen Sie die Gelegenheit!

Die Gelegenheitsrede ist in der Regel eine „Anlassrede“ – und glauben Sie mir: Wenn Sie unbedingt reden wollen, lässt sich ein Anlass bestimmt immer finden! Neben der Goldenen Hochzeit der Großeltern oder dem Abitur der kleinen Schwester im familiären Umfeld bieten vor allem Vereine und Gesellschaften oft eine Bühne zu zahlreichen Gelegenheiten: Gründungsjubiläen, die Jahreshauptversammlung eines Vereines, das Gedenken an frühere oder die Ehrung besonders verdienter Mitglieder. Angesichts dieser Vielfalt sind allgemeine Aussagen zur Zielgruppe kaum möglich.

Die Anlassrede ist im modernen Verständnis aber anders als nach der klassischen Definition von Aristoteles nicht nur eine „aufzeigende/hinweisende Redegattung“ (epidikteische Rede, vgl. Aristoteles, Rhetorik, S. 19, sowie Wieke, Handbuch Rhetorik, S. 92). Das Gattungsbild ist weit umfassender. Daher soll hier mit einem weitverbreiteten Vorurteil aufgeräumt werden, nach dem die Gelegenheitsrede als reine „Gebrauchsrede“ nur einen geringeren Stellenwert hat. Das Gegenteil ist der Fall! Die weitaus meisten Reden werden entweder als Sachvortrag oder eben als Gelegenheitsrede gehalten. Sicherlich ist das Sujet der Gelegenheitsrede nicht so schicksalhaft beladen wie eine Überzeugungsrede zu wichtigen Fragen der Politik. Die schiere Masse von Gelegenheitsreden zeigt aber, dass gerade hier die Möglichkeit gegeben ist, einen nachhaltigen Eindruck als guter Redner zu hinterlassen. Hier, im rhetorischen Alltagsleben, trennt sich die Spreu vom Weizen: Wenn eine wechselnde Zuhörerschaft, die aber dennoch erfahrungsgemäß Schnittmengen zu vielen anderen Menschen hat, den positiven Eindruck gewinnt: Gute Vorbereitung – gute Gliederung – gute Gedanken – und ein gutes Gefühl – dann ist der Redner dabei, sich einen guten Ruf zu erwerben, von dem er dauerhaft profitieren kann.

Dasselbe gilt natürlich auch für Gelegenheitsreden im Beruf und in der Politik, denken Sie nur an Betriebsfeiern aller Art und Rahmenreden für einen bestimmten Festanlass.

Norbert Lammert: Redekunst in Vollendung

Der langjährige Präsident des deutschen Bundestages Norbert Lammert war durch sein Amt in mehrerer Hinsicht daran gehindert, für seine Partei Überzeugungsreden zu halten – zu Überparteilichkeit verpflichtet repräsentierte er die Bundesrepublik Deutschland bei mannigfachen Anlässen (= Gelegenheiten) mit den entsprechenden Gelegenheitsreden. Er praktizierte dies mit bemerkenswerter Sorgfalt und einer Vorbereitung, die man buchstäblich mitlesen kann (schließlich hatte er ja mit dem wissenschaftlichen Stab des Bundestages einen der größten wissenschaftlichen Dienste Europas zur Verfügung). Diese Sorgfalt gerade für Gelegenheitsreden hat ihm mit Recht die Verleihung des renommierten Dolf-Sternberger-Preises für seine Verdienste um den Zusammenhang von Politik und Sprache eingebracht.

Der Inhalt der Anlassrede wechselt damit regelmäßig und ist thematisch unbedingt als Grundlage zu beachten: Begrüßen, Feiern, Trösten, Danken, Verabschieden, Ehren, Würdigen etc. Die Behandlung der mit dem Anlass assoziierten Gefühle und der gefühlsbezogenen Einstellung der Anwesenden zu dem Anlass stellt einen zentralen Schwerpunkt der Rede dar. Das unbewusste System 1 jedes Anwesenden hat schon vor dem Beginn der Rede zu dem Thema eine emotionale Verbindung hergestellt, die im Publikum insgesamt gleichartig ausfallen dürfte (vgl. Kahneman, S. 108f.): Die Hörer sind bereits in ihrer großen Mehrheit in einer bestimmten Feier-, Trauer- oder Anlassstimmung. Der unausgesprochene Wunsch ist es daher, vom Redner buchstäblich weiter „eingestimmt“ zu werden. Das sogenannte „erlebte Wohlbefinden“ spielt für die emotionale Bewertung eines Ereignisses – wie etwa einer Rede – eine belegbar relevante Rolle; das gilt vergleichbar auch für das „erlebte Trauerbefinden“ (s. Kahneman, S. 482–485).

Das wesentliche Arbeitsziel des Redners muss daher von folgender Frage abhängen: Welches gemeinsame Stimmungsbild der Anwesenden ist am Anfang gegeben? Dieses gemeinsame Stimmungsbild der Hörer ist aufzunehmen, vielleicht noch etwas zu verstärken: Takt und Rücksicht auf die Hörer sind unbedingt wichtig. Der Redner muss die Hörer in ihrer emotionalen Situation abholen und sie mitnehmen auf eine emotional bestimmte Reise durch oder über den Anlass. Der Anlass steht im Mittelpunkt – also in der Regel ein anderer Mensch – und nicht der Redner: Die Stilfigur der „Selbstverkleinerung“ und des dienenden Redners, der sich persönlich zurücknimmt, kommt erfahrungsgemäß auch im Unterbewusstsein der Hörer gut an. Obwohl er auf dem Podium aus der Menge hervorragt und mit hohem persönlichen Einsatz zwangsläufig auch sich selbst präsentiert, wird das Publikum einen demütigen Redner emotional nicht als selbstbezogen, arrogant oder rücksichtslos bewerten.

Bilder, Geschichten, prägnante Erlebnisse zum Anlass sind ausdrücklich erwünscht – die schon erwähnte Vorliebe des unterbewussten System 1 für plausible Geschichten kann hier voll bedient werden (vgl. Kahneman, S. 139ff.; s.a. Dobelli, S. 169ff.). Zitate können den Anlass in einen „höheren“ und noch wirksameren Gesamtzusammenhang bringen und den Eindruck des Gesagten noch weiter rhetorisch verstärken. Eine Sentenz von John F. Kennedy wirkt so nachweislich stärker als die gleiche Sentenz ohne den „großen Namen“. Und sorgen Sie für Abwechslung: Ein wenig Nachdenklichkeit in der Freude oder ein kleiner Scherz in der Trauer kann nicht schaden – solche Brechungen zeigen den Redner als souveränen Denker über den Tellerrand hinaus.

Gerade bei solchen emotionalen Wohlfühlelementen gilt aber für die Gliederung: Fassen Sie sich kurz – Langeweile vernichtet jedes Stimmungsbild, nicht nur das positive, sondern sogar die Trauer. Wichtig ist daher für die Gliederung, dass es völlig genügt, nur einen oder wenige prägnante Gedanken in Zusammenhang mit dem Thema zu entwickeln. Gemeinsame Geschichten, gemeinsame Hoffnungen, gemeinsame Gefühle können dabei immer in prägnante Bilder umgesetzt werden. Das Unterbewusstsein ist ohnehin schon auf den Anlass eingestimmt, verzichten Sie daher auf die rhetorisch-emotionale „Dampframme“. Die behutsame rhetorische Verstärkung der Stimmung der Gruppe ist immer von Nutzen, sie sollte aber nicht übertrieben werden.

 

Eine Besonderheit der Anlassrede ist ihr Schluss, der meist vorgegeben ist. In der Regel wird vom Redner eine „Anlass-Handlung“ im weitesten Sinn erwartet: ein Geschenk, einen Pokal oder ein Diplom zu überreichen, ein Prosit auszubringen oder einen Willkommensgruß zu sprechen, einen Gong zu schlagen oder mit einer stehenden Formel zu enden wie der Münchner Oberbürgermeister mit dem „O’zapft is!“ bei einer der populärsten Anlassreden Deutschlands, der Eröffnung des Oktoberfestes. Der Redner sollte dieses anlassbezogene Ritual unbedingt in seine Gliederung einbeziehen. Er findet damit einen idealen Schlussakkord vor, den er nur nutzen muss.

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