Spiritualität als Lebenskunst

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Anmerkungen

1. Ursprünglich habe ich mit diesem Begriff an die philosophischen Fragmente der Vorsokratiker gedacht, bis mir bei der Recherche der Artikel von Ulrich Lessin (2002, 19-51) untergekommen ist, der eine fragmentarische Perspektive auch auf die Gestalttherapie anwendet.

2. »If you meet Buddha on the road, kill him!« So lautet eigentlich der Originaltitel von Kopp 1988.

3. Joseph Beus, zit. n. Jäger & Grimm (2000, 10).

4. Portele (1992, 14) beschrieb einmal die verschiedenen therapeutischen Schulen in einem einzigen Satz. Perls legte er den Ausspruch »Schau doch richtig hin« in den Mund.

5. Dieses Fragment geht auf Peter Orban (1991, 9) zurück.

6. Jäger (1991, 132). Der Autor dreht allerdings die Gleichung um und beginnt von hinten.

7. Eine »systematisch-fundierte« gestalttherapeutische Perspektive auf Spiritualität müsste noch viel mehr mit ihrem geschärften Blick auf die bzw. mit ihrer Erfahrung der individuellen und unterschiedlichen Persönlichkeitsstile argumentieren und korrigierend auf »Spiritualität« intervenieren.

8. »Vielleicht übertreibe ich, aber ich halte die gegenwärtige Krise in der Psychotherapie für so ernst und die therapeutische Spontaneität für so gefährdet, dass eine radikale Korrektur notwendig ist. Wir sollten sogar noch weiter gehen: Der Therapeut muss danach streben, für jeden Patienten eine neue Therapie zu kreieren.« (Yalom 2002, 48) Auch in seinem belletristischen Werk betont der Autor diesen Standpunkt (Yalom 2000a, 198; Yalom 1998, 15). Im Grunde sind diese Zitate die berechtigte Frage nach einer adäquaten Therapie bzw. nach adäquaten Interventionen. Krauss-Kogan (2006) hat neuerdings darauf hingewiesen, dass dieses Diktum auf Wilhelm Reich zurückgeht und Fritz und Laura Perls dies übernommen haben.

9. In der einseitig-provozierenden Sprache Orbans: »Wie sollte da eine Therapie oder eine Ideologie wissen, was für dich gut ist. Es gab dich doch nie. Dein Fall war noch nicht in der Literatur.« (Orban 1991, 142)

10. So ähnlich der Titel eines erst kürzlich wieder aufgelegten Buches: Golas 2003.

11. Vgl. auch die Gesellschafts- und Sozialkritik des Mitbegründers der Gestalttherapie, Paul Goodman.

12. Damit meine ich das Umfeld demokratischer Gesellschaften, deren Errungenschaft es ist, mehrere weltanschauliche Positionen zuzulassen im Gegensatz zu Diktaturen und Gottesstaaten.

II Spiritualität – ein mehrdeutiger Begriff

1. Definition von Spiritualität

»Die Religion ist primär nicht das Opium des Volkes,

sondern die Erinnerung daran, daß es mehr Leben in uns gibt,

als dieses Leben lebt.«

(Peter Sloterdijk 1983, 509)

»Sie [die spirituelle Erfahrung] ist zu verstehen als eine

nach innen gerichtete Erfahrung, in der sich die Wirklichkeit in einer

tiefen Schau oder in einem intuitiven Wissen zu erkennen gibt.

Diese Erfahrung ist mehr als nur rationale Einsicht.

Sie ist auch mehr als nur impulserzeugende Begeisterung.

Sie umfasst all diese Bereiche und stellt Wissen, Erkenntnis,

emotional-existentielle Sicherheit und Impuls

zum verändernden Handeln gleichermaßen bereit.«

(Harald Walach 2006, 94)

»Spiritualität ist ein gesellschaftliches und kulturelles Phänomen.

Sie ist offenbar ein Grundbedürfnis sehr vieler Menschen,

an welchen Punkten ihres Lebens auch immer;

und gänzlich unabhängig von Stand und sozialen Positionen wird sie gelebt.«

(Rainer C. Schwinges 2005, 9)

Den Dschungel lichten. Spiritualität zu definieren scheint ein schier unmögliches Unterfangen zu sein. Als Phänomen wie als Begriff erscheint sie schillernd, komplex. Manchmal wie eine Worthülse. In der Tat, sie ist kein homogenes Produkt. Der Wert, eine Präzisierung zu wagen, besteht wohl darin, die »Szenerie des menschlichen Lebens« zu erhellen (Tugendhat 2005, 95). Stichwortartig angeführt werden mehrere brauchbare Definitionen von »Spiritualität«. Meine Intention dabei ist klar: Die transzendente Materie herunter zu bringen in irdische Gefilde.

Handhabbar machen. Damit soll begrifflich fassbar und klar gemacht werden, wie Spiritualität verstanden, verwendet werden kann. Die Hoffnung? Nicht unbedingt ein Stammtischthema zu kreieren, aber doch einen begehbaren Pfad zu bahnen durch den »Dschungel der Spiritualitäten« (Welter 2005, 153). Korrekterweise ist von Spiritualität nicht im Singular zu sprechen und auszugehen, sondern im Plural, weil es »die« Spiritualität in einer multikulturellen, fragmentierten Postmoderne nicht mehr gibt – oder richtiger – niemals gegeben hat (Bucher 2007, 21).

Begriffe und Sprache konstruieren Wirklichkeit. Wissenschaftler wie Philosophen haben darauf hingewiesen, dass wir durch Sprache Wirklichkeit konstruieren. Wir treffen Vereinbarungen durch Sprache. Wir kommunizieren durch Sprache und konstruieren so Realität. Menschen sind Sprach-Wesen. Wir leben in Sprachgemeinschaften, kreieren einen Wissens- und Verstehenshorizont und binden uns ein (Leutwyler 2005, 21f). Wir machen Erfahrungen und versprachlichen diese, die dann wiederum unsere Erfahrungen und die Art und Weise unseres Beobachtens und Sehens beeinflussen. Eine Wechselwirkung also.

Das Geheimnis versprachlichen? Auch Bucher (2007, 56) warnt vor einer Definierung von Spiritualität im Sinne einer Einengung. Denn, Spiritualität ist ein vielfältiges Phänomen: »Es wäre vermessen, mit der Definition von ›Spiritualität‹ aufwarten zu wollen. Globaldefinitionen stellen nicht zufrieden […] und werden der Vielfalt subjektiver Theorien zu diesem Phänomen nicht gerecht.« Deshalb plädiert der Autor stets dafür, – »im Sinne von Arbeitsdefinitionen« (ebd.) – konkret zu differenzieren, was damit gemeint sei.

Bereits in der jüdischen Tradition ging es neben anthropomorphen, oftmals allzu menschlichen Bildern von Transzendenz um einen anderen, nicht unwichtigen Aspekt, um die Namenlosigkeit nämlich. »Ich bin, der ich bin bzw. der ich sein werde«. Das war die intrinsische Transzendenz-Erfahrung eines Moses, die zu einer fundamentalen und tragfähigen Weisheit einer ganzen Gruppe wurde. Dieses Unnennbare ereignet sich nicht in starren Begriffen, sondern in lebendigen Menschen. Eine solche Vision oder Erfahrung ist der Kern jeder authentischen Spiritualität. Viel später hat die damalige mitteleuropäische Wissenschaft den Terminus »theologia negativa« geprägt.

»Neti, Neti« – »Nicht dies, nicht das«, nannte man den Sachverhalt in der östlichen Weisheit. Und doch, darauf hat schon Luther sinngemäß hingewiesen, wenn das Herz voll ist, geht es über. Wir können letztlich nicht nicht kommunizieren (Watzlawick). Der Mensch ist keine Monade, sondern ein Beziehungswesen. Wenn wir in Beziehungen, in Gemeinschaften leben und arbeiten bzw. uns zumindest dann und wann austauschen, braucht es klare Referenzpunkte, auch sprachliche. Begriffe können dies leisten. Sie transportieren Inhalte. Mag eine Definition noch so schwierig sein, ist sie doch notwendig. Mag eine Erfahrung subjektiv sein, so trifft sie in der Versprachlichung (in Wort oder Schrift) immer schon auf einen kulturellen Vorrat an Deutungsmustern. Sie steht in einem kreativen Spannungsverhältnis mit vorgefassten Begriffen, derer wir uns in der Kommunikation bedienen.

Eine Begriffsbestimmung ist sinnvoll, wenn wir die angedeutete Polarität zwischen Klarheit und Nichtfassbarkeit berücksichtigen und keinen abgeschlossenen Überbau erwarten, der nicht mehr offen ist für Neues, Anderes, Fremdes und für Entwicklung. Denn: »Nichts ist für den fragenden Geist verhängnisvoller als ein fertiges Konzept, das ihn hindert, sich auf neue Fragen und Erkenntnisse einzulassen.« (Nägeli 2005, 28)

Nur eine lebensfreundliche Definition erscheint angebracht. Mein Ansatzpunkt ist eine Spiritualität der Lebensfreundlichkeit, ähnlich wie es der Psychoanalytiker Erich Fromm (2004) in Bezug auf Religion formuliert hat. Die Suche nach einer stimmigen Definition habe ich ausgerichtet auf eine begriffliche Bestimmung des Wortes einerseits und auf eine inhaltliche Bestimmung andererseits, wobei einem lebens- und leibfreundlichen, sinnenhaft und alltagsnahen Aspekt mein Hauptaugenmerk gilt. Oft genug wurde Spiritualität – zumindest jene westeuropäischer Provenienz – überfrachtet als introjektfördernde Normierung und Deformierung des Einzelnen oder ganzer Gesellschaftssysteme verkündet.



Eine erste Definition vom Wort her: Spiritualität kommt von Spirit, Geist. Von einem jüdisch-christlichen Standpunkt herkommend könnte man, der Etymologie des Wortes »Geist« folgend, ganz allgemein von einer inspirierenden Tiefendimension des Lebens sprechen, bei der es um Sinn, Mitte und Tiefe geht (Honecker 2000c, 13). Interessant ist der Verweis von Walser & Wild (2002, 7f) auf das englische »spirit«, das in seiner inhaltlichen Bedeutung mehrschichtig ist: »Es kann Geist, Sinn, Gesinnung heißen, aber auch Vitalität, Lebendigkeit, Mut und Temperament.« Wenn wir diese englische Variante mit Bildern ausschmücken, dann ergeben sich in der Folge Fragen nach den eigenen spirituellen Wurzeln, nach Beheimatung, nach dem zum Wachsen Notwendigen, nach den eigenen »Quellen« und den individuellen Ressourcen, aus denen geschöpft wird. Dies gilt umso notwendiger, will menschliches Leben glaubhaft und facettenreich, persönlich überzeugend und stimmig gelebt werden.

 

Was nun ist Spiritualität? Sie ist jedenfalls ein offener Begriff, der auf ein religiöses Bedürfnis hinweist. Allgemein können wir Spiritualität begreifen als »ein Verhältnis eines Individuums zu einer irgendwie gearteten Transzendenz (Götter, Geister, allgemeine transzendentale Prinzipien, persönliche Entwicklungspotentiale o.ä.)« (Stolz 2005, 121).

Der Schweizer Psychiater Christian Scharfetter (1997, 1) präzisiert:

»Spiritualität heisst eine Haltung, eine Lebensführung der Pflege, Entfaltung, Öffnung des eingeschränkten Alltagsbewusstseins hinaus über den Ego- und Personbereich in einen individuumsüberschreitenden, transzendierenden, deshalb transpersonal genannten Bewusstseinsbereich. Spiritualität bedeutet Leben in der Hinordnung, der Orientiertheit am Einen, das Bewusstsein der Teilhabe des einzelnen Individuums an einem überindividuellen Sein, bedeutet die Selbsterfahrung, dass die wahre Natur, der Kern, die Essenz unseres Wesens […] dieses umgreifende Eine ist, welches über jede menschliche Gestalt- und Eigenschaftszuweisung hinausgeht, welches darum gestaltlos, leer genannt wird. Es trägt in verschiedenen Kulturen Namen, welche auf das Geahnte verweisen […].«

Spiritualität – ein vielfältiger, multidimensionaler Begriff. Die folgende Liste von unterschiedlichen Kurzdefinitionen bietet in ihrer Prägnanz einige interessante Varianten und Charakterisierungen. Allen gemeinsam ist, dass sie nicht vorschnell auf eine theistische Konzeption abzielen, die Formulierungen offen sind und keine Bindung an eine religiöse Gruppe intendieren.




Spiritualität auf den Punkt gebracht: Connectedness, Verbundenheit. Bucher (2007, 24–34) hat in seiner übersichtlichen und verständlichen »Psychologie der Spiritualität« einen induktiven Weg eingeschlagen. Indem er qualitative Studien zur Spiritualität auswertete, kommt er zu einer klaren, überschaubaren und handhabbaren Begriffsklärung mit verschiedenen Dimensionen bzw. Aspekten von Spiritualität. Sein zentraler Kernbegriff für Spiritualität ist »connectedness«, Verbundenheit. Diese bezieht sich auf das eigene Selbst, auf Natur und Kosmos, auf Mitmenschen, die soziale Welt sowie auf ein höheres, geistiges (göttliches) Wesen.

Amerikanische Studien über Spiritualität gehen von folgender Ausgangsdefinition für Spiritualität als Verbundenheit aus:

»Spiritualität bezeichnet eine Art des In-der-Welt-Seins, die die Existenz einer transzendenten Dimension anerkennt. Sie schließt ein Gewahrsein dessen ein, dass alles, was ist, miteinander verbunden ist und anerkennt, dass alles Leben Bedeutung und Sinn hat und daher heilig ist.« (Becvar 1994, zit. n. Utsch 2005, 189; Übers.: Sabine Engelmann).

Voraussetzung für Verbundenheit ist die Fähigkeit zur Selbsttranszendenz. Je mehr es uns gelingt, von der eigenen (fesselnden) Fixierung abzusehen, desto leichter und inniger ist der Kontakt, gelingt und verwirklicht sich Verbundenheit (Bucher 2005, 30). Die Fähigkeit, sein Ich zu übersteigen, Selbst-Fixierungen zu lockern, ergriffen zu werden, ergriffen zu sein und etwas, das über das Ich hinausgeht, zuzulassen, ist ein Aspekt, der auch bereits von einigen Psychologen thematisiert wurde (wie Frankl, Helminiak, Coward & Kahn, vgl. ebd.; Utsch 2005, 183). Diese Selbstrelativierung ist auch der common sense spiritueller Traditionen. Es ist ein Wandlungsprozess von einer »oberflächlichen Ego-Bestimmtheit hin zu einer tieferen Ich-heit« (Nägeli 2005, 41) oder ein Aufgeben um die »Preisgabe des Verwickeltseins im Ich« (Tugendhat 2005, 104). Letztlich geht es auch um eine Relativierung des eigenen Standpunktes, um ein Heraustreten aus den engen Rollenverhältnissen, aus unserem Schubladendenken.


Abb. 3: Spiritualität als Kontakt, Verbundenheit

Deutlich werden verschiedene Blickfelder. Spiritualität wird als ein relationaler Prozess gesehen, als ein In-Beziehung-Treten, als Kontaktgeschehen mit der eigenen Person, mit der Umwelt, mit anderen Menschen usw.

Spiritualität als Verbundenheit – plausibel und dialogfähig. Fakt ist: Spiritualität und transzendente Erfahrungen werden von Menschen erlebt und gemacht und sind psychische Realitäten. Die vorgestellte Konzeptualisierung von Spiritualität ist weit genug. Sie ermöglicht nebenbei eine gute Anschlussfähigkeit an konventionelle Religionen mit einem personalen Gottesbild. Andererseits ist sie konfessionsübergreifend. Und: Sie vermag auch nichttheistische, atheistische, humanistische oder synkretistische Ansätze und Weltanschauungen bis hin zu so genannten esoterischen Angeboten im Supermarkt weltanschaulicher Anbieter zu umfassen. Diese Dialogfähigkeit erscheint mir insofern wichtig, als dass Menschen Spiritualität – immer noch – auch von Institutionen vermittelt bekommen. Deshalb ist davon abzuraten, »den Aufbau einer spirituellen Psychotherapie nur abseits von religiösen Systemen zu betreiben.« (van Quekelberghe 2007, 24)

Der hier vorgeschlagene Ansatz wird sowohl den unterschiedlichen Transzendenzerfahrungen als auch der Vielfalt an Sinnkonstruktionen und Suchbewegungen von Menschen gerecht. Darüber hinaus werden unterschiedliche spirituelle »Erfahrungsräume« ausgewiesen: Beziehung mit sich selbst durch Nutzung von Eigenzeit oder ein inneres und äußeres Sich-Einlassen auf den Alltag; Naturerfahrungen; Kontakt mit dem Göttlichen, einem größeren Ganzen, einem Absoluten oder einer Macht an heiligen Plätzen, an Stätten, zu Hause; Beziehung und Verbundensein zu anderen Menschen in Partnerschaften und freundschaftlichen Beziehungen … Denn: Nicht jeder »Weg« passt zu jeder/jedem.

Die Vielfalt der Realität erschließen – Transzendenztransparenz. Die Definition erscheint plausibel, lebens- bzw. alltagsnah. Sie fasst zusammen und zeigt auf, wo moderne Menschen Kraft tanken, Transzendenz erfahren, Sinn herstellen und Gegenwelten eröffnen können, ohne vorschnell eine Weltflucht antreten zu müssen. Sie ist ganzheitlich ausgerichtet und vieldimensional, berücksichtigt das einzelne Individuum und dessen soziale Interdependenz. Spiritualität ist mit dieser Begriffsbestimmung keiner etablierten Gruppierung oder bloß einzelnen Eliten vorbehalten, sondern zeigt sich als intrinsische, persönliche (Seins-)Erfahrung von Menschen.

Der Gestalttherapeut Gary M. Yontef (1999a, 53) hat einmal in einem anderen Zusammenhang darauf hingewiesen, dass Leben vielfältig sei und es deshalb auch keine klischeehaften, einfachen Lösungen geben könne: »Aus dialogischer Sicht heißt Realität, in Verbindung zu treten. Leben ist Begegnung. Bewußtheit ist relational, nämlich Orientierung an der Grenze zwischen der Person und den restlichen Teilen des Organismus/ Umwelt-Feldes.« Spiritualität – auch dies Gemeinplatz mystischer, religiöser, spiritueller Strömungen – hat nur zum Teil mit außergewöhnlichen Gipfelerfahrungen (vgl. Maslows Bedürfnispyramide) zu tun und muss sich im Alltag bewähren. Transzendenz muss im Hamsterrad des alltäglichen Lebens transparent werden. Denn nur in den kleinen, alltäglichen Dingen liegt nach Foucault die Weisheit fortschreitender Erkenntnis und Einsicht, die spirituell genannt werden kann (Roos 2006, 235).

Egotrip und Nabelschau, so lautet ein liebgewonnener Vorwurf in Richtung Selbsterfahrung und Selbstkontakt, besonders im Umfeld traditioneller, spiritueller Gemeinschaften. Therapeutische, spirituelle Selbsterfahrung ist letztlich jedoch kein egozentrisches Kreisen um sich selbst. Die Wendung von einer einseitigen Außenorientierung hin zu einer stärkeren Innenorientierung setzt (dann) auch wieder Impulse nach außen frei, nämlich authentische, reife, soziale Kontakte und Verbindlichkeiten oder auch nur, dass Menschen wieder »endlich normal« werden, wie das die Mystikerin Teresa von Avila genannt hat (Kaiser 2005, 256).

Die Gefahr einer privatisierten Innerlichkeit ist selbstverständlich gegeben: Die populären, wirtschaftlichen Ich-AGs in Deutschland, die gesellschaftliche Realität der Single-Haushalte, die kultursoziologische Etikettierung der Gesellschaft als »Erlebnisgesellschaft« (Schulze 1992) oder als Ellenbogengesellschaft mögen zwar einen überzogenen (Spaß-) Individualismus suggerieren, doch sind diese sozialen Phänomene noch lange kein Argument gegen eine individuelle, authentische Spiritualität. Diesbezüglich mag die Aussage der sozial engagierten evangelischen Theologin Dorothee Sölle reichen, die angesichts einer drohenden individualisierten Spiritualität moniert: »Was dabei fehlt, ist eine Art Verbindlichkeit der inneren Beziehung zu uns selbst, zu unserem Nachbarn, zur Tradition und zur Geschichte« (Sölle 1997, zit. n. Obermüller 2005, 113). Kurzum: Die Wende zum Ich, zu Eigen-Erfahrungen mit Transzendenz kann als geschichtlicher Prozess gut nachvollzogen werden, schließt aber eine Einbindung in eine gemeinsame Lebenswelt nicht notwendigerweise aus. Die »Ich-Jagd im Unabhängigkeitsjahrhundert« (Gross 1999) scheint sich aufzulösen.

»Das göttliche Du hilft dem menschlichen Ich, immer prononcierter Ich zu sein« – diese pointierte Formulierung von Georg Schmid (2005, 59) in der Tradition Bubers lässt sich mit dem Kontaktgedanken nicht bloß auf eine wie auch immer gefasste Transzendenz beziehen. Eine spirituelle Erfahrung – das belegen einige qualitative Studien – wird möglich im Kontakt zu uns selbst, zu einem freundschaftlichen Du, sei es Partner, Freund, Freundin oder einer (auch lediglich »gedachten«) Transzendenz; im Kontakt zu einem Wir, in Freundesgruppen, Familie; im Kontakt mit der Natur und dem Kosmos (im Schaudern vor seiner Unendlichkeit und Größe etwa). Gegenüber religionskritischen Projektionseinwänden ließe sich erwidern: Es ist nicht wesentlich, ob dieses unendliche Du sich als Projektion entlarvt. Denn, sekundiert Schmid (ebd., 59f): »Sogar ein projiziertes göttliches Du würde uns wieder als Person herausfordern und uns helfen, ganzheitlicher Person zu sein«.

Hier möchte ich auch auf die philosophischen Ausführungen von Wilhelm Schmid hinweisen, der – im Sinne einer Erweiterung des Feldes – von der notwendigen Einbeziehung einer Transzendenz als einer möglichen menschlichen Erfahrung spricht, unabhängig ob es sie gibt oder nicht (Schmid 2007). Denn Transzendenz, auch als bloße Hypothese, bricht immer schon den eigenen endlichen Lebenshorizont auf.

Zwischen Liebe und Erkenntnis. Rutishauser (2005, 189) bringt eine überlegenswerte Auffassung von Spiritualität ins Spiel, die er dem Konzept der philosophia perennis, der ewigen Philosophie, entgegenstellt. Im Anschluss an Karl Rahner stellt er eine Konzeption von Spiritualität vor, die einen Gegenpol beschreibt zu einer spirituellen, hierarchischen Stufenlogik, deren Ziel Erkenntnis ist. Nach Rahner besteht Spiritualität in einer »existentiellen Vertiefung der personalen Akte des Menschen – des ganzheitlichen Wahrnehmens, des Handelns aus innerer Freiheit, des Vertrauens auf die Kraft der Transzendenz«. In dieser Vertiefung existentiellen Erlebens, in der Ausrichtung auf authentisches, kongruentes Handeln und Leben zielt Spiritualität nicht auf Erkenntnis, sondern auf Liebe ab. Stimmig an diesem Konzept ist das Ernstnehmen der Entwicklung des Menschen: »Von Lebenssituation zu Lebenssituation wird dabei die Dynamik, Entwicklung und Reifung des Individuums ernst genommen« (ebd.; vgl. auch Hundt 2007, 84).

Zum Schluss, aber nicht als Schlusslicht – Betroffenheit. Im Rahmen meiner Definition von Spiritualität möchte ich noch auf drei für mich wesentliche Kernaspekte hinweisen, die auch Kerngedanken der Philosophie sind: Spiritualität hat zu tun mit Erfahrung, mit Staunen und mit Zweifeln (Anzenbacher 2002, 18).

Die hier vorgestellte »Skizze« von Spiritualität ist die Grundlage, auf der alle weiteren Überlegungen des Buches basieren. Innerhalb meines Ansatzes geht es also immer um verschiedene Erfahrungen, Erfahrungswege. Es gibt nicht den einen spirituellen Weg, sondern viele, individuelle Wege, die sich in den Zeitspannen einer menschlichen Biografie auch verändern. Nun werde ich Spiritualität inhaltlich aufschlüsseln anhand der religiösen Urfragen und der Frage nach Sinn.

 

2. Die Urfragen der Menschheit

»Sind aber die in echter Religion zur Erfüllung kommenden Wünsche

nicht gerade deshalb die ältesten, stärksten, dringendsten,

weil sie alle Sektoren menschlicher Wirklichkeit durchstoßen,

sie umfassen, ja, die Eindimensionalität menschlicher Teilbereiche

im wörtlichen Sinne transzendieren? Hin auf eine letzte Tiefe

und Unbedingtheit, kurz, hin auf die Dimension des Absoluten?

Religion hält die Fragen nach dem Sinn des Ganzen von Menschenleben

und Weltgeschichte wach (und beantwortet sie auf je verschiedene Weise),

Fragen, die durch partielle Sinnerfahrung in Teilbereichen

nicht zum Stillstand zu bringen sind.«

(Hans Küng 1987, 124f)

»An der Börse wie im Leben […] habe ich häufig die richtige Antwort,

nur muss ich die richtige Frage dazu finden.«

(André Kostolany)

»Sich und die Welt so zu sehen, ist nicht wahrer, sondern besser,

befriedigender, wenn man sich mit der Flüchtigkeit und Wertlosigkeit

des gewöhnlichen Lebens konfrontiert.«

(Ernst Tugendhat 2005, 102)

In welchen »Räumen« kann Spiritualität wachsen und gedeihen? Mit welchen Fragestellungen oder Themen wird Spiritualität charakterisiert? Bereits der Psychologe Elkins hat – neben den traditionellen Religionen – auf andere, gleichwertige Wege, Transzendenz zu erfahren, hingewiesen: Kunst, Erotik, Beziehungen, existenzielle Krisen, Natur, Seelenheilkunde (van Quekelberghe 2005, 21). Auch die europäische Theologie spricht von unterschiedlichen Erfahrungs-Wegen. Ein erster, der so genannte kataphatische, positive Weg erkennt Gott im Sichtbaren der Schöpfung. Daneben gibt es den apophatischen Weg, den der Verneinung, des Nicht-Wissens (Hundt 2007, 37; Scharfetter 1997, 19f).

Wer bin ich? Die uralte Frage der Identität. Diese Frage ist alt und zieht sich gleichsam wie ein murmelndes Mantra an der Oberfläche des Denkens durch die Menschheitsgeschichte. Die Antwort auf die stets gleiche Frage hat Auswirkungen darauf, wie wir als Menschen unser Leben einschätzen und beurteilen. Andere Fragen über unser Leben umkreisen diese Frage, wie z.B. die Gestaltung von Alltag und Zukunft oder die Frage nach dem Tod und der Sinnhaftigkeit, um nur einige zu nennen. Ob wir Menschen unser Leben als gelungen oder als sinnvoll bezeichnen, entscheidet in der Moderne mehr denn je der Einzelne, nicht die Gesellschaft, nicht die Kirchen.

Keen (1996, 37–50) vergleicht die Entwicklung einer intrinsischen Spiritualität mit einer Reise nach innen und füllt den Reisekatalog inhaltlich mit den religiösen Ur-Fragen der Menschheitsgeschichte und Religionen: Was wünsche ich? Warum gibt es etwas statt nichts? Wer bin ich? Kann ich lieben? Bin ich frei? Woran leide ich? Was wäre ich, wenn ich geheilt wäre? Welche Hilfe gibt es wirklich? Wer sind meine Freunde? Was ist das Böse? Hat mein Leben wirklich einen Sinn? Wie heilen wir die Erde?

Persönliche Fragen – wissenschaftliche Antworten? Diese grundlegenden Lebensfragen werden Menschen letztlich nicht wissenschaftlich beantworten können. Das ist wohl gut so. Ihre Eigenheit ist es, dass sie von jedem Einzelnen neu gestellt sowie einer Antwort zugeführt werden müssen, um authentisches, sinnvolles Leben zu bewirken, vielleicht gar erst zu ermöglichen.

Philosophie, Religionen oder Spiritualität vermögen mögliche Antworten aufzuzeigen und anzubieten, Antworten, die das einzelne Individuum aufgreifen und mit denen es sich existentiell auseinandersetzen kann. In einer existentiellen Therapie kommen diese Menschheitsfragen zu Wort und nehmen Raum ein: Wie ist meine Existenz? Leer, versäumt, erfüllt? Was ergibt für mich Sinn? Wie gehe ich mit Freiheit und Verantwortung, mit dem Bewusstsein der Endlichkeit und dem Wunsch nach Weiterleben um? Wie mit Isolation, Einsamkeit und Autonomie (vgl. Yalom 2000b)?

Keen (1996, 49) bezeichnet diese Fragen als ewig, ontologisch, als essentiell zur conditio humana gehörig. Wenn wir uns diesen Fragenkatalog vergegenwärtigen, den der Autor keinesfalls als eine endgültige, normativdogmatische Version versteht und der also ausbaubar ist, finden wir in dieser Aufzählung viele Fragen, auf die die Psychotherapie in ihrer praktischen Arbeit mit dem Menschen sehr wohl eingeht. Hier wird Psychotherapie zur Arbeit mit und an der Seele.

Übersichtlich und überschaubar, kombiniert mit den »ewigen Erfahrungen der Menschen« verdeutlicht Keen (1996, 51) in einem Schaubild diese Fragen. Er verknüpft sie mit Gefühlen und Erfahrungen, die wohl jedem Therapeuten oder jeder Beraterin aus der eigenen Praxiserfahrung bekannt sein mögen: Natur, Kontingenz, Heilung, Sinn, Hingabe, Abschied, Trauer, Zorn, Verzweiflung, Liebe und vor allem die nagende Frage nach dem »Warum jetzt?«, »Warum mir?«.


Abb. 4: Die ewigen ontologischen Fragen nach Keen 1996 (leicht verändert)

3. Die Frage nach Sinn

»Spiritualität sucht nach der Sinnhaftigkeit der Welt und setzt voraus,

dass Sinn, Tiefe oder Verbundenheit erlebt werden können.«

(Samuel Leutwyler 2005, 14)

»Die Freiheit als Befreiung macht eine eigene Lebensführung erst

zur Notwendigkeit. Denn das ist die Situation des modernen Individuums:

Frei zu sein von religiöser Bindung, denn es ist auf keine Religion

mehr festgelegt, auf kein Jenseits mehr vertröstet –

mit der Folge, auf kleine und große Lebens- und Sinnfragen

nun selbst Antworten finden zu müssen.«

(Wilhelm Schmid 2007, 11f)

»[S]ich mit nichts Endlichem zufrieden geben zu können, heißt ›Religion‹.

Denn das Wort ›Religion‹ kommt vom lateinischen Wort ›religare‹,

was mit ›sich zurückbinden‹ oder ›anbinden‹ übersetzt werden kann.

›Angebunden‹ ist der Mensch im Sinne der Religion an die Idee

eines nicht-endlichen vollkommenen Glücks,

an die Idee einer letzten Harmonie und eines letzten Sinnes,

was in der Sprache der Religionen seit Jahrtausenden

mit dem Wort ›Gott‹ bezeichnet wird. […]

Ob diese Idee eines vollkommenen Glücks und einer letzten Harmonie mehr ist

als eine Wahnidee, eine Krankheit des Menschen, mag dahingestellt bleiben.«

(Alexander Schmidt 2002, 23f)

Die Frage nach Sinn in der Moderne. Mit der zunehmenden Fragmentierung in unterschiedliche gesellschaftliche Lebensbereiche kam es zu einer »Zersetzung von Gesamtzusammenhängen« (Rutishauser 2005, 186; vgl. auch Schmid 2007; Horx 2005b; Hundt 2007). Die ehemals relativ einheitliche, geschlossene Gesellschaft hat sich zersplittert und aufgelöst in zahlreiche, individuelle Milieus und Kleinwelten oder in situative, virtuelle Netzwerke globalisiert und verflüchtigt. Am Beginn des 21. Jahrhunderts stehen dem Einzelnen prinzipiell eine Vielfalt von Möglichkeiten und möglichen Lebenswelten zur Verfügung, so dass bereits von einer »Bastelexistenz« gesprochen wurde (Hitzler & Honer 1994).

Angesichts der vorgefundenen Komplexität der Welt fällt es dem Individuum schwer, diese als sinnhaft zu erfahren. Mit der Aufsplitterung und Segmentierung in spezielle Teilgebiete und der Suche nach Zusammenhängen treten die menschlichen Urfragen nur noch deutlicher zu Tage, nämlich »die spezifische Auseinandersetzung mit den letzten Fragen nach dem Woher und Wohin von Mensch und Welt, nach den letzten Werten und vor allem nach dem Sinn des Ganzen, des Lebens. Diese religiösen Fragen werden in der Spiritualität in ihrer existentiellen Bedeutung für das Individuum neu gesucht, um einem drohenden Nihilismus zu entgehen« (Rutishauser 2005, 186; vgl. auch Horx 2005b; Schmid 2007). Denn diese »Fragen aller Fragen« blieben – trotz Aufklärung, Wissenschaft und Fortschritt – unbeantwortet (Obermüller 2005, 111).

Der Zukunftsforscher Duane Elgin (1999, n. Hundt 2007, 30) prognostizierte anhand von Untersuchungen ein neues Weltbild, das sich dermaßen vom 20. Jahrhundert unterscheidet, wie vormals das mittelalterliche vom neuzeitlichen Paradigma. Charakteristika sind u.a. ein steigendes Bewusstsein im Bereich der Ökologie, der Wert einer sinnvollen Tätigkeit sowie ein »wachsendes Interesse an einer persönlichen Sinnfindung und eine engere Verbundenheit zwischen Spiritualität und alternativer Spiritualität«.

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