Nietzsche leicht gemacht

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2 Die Moral des Erkennens
2.1 Ethik als Kantkritik

Der Stand des philosophischen Denkens, auf dem ­Nietzsche die Frage nach dem aufnimmt, was ‚gut‘ und ‚böse‘ genannt werden soll, war durch Kant und Hegel bestimmt. Aber Ethik hieß für ­Nietzsche keineswegs nur das philosophische Nachdenken über ein vernünftig ausweisbares und deshalb richtiges Handeln. Er fasste unter diesem Titel auch die Grundlagen dessen zusammen, was er in der Geschichte des Abendlandes als wirksam für die moralischen Orientierungen der Menschen erkannte, also vor allem das Denken, das er als ‚christlich‘ bezeichnete. Dagegen nimmt die Auseinandersetzung mit der philosophischen Ethik sogar einen relativ geringen Stellenwert ein. Worum es ihm ging, war in erster Linie der Wert der Moral selbst:

„wir haben eine Kritik der moralischen Werte nötig, der Wert dieser Werte ist selbst erst einmal in Frage zu stellen – und dazu tut eine Kenntnis der Bedingungen und Umstände not, aus denen sie gewachsen, unter denen sie sich entwickelt und verschoben haben (Moral als Folge, als Symptom, als Maske, als Tartüfferie, als Krankheit, als Missverständnis; aber auch Moral als Ursache, als Heilmittel, als Stimulans, als Hemmung, als Gift.)“ (G VI-2, 265)

Aber wenn wir ­Nietzsche als Philosophen verstehen, so wird er sich in irgendeiner Weise in ein Verhältnis zu dem setzen müssen, was vor ihm gedacht wurde. Und in der Tat baut ­Nietzsche doch auf dem auf, was er aus der Geschichte der Philosophie vorgefunden hat – explizit vor allem auf Kant, und man kann mit gutem Recht dafür argumentieren, dass er das negative Ergebnis der Kantischen Moralkritik besser verstanden hat als manche Denker, die auf dem kargen Rest, den Kant für eine vernünftige Moral übriggelassen hatte, ein ganzes moralphilosophisches Regelwerk aufbauen wollten.

Kant war von der Einsicht ausgegangen, dass sich aus dem Sein kein Sollen ableiten lässt und hatte die Ethik deshalb von allen auf ‚ontischen‘ Einsichten beruhenden Gedankengängen befreit. Nur so konnte er sie in den Plan einer umfassenden ‚Kritik‘ der Vernunft einstellen, in der die Grenzen und damit der ganze Umfang der

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Vernunft nicht nur auf dem Gebiet des Wissens, sondern auch auf dem Gebiet dessen, was wir als ‚gut‘ bezeichnen können, genau beschrieben werden sollten. Er kam auf diese Weise auf zwei Ausgangsbedingungen für eine Ethik, die innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft operieren kann. Zum einen (1) kann nur der Wille ‚gut‘ genannt werden, denn nur dann, wenn wir uns auf diesen beschränken, geraten wir nicht in die Gefahr, dass das, was wir vielleicht zunächst als ‚gut‘ zu bezeichnen geneigt sind, durch die Folgen in der Welt sich als in Wahrheit ‚schlecht‘ herausstellen kann. Etwa könnten wir eine uneigennützige Handlung als ‚gut‘ bezeichnen. Aber wir wissen nie, was für Folgen aus dieser Handlung entstehen – sie mag zwar ganz und gar altruistisch gewesen sein, aber ihr Nutznießer setzt den empfangenen Vorteil vielleicht so ein, dass daraus größere Nachteile für andere Menschen entstehen.

Daraus ergibt sich, dass wir nur einen ‚reinen Willen‘ gut nennen dürfen, wenn wir nach dem suchen, was wir ganz und gar gut heißen können. Aber dieser Wille muss doch so bestimmt werden, dass wir ihn beurteilen können. Im einzelnen Fall mag dies schwierig sein, weil man nie so genau wissen kann, wodurch eine bestimmte Person in einer bestimmten Situation ihren Willen bestimmt. ‚Gut‘ können wir deshalb (2) nur eine ‚Maxime‘ nennen, also einen mehr oder weniger allgemeinen Handlungs- oder Verhaltensgrundsatz, mit dem eine Person die Richtschnur für das angibt, was sie in vielen ähnlichen Fällen tun will, die in dieser Maxime auf eine allgemeine Weise angegeben sind. Eine sehr allgemeine Maxime wäre etwa: ‚Du sollst nicht lügen.‘ oder auch ‚Du sollst einen entliehenen Gegenstand wieder zurückgeben‘.

Eine ethische Qualität gewinnt eine solche Maxime allerdings erst, wenn sie auf eine besondere Weise geprüft wird. Dieses Prüfverfahren ist der entscheidende Gedanke, mit dem Kant seine ‚deontische‘ Ethik begründet, mit der die Grenzen der reinen Vernunft auf dem Gebiet der Praxis, also der Frage nach dem richtigen Tun und Lassen, angegeben werden sollen. Wir können den Gedankengang an dieser Stelle sehr stark abkürzen und uns darauf beschränken zu sagen, dass Maximen dadurch auf ihre Vernünftigkeit geprüft werden können, dass ihre Verallgemeinerungsfähigkeit (Universalisierbarkeit) untersucht wird. Etwa wäre die Maxime des Lügens deshalb nicht verallgemeinerungsfähig, weil es keine Wahrhaftigkeit und deshalb auch keine Lügen mehr geben könnte, würde sie universell angewendet – sie würde also ihre eigene Grundlage zerstören und könnte deshalb nicht aufrechterhalten werden. Genau diese Prüfung auf Verallgemeinerungsfähigkeit drückt Kant in den verschiedenen Formulierungen des ‚Kategorischen Imperativs‘ aus, etwa in der berühmten Gestalt ‚Handle so, dass die Maxime deines Handelns gleichzeitig zur Richtschnur einer allgemeinen Gesetzgebung dienen könnte‘.

­Nietzsche hatte dagegen einige grundsätzliche Einwände, und in ihnen werden einige ebenso grundsätzliche Facetten seines eigenen Denkens über Ethik und darüber

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hinaus sogar noch seines Denkens über Wissen und Wahrheit deutlich. Kants Ethik verlange vom einzelnen „Handlungen, welche man von allen Menschen wünscht: das war eine schöne naive Sache; als ob ein Jeder ohne weiteres wüsste, bei welcher Handlungsweise das Ganze der Menschheit wohlfahre, also welche Handlungen überhaupt wünschenswert seien.“ (MA IV-2, 42) Nun ist für jeden, der mit Kants Ethik etwas näher vertraut ist, deutlich sichtbar, dass ­Nietzsche hier einem nicht ganz seltenen Missverständnis unterlag. Es geht in dieser Ethik keineswegs um die ‚Wohlfahrt‘ des ‚Ganzen der Menschheit‘ – sie ist keine Optimierungslehre für das allgemeine Wohl, sondern sie zieht die Verallgemeinerungsprüfung heran, um die Vernünftigkeit einer Maxime prüfen zu können. Es geht also nicht darum, dass mit einer Maxime, die das Lügen erlaubt, Menschen schlechter leben würden, sondern es geht darum, dass sich eine solche Maxime selbst widersprechen würde: sie würde das Lügen erlauben, aber gleichzeitig das Lügen unmöglich machen – wenn alle lügen, kann man von einem bestimmten Menschen nicht mehr sagen, er lüge, denn dies würde voraussetzen, dass Menschen in der Regel wahrhaftig sind.

Aber wer etwas genauer hinsieht, der erkennt im Hintergrund dieses Einwands ein anderes Problem, und dieses führt in der Tat ins Zentrum von ­Nietzsches Denken. Er weist darauf hin,

„dass es weder gleiche Handlungen gibt, noch geben kann – dass jede Handlung, die getan worden ist, auf eine ganz einzige und unwiederbringliche Art getan wurde, und dass es ebenso mit jeder zukünftigen Handlung stehen wird, – dass alle Vorschriften des Handelns sich nur auf die gröbliche Außenseite beziehen (…) – dass mit ihnen wohl ein Schein der Gleichheit, aber eben nur ein Schein erreicht werden kann, – dass jede Handlung, beim Hinblick oder Rückblick auf sie, eine undurchdringliche Sache ist und bleibt, – dass unsere Meinungen von ‚gut‘, ‚edel‘, ‚gross‘ durch unsere Handlungen nie bewiesen werden können, weil jede Handlung unerkennbar ist.“ (F V-2, 243)

Wir können hier davon absehen, dass Kant eigentlich auf die Angabe zielt, was einen guten Willen ausmacht, nicht eine gute Handlung, denn ­Nietzsches Einwand ist von dieser Unterscheidung unabhängig. Eine Maxime erhebt auf jeden Fall einen Anspruch auf Allgemeinheit, d. h. sie will eine Regel für viele Fälle angeben, und nur, wer will, dass die auf Universalisierbarkeit geprüfte Regel für alle Fälle gilt, die unter ihre Kriterien fallen, kann beanspruchen, dass sein Wille ‚gut‘ ist. Wer die Maxime akzeptiert ‚Du sollst nicht lügen‘, muss bereit sein, viele Verhaltensweisen unter den einen Begriff der ‚Lüge‘ zu subsumieren. Die Vorstellung von ‚gleichen‘ Handlungen

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wie etwa die ‚Sprachhandlungen‘ der Lüge ist also auch dann nötig, wenn nach Kant nur ein Wille als ‚gut‘ ausgezeichnet werden kann. Genau diese Vorstellung ist nach ­Nietzsche aber eine Illusion – ein ‚Schein‘, mit dem wir uns von der Wirklichkeit entfernen bzw. mit dem wir die Wirklichkeit ‚fälschen‘, auch wenn dies an der genannten Stelle nicht so deutlich gesagt wird. Die ‚wirkliche‘ Handlung, wie sie individuell in der Welt geschieht, ist also durch die Allgemeinheit, unter die sie subsumiert wird, nicht erkannt, so dass: „sicherlich unsere Meinungen, Wertschätzungen und Gütertafeln zu den mächtigsten Hebeln im Räderwerk unserer Handlungen gehören, dass aber für jeden einzelnen Fall das Gesetz ihrer Mechanik unnachweisbar ist.“ (F V-2, 243)

Dieser ‚Schein‘ am Grunde des kategorischen Imperativs und seiner Forderung nach Verallgemeinerungsfähigkeit führt nun auf einen Gedanken zurück, der wiederum in ­Nietzsches Philosophieren eine zentrale Stelle einnimmt. Die Kritik lautet nämlich nicht nur, dass hier ein ‚Schein‘ von Gleichheit vorausgesetzt wird. Sie bezieht sich auch auf ein bestimmtes Motiv, das ­Nietzsche mit dem Universalisierungskriterium und der damit unterstellten Vorstellung einer scheinbaren Gleichheit in der wirklichen Verschiedenheit von Handlungen verbunden sieht:

„Selbstsucht nämlich ist es, sein Urteil als Allgemeingesetz zu empfinden; und eine blinde, kleinliche und anspruchslose Selbstsucht hinwiederum, weil sie verrät, dass du dich selber noch nicht entdeckt, dir selber noch kein eigenes, eigenstes Ideal geschaffen hast, – dies nämlich könnte niemals das eines Anderen sein, geschweige denn Aller, Aller! – – Wer noch urteilt ‚so müsste in diesem Falle Jeder handeln‘, ist noch nicht fünf Schritt weit in der Selbsterkenntnis gegangen.“ (F V-2, 242)

 

Das ist sicher ein Einwand, der Kant sehr fremd gewesen wäre. ­Nietzsche operiert hier mit einem Gedanken, den man als Ergebnis des Prinzips einer ‚Motivforschung‘ in Sachen moralphilosophischer Argumentation auffassen könnte. Ein bestimmtes Motiv für einen Gedanken muss aber offenbar noch keineswegs einen Einwand gegen diesen Gedanken darstellen. Dies gilt auch dann, wenn die Motive möglicherweise nicht ehrbar und anständig sind, sondern, wie ­Nietzsche formuliert, nicht nur der negativen Haltung der ‚Selbstsucht‘ entstammen, sondern sogar noch einer solchen, die ‚blind‘, ‚kleinlich‘ und ‚anspruchslos‘ sein soll. Kant könnte dagegen natürlich sehr leicht vorbringen: ‚mag ja sein, aber ist das Moralprinzip des kategorischen Imperativs deshalb falsch?‘ Im Rahmen seines Denkens müsste ihm hier jeder zustimmen, denn auch mit unehrenhaften Motiven kann man zu wahren Erkenntnissen kommen, m. a. W.: die Genesis einer Erkenntnis besagt nichts gegen ihre Geltung, mit noch

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anderen Worten: die Kriterien, mit denen man eine Einsicht auf ihre Geltung prüfen kann, sind vollständig unabhängig von den Kriterien, mit denen man ihr Zustandekommen bzw. ihre Genesis überprüft.

An dieser Stelle müssen wir also eine Inkompatibilität zwischen dem Vorgehen Kants in seiner Ethik und dem Argumentieren ­Nietzsches in seiner Moralkritik (und hier zunächst in der Kritik an Kant) feststellen, die weit über eine Verschiedenheit ethischer Entwürfe – also der ‚Ergebnisse‘ – hinausgeht und eine grundsätzliche Unterscheidung in der Art des Denkens und Argumentierens nicht nur in der Philosophie des ‚Richtigen‘, also der Praxis, sondern auch in der Philosophie des ‚Wahren‘, also der Theorie andeutet. Wir haben hier eine Besonderheit der Philosophie vor uns, mit der sie sich zunächst ganz entscheidend von dem Argumentieren in der Wissenschaft unterscheidet. In der Regel stellt sich die Entwicklung in den Wissenschaften als ein Fortschritt durch bessere Ergebnisse dar, die sich gerade durch den besseren Einsatz der gleichen Begründungsmethode als vergleichbar mit früheren Befunden erweisen, wie dies etwa der Fall ist, wenn neue Experimente zu einer Revision früherer Erkenntnisse führen.

Beim näheren Hinsehen lässt sich die Entwicklung der Wissenschaften jedoch nur bis zu einem gewissen Grade auf diese Weise beschreiben. Dies wurde vor allem von Thomas S. Kuhn in seiner Theorie vom Paradigmenwechsel im wissenschaftlichen Fortschritt beschrieben. Danach gibt es in der Tat in vielen Wissenschaften lange Perioden, in denen auf der Grundlage einer als unproblematisch aufgefassten Verpflichtung auf Methoden, Begründungsformen, typischen Arbeitsweisen und eines gewohnten ­Stiles der ‚Wissenschaftlichkeit‘ neue Ergebnisse gefunden werden, die innerhalb dieses ‚Paradigmas‘ als Fortschritt bezeichnet werden. Dies funktioniert jedoch dann nicht mehr, wenn es zu Paradigmenwechseln kommt, in denen die Methoden, Begründungsformen, Arbeitsweisen und selbst der wissenschaftliche Stil verändert werden. Was dann in einem neuen Paradigma als Fortschritt betrachtet wird, hätte sich im alten Paradigma keineswegs so darstellen müssen, und es gibt kein übergeordnetes und absolut geltendes Kriterium, mit Hilfe dessen unabhängig von den Paradigmen darüber entschieden werden könnte.

Wenn wir ­Nietzsches Kritik an Kants Ethik – also die Perspektive auf die ‚Ungleichheit‘ und auf die ‚Selbstsucht‘ versus die Universalisierung – betrachten, so gibt es ganz analog zu einem Paradigmenwechsel kein gemeinsames Kriterium, mit Hilfe dessen aus übergeordneter Warte über die Richtigkeit der beiden unvereinbaren Argumentationsweisen entschieden werden könnte. Im Grunde sind wir nun mit neuen Kritik- bzw. Begründungsformen konfrontiert, wenn wir ­Nietzsches Kritik an der vorausgesetzten Gleichheit in der Welt der Handlungen und an der ‚Selbstsucht‘ betrachten, die er dann wirken sieht, wenn gefordert wird, das Urteil ‚als Allgemeingesetz‘ zu empfinden,

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um es als moralisches Gesetz und gerechtfertigte Richtschnur des Handelns auffassen zu können. Es wird sich allerdings zeigen, dass es gerade ­Nietzsche gelingt, auch auf diese Inkompatibilität zwischen Begründungsformen zu reflektieren und eben diese Reflexion zum Teil des eigenen Philosophierens zu machen, auch wenn man zugeben muss, dass diese Ebene sich nicht immer ohne gedankliche Anstrengung aus ­Nietzsches bisweilen plakativen Formulierungen deutlich machen lässt. Darauf werden wir später noch ausführlicher eingehen.

Um diese Ebene in ­Nietzsches Philosophieren erkennen zu können, sollte jedoch ein möglicherweise naheliegendes Missverständnis ausgeräumt werden. Wenn ­Nietzsche von der Motivation der ‚Selbstsucht‘ aus die Ethik des kategorischen Imperativs kritisiert, so könnte man darin den Versuch sehen, diejenige Wissenschaft gegen die Moralphilosophie zur Geltung zu bringen, zu deren Gegenstandsbereich Motivationen und auch Haltungen wie ‚Selbstsucht‘ zu gehören scheinen, nämlich die Psychologie. Dies liegt natürlich bei einem Philosophen besonders nahe, der sein Vorgehen auf dem Gebiet der Ethik selbst als ‚Psychologie‘ bezeichnet – worauf wir später noch etwas näher eingehen werden. Wir sollten uns aber schon hier fragen, in welchem Sinne hier von Psychologie die Rede sein kann. Es bieten sich vor allem zwei Auffassungsweisen an.

Zunächst war die Philosophie viele Jahrhunderte lang zum großen Teil tatsächlich Psychologie, allerdings in einem ganz anderen Sinne, als es unserem Begriff von Psycho­logie als akademischem Fach entspricht. Es handelte sich um einen Bereich des Denkens, den Kant schließlich als ‚rationale Psychologie‘ bezeichnete. Hier ging es darum, auf rein vernünftige Weise etwas über den Menschen und seine ‚Seele‘ herauszufinden – ‚rein vernünftig‘ heißt dabei natürlich: ohne Berufung auf empirische Erkenntnisse, also auf der Grundlage dessen, was Kant schließlich als ‚apriorisch-­synthetische‘ Erkenntnisse auf den Begriff brachte, d. h. solcher Einsichten, die unser Wissen erweitern, ohne dass wir dabei Bezug auf die uns Menschen mögliche Erfahrung von etwas von uns Unabhängigem nehmen müssten. Deshalb galt eine ­solche Psychologie auch als spezieller Teil der Metaphysik bzw. Ontologie – also einer Erkenntnisweise aus reiner Vernunft, deren Einsichten sich nicht durch den Bezug auf empirische Befunde ausweisen müssen.

Eine solche Psychologie hatte Kant in der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ einer vernichtenden Kritik unterzogen, und wir sollten nicht daran zweifeln, dass ­Nietzsche ihm hier voll und ganz folgt. Nach dieser Kritik können wir auf diesem Gebiet durch reine Vernunft überhaupt keine Erkenntnis gewinnen, denn auf rein vernünftige – also nicht-empirische – Weise können wir überhaupt nur etwas über unsere eigene Erkenntnisfähigkeit ausmachen. In dieser Beschränkung der vernünftigen Erkenntnis bestand gerade Kants epochale Einsicht über die Begrenztheit der reinen Vernunft.

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Eine rein vernünftige Einsicht können wir nur dann finden, wenn wir die Bedingungen der Möglichkeit unserer Erfahrung dort kennenlernen, wo sie gleichzeitig die Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände unserer Erfahrung sind. Darüber hinaus bleiben uns nur die Erkenntnisse aus der Erfahrung, welche allerdings nie endgültig gewiss sein können, weshalb wir uns auf die Befunde der empirischen Wissenschaften verlassen müssen, ohne dass wir darin notwendige und allgemeingültige Wahrheiten erwarten sollten – es sind problemlösende Einsichten, die vom Stand unseres Denkens und unserer Probleme abhängen und sich deshalb nicht auf eine ‚Welt an sich‘ beziehen können.

Eine dieser empirischen Wissenschaften ist die Psychologie, und damit sind wir bei der zweiten sich nahelegenden Auffassungsweise von ­Nietzsches Verfahren, das wir in der Kritik an Kants Moralphilosophie am Werke sehen können und das ­Nietzsche selbst als ‚Psychologie‘ beschrieb, was wir zunächst vergeblich mithilfe der älteren philosophischen Disziplin einer ‚rationalen Psychologie‘ zu verstehen versucht hatten. Wäre jedoch ‚empirische Psychologie‘ die richtige Verständnisweise für ­Nietzsches Verfahren, so müssten wir allerdings aufhören, ­Nietzsches Denken als Philosophie zu beschreiben, denn die Herstellung eines Zusammenhangs zwischen ethischen Grundsätzen mit der Abzielung auf eine Kritik an der Kantischen Ethikkonzeption müsste in diesem Fall letztlich auf eine empirische Überprüfbarkeit der Ethik verweisen. ­Nietzsche könnte sich höchstens noch mit dem Verweis auf wichtige Strömungen in der sog. Tiefen­psychologie herausreden, wo von ‚Psychologie‘ die Rede ist, obwohl empirische Evidenzen grundsätzlich weniger gelten sollen als die hehren Intuitionen von Autoritäten. Aber wichtiger ist natürlich die Einsicht, dass ­Nietzsche den Hinweis auf jene Motivation einer zu ‚blinden‘, ‚kleinlichen‘ und ‚anspruchslosen‘ Selbstsucht als Kritik am kategorischen Imperativ vorbringt. Das gerade wäre nicht möglich, wenn er eine Psychologie im Sinne der heute unter diesem Titel bekannten empirischen Wissenschaft zugrundelegen würde; diese nämlich könnte nur empirische Zusammenhänge feststellen, nicht aber eine Kritik an einer bestimmten Grundlegung von Sollensforderungen leisten.

Worauf stützt sich ­Nietzsche also eigentlich in seiner Kritik? Und was sollen wir unter jener ‚Psychologie‘ verstehen, die er dabei einsetzt, wenn es sich weder um ratio­nale bzw. apriorische noch um empirische bzw. aposteriorische Psychologie handeln kann, und wenn diese Psychologie in der Lage sein soll, nicht nur in der Wirklichkeit bestehende Zusammenhänge zwischen Phänomenen aufzudecken, sondern geeignet sein soll, die Geltungsansprüche einer immerhin nicht ganz bedeutungslosen Moralphilosophie zu bestreiten, womit sie selbst zumindest einen negativen Geltungsanspruch erhebt und sich eben nicht auf die Beschreibung und Erforschung der Genesis

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beschränken will? Es scheint, dass ­Nietzsche sich hier auf eine sehr ungewöhnliche Argumentationsform stützt, die inkompatibel zumindest mit dem Kantischen Vorgehen ist, obwohl sie doch eine Kritik des letzteren zu leisten beansprucht. Für ein Verständnis von ­Nietzsches Philosophie wird es also von großer Bedeutung sein, dass wir diese merkwürdige Psychologie näher untersuchen.

Zunächst aber sollten wir noch einen Blick auf die ‚positive‘ Seite in ­Nietzsches Kritik an Kants Ethik werfen. Jene ‚Selbstsucht‘, die er dieser Ethik vorwirft, enthält nämlich einen speziellen Mangel, aus dem die Falschheit einer darauf aufbauenden Moralphilo­sophie entsteht – womit ­Nietzsche also keineswegs einer universellen ‚Selbstlosigkeit‘ das Wort redet; es wird sich vielmehr zeigen, dass eine solche ‚Selbstlosigkeit‘ sogar ein weiteres Element von ­Nietzsches Kritik der Ethik darstellt, allerdings nun nicht bezogen auf Kants Ethik, sondern auf die Ethik des Christentums, die er unter den generellen Titel einer ‚Ethik des Mitleidens‘ stellt (was eine Reaktion auf den Einfluss Schopenhauers darstellt, auf den wir aber nicht eingehen werden). Wir hatten schon darauf hingewiesen, dass jene ‚Selbstsucht‘ nach ­Nietzsche deshalb falsch ist, weil sie ‚blind‘, ‚kleinlich‘ und ‚anspruchslos‘ ist. Viel später bringt er gegen Kant als Moralist vor: „Eine Tugend muss unsre Erfindung sein, unsre persönlichste Notwehr und Notdurft: in jedem andren Sinne ist sie bloss eine Gefahr.“ (A VI-3, 175) An dieser Stelle fährt er fort, von den „tiefsten Erhaltungs- und Wachstums-Gesetzen“ werde geboten,

„dass Jeder sich seine Tugend, seinen kategorischen Imperativ erfinde … Nichts ruiniert tiefer, innerlicher als jede ‚unpersönliche‘ Pflicht, jede Opferung vor dem Moloch der Abstraktion.“ (A VI-3, 175)

Daran sind mehrere Aspekte bemerkenswert. Zunächst sollen es ‚Erhaltungs- und Wachstumsgesetze‘ sein, die nun als Grundlage der Ethik fungieren, womit deren Anspruch auf eine Begründung aus der Vernunft offenbar grundsätzlich aufgegeben wird. Die Moral wird hier ‚hypothetisch‘ strukturiert verstanden, d. h. als bedingt durch andere Forderungen oder Notwendigkeiten, von denen die Gültigkeit der moralischen Regeln abhängen soll. Kant dagegen hatte solche ‚hypothetischen‘ Regeln gerade aus dem Gebiet der Ethik ausgeschlossen, man könnte auch sagen: diese Unterscheidung war geradezu die Grundlage für die Kantische Bestimmung der Grenzen der reinen Vernunft auf dem Gebiet der Praxis, denn eine eigene Bedeutung konnte die praktische Vernunft eben nur gewinnen, wenn es gelingen konnte, sie von der hypothetischen und technisch-praktischen Vernunft (also von den Regeln nach dem Muster ‚wenn du x willst, dann musst du y tun‘) durch ein eindeutiges Kriterium abzugrenzen.

 

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Aber ­Nietzsche geht noch über diese Kritik hinaus. Er wendet sich auch gegen den ‚positiven‘ Grundsatz, in dem Kant das Kennzeichen einer nicht-hypothetischen Ethik und damit das eigene Gebiet einer reinen praktischen Vernunft überhaupt gesehen hatte. Jene Gesetze sollen nämlich auch gebieten, dass jeder sich seine eigene Moral erfinden solle. Er ergänzt an dieser Stelle allerdings, dass sich dies vor allem auf die Erhaltungsbedingungen von Völkern beziehe, von denen jedes seine Pflicht erkennen müsse – und nicht die Pflicht, wie dies für Kants Ethik gegolten hätte. Jede unpersönliche und abstrakte Pflicht dagegen soll sogar als äußerst schädlich gelten. Offenbar wendet ­Nietzsche sich nicht nur gegen Kants Begründung einer rein vernünftigen Ethik auf der Grundlage des Absehens von persönlichen Vorlieben, sondern gegen jede Ethik, die allgemein zu sein beansprucht. Als sinnvoll wird nur eine solche Ethik ausgezeichnet, welche individuell ist – sei es in Bezug auf die Person oder in Bezug auf ein ‚Volk‘, das hier als so etwas wie ein vergrößertes und kollektives Individuum aufgefasst wird (allerdings sollten wir hier nicht den Begriff ‚Staat‘ einsetzen, den ­Nietzsche an anderer Stelle scharf kritisiert, worauf wir noch eingehen werden).

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