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PREKARIATSBLUES
Oder: Pop und die Klasse, die keine ist
I

Kein guter Witz: Treffen sich ein Popkritiker und eine Aushilfsverkäuferin beim Bäcker (mit Bild- und Heimatzeitung sowie Post-Service) und wechseln, wenn es ein guter Tag ist, ein paar Worte über das Wetter oder neue Ereignisse im Viertel. Im Hintergrund belegt eine Frau mit Kopftuch die Brötchen, die sich die arbeitende Bevölkerung zum Coffee-to-go gönnen soll; sie spricht überhaupt nicht, sondern reagiert stumm auf Regeln und Anweisungen. Dann geht jeder wieder in seine Welt. Jeder ist überzeugt, dass die der anderen sehr seltsam sein muss. Dabei wären sie alle drei politisch und ökonomisch dazu durchaus bestimmt, gemeinsam für ihre Rechte, gegen ihre Ausbeutung, gegen die politische Ausblendung ihrer Situation zu kämpfen. Wenn sie nämlich ihr Leben ansehen würden, dann würden sie viel gemeinsames erkennen:

Der Blick auf den Kontostand, schwankend zwischen zäh erarbeitetem kleinen Plus und rapide anwachsendem Minus, das schnell eine Spirale der Verschuldung auslösen kann, aus der man so leicht nicht mehr herauskommt. Dass man »schlecht bezahlt« wird, heißt nicht nur, dass es zu wenig ist, sondern auch, dass es zu unzuverlässig ist, um die Planung über die eigene »Erwerbsbiographie« zu ermöglichen.

Die Sorge darum, von Behörden, Banken, Versicherungen, Vermietern usw. als »kredit-« bzw. »vertrauenswürdig« betrachtet zu werden oder eben nicht.

Die Angst davor, dass man nächste Woche nicht mehr gebraucht wird oder durch jüngere, billigere und willigere Nachfolger ersetzt wird. Die Gesellschaft weist dir keinen Status zu, sondern kontrolliert unentwegt deine Augenblicklichkeit.

Die Angst vor dem Fehler, der Missgunst, dem Mobbing, was einen so schnell wieder »freistellt«, wie man seinen befristeten und ungesicherten Job bekommen hat. Und wo es Freundschaft und Solidarität gibt, entfaltet es sich aufgrund anderer – vielleicht popkultureller – Codes als diejenigen, die sich aus gemeinsamer Arbeit ergeben.

Die Abhängigkeit von der »Bedarfsgemeinschaft« (so heißt im Bürokratensprech die Familie), in der jeder Ausfall eine Katastrophe bedeutet und in der immer die einen die anderen »mitschleppen«, die sich ihrerseits dafür schämen und an die Grenzen der Solidarität in Familie und Freundeskreisen denken.

Die Abhängigkeit aber auch von der Firma, dem Unternehmen, dem Projekt, die selber auf Wolkensäulen stehen, und auf jede Forderung mit dem Hinweis auf den eigenen Ruin und damit natürlich auch dem Verlust der Arbeitsplätze von Kollegen und Kolleginnen drohen.

Die Unmöglichkeit, ernsthaft Vorsorge für die kommenden, möglicherweise noch schlechteren Jahre zu treffen.

Das entschiedene Empfinden, dass das eigentliche Leben woanders stattfindet.

Die Erfahrung vollkommener Gleichgültigkeit seitens der Politik, der Regierung und der Parteien, denen unser Leben scheißegal ist, solange wir uns nur brav verhalten und die Arbeitslosenstatistik nicht belasten. Welchen Sinn macht für uns »Wählen«? Welchen Sinn macht Demokratie jenseits von Gewohnheit und Moral? Das Sprechen über die eigenen Arbeitsbedingungen bedeutet die Beendigung des Arbeitsverhältnisses, und das gilt für »freie Mitarbeiter« im Kulturbetrieb so sehr wie für Paketboten, Erntehelfer oder Putzkräfte.

Die Rechtlosigkeit, die Organisationslosigkeit, die Medienlosigkeit.

Die Sorge darum, den letzten Schritt nach unten zu tun oder Erwartung und Verantwortung nicht gerecht werden zu können. Die Alleinerziehenden, die mit den Pflegefällen in der Familie, die Hereingefallenen des Konsums usw. Schweigen wir von den Kranken, den Beeinträchtigten, den Alten, denen, die nicht mehr mitkommen, nicht einmal auf der Ebene unserer prekären Flexibilität.

Die Unfähigkeit, über die Lebensfalle zu sprechen, in die man geraten ist oder in die man gleich hineingeboren worden ist. Das Wissen, dass die Alltagspraxis des Überlebens nicht das Geringste mit den allgemeinen Selbstbildnissen dieser Gesellschaft zu tun hat. Vieles von dem, was in den Mainstream-Medien verhandelt wird, stellt sich von uns aus als Luxusproblem dar.

Die vagen Hoffnungen, die uns an manchen Tagen aufrecht erhalten, die Hoffnung darauf, dass vielleicht doch noch der große Auftrag kommt, ein Lotteriegewinn, oder ein Traumjob. Denn unser Leben ist nicht einfach ein langer, gerader Weg nach unten, sondern eine bizarre Achterbahn, die immer wieder Ups und Downs hat. Wir lassen uns die Hoffnung nicht ausreden, dass sich alles zum Guten wenden wird. Daher ist es besser, nicht zu viel miteinander zu sprechen, jedenfalls darüber nicht, denn wenn man erkennt, wie ähnlich unsere Lage ist, dann sinkt die Wahrscheinlichkeit einer subjektiven Verbesserung. Auf jeden Fall wird hier nicht herumgejammert!

Die kleine Gier danach, etwas vom Leben zu haben, etwas Gedrängtes und Spektakuläres; da ist es schnell wieder weg, das Geld, das so mühselig erworben wurde, und daneben steht der hämische Lohnarbeiter in fester Anstellung, der bemerkt: Die haben offenbar immer noch zu viel Geld! Sparen jedenfalls macht für uns kaum einen Sinn, das Geld reicht nicht einmal für die Reproduktion der eigenen Arbeitskraft. Deswegen muss man sich beeilen, etwas Großes zu erleben. Aber was ist groß? Wer anders als unsere Me­dien kann es uns sagen? Was bleibt zwischen Traumschiff und Nagelstudio? Zwischen Piercing und Oktoberfest?

Wir, die »Prekären«, egal ob es sich um ein Luxusprekariat ewiger Praktika handelt, das zwar Ausbeutung hoch drei aber doch ein Privileg des Dabeiseins und Wichtigtuns bedeutet, oder das Elendsprekariat, in dem man sich in immer weitere Armut hineinschuftet, wir Prekären werden von der Elite der Lohnarbeiter, Leistungsträger und Belegschaften miss- und verachtet. Oder zumindest fühlen wir uns so.

Der Popkritiker, die Aushilfsverkäuferin und die Küchenhilfe haben davon gewiss sehr unterschiedliche Ideen. Denn so sehr sie einander durch ihre ökonomische Situation ähnlich sind, und so sehr sie unter der gleichen Ignoranz der politischen und gesellschaftlichen Institutionen leiden (einschließlich der »linken«), so sehr sie also Elemente der gleichen ökonomischen Klasse (oder Nicht-Klasse) sind, so unterschiedlich, so weltweit voneinander entfernt sind ihre kulturellen Schnittstellen. Nicht einmal reden könnten sie miteinander von den Bildern ihrer Träume, jedenfalls nicht, wenn es darauf ankäme, von den jeweils anderen auch verstanden zu werden. (Schon deswegen muss ein leeres Sprechen entwickelt werden.)

Das Klischee ist ganz einfach. Der Popkritiker schwadroniert über THE XX, die Aushilfsverkäuferin hört Helene Fischer, und die Frau mit dem Kopftuch nur Nostalgisches aus der Heimat. Aber vielleicht ist ja alles ganz anders, und die Aushilfsverkäuferin spielt in einer New Wave-Band, die Frau im Kopftuch übersetzt Lyrik und unsere Popkritik hängt heillos in einer 80er-Jahre-Schleife fest. Als Wahrheit bleibt nur: Wir wissen zu wenig voneinander. Und die zweite Wahrheit ist: Das ist kein Zufall, dass wir schwer zu einer gemeinsamen Sprache kommen.

Das Prekariat ist die Sphäre der entwerteten Arbeit und der entrechteten Menschen. Es ist eine Klasse, die keine Partei und keine Organisation, kein Projekt und kein Bewusstsein hat. Es ist die Klasse der nachhaltig Vereinzelten. Es gibt das akademisch-kulturelle Prekariat, es gibt das Dienstleistungsprekariat, es gibt das digital-»kreative« Pre­kariat, es gibt das industrielle und post-industrielle Preka­riat, und nicht zuletzt gibt es ein landwirtschaftliches Prekariat (das in Mitteleuropa gern der Migration und den »Ille­ga­len« überlassen wird: der hier gnadenlos Ausgebeutete muss anderswo noch eine Familie mit ernähren). Allein im Bereich der »kreativen Kunst« leben in Deutschland im Jahr 2017 1,6 Millionen Menschen (3,3%), von denen ein paar hundert recht gut verdienen, der Großteil aber in prekären Verhältnissen, und davon bis zur Hälfte wiederum so, dass man von seiner Arbeit allein den Lebensunterhalt auf absehbare Zeit nicht bestreiten können wird. Das Durchschnittseinkommen der in der Künstlersozialkasse Versicherten betrug 2016 15.945 Euro, das der männlichen Mitglieder 18.079, das der weiblichen 13.621, und nicht minder gravierend: Das Jahresdurchschnittseinkommen von unter 30jährigen betrug 11.960; in der Sparte Musik sind es bei den unter 30jährigen gar nur 10.955. Alle diese Erfassten erreichen nicht einmal den gesetzlichen Mindestlohn von 17.690 Euro. Die Hälfte aller in der Kulturbranche beschäftigten Menschen hat einen festen Arbeitsplatz; von den freiberuflich Tätigen wiederum arbeiten zwei Drittel in prekären Verhältnissen. Die Entwicklung ist so dynamisch, dass jeder Nicht-Prekäre vor seiner Prekarisierung bangen muss, vor allem dann, wenn er oder sie die Lebens- und Arbeitsbedingungen kritisiert und das tut, was einst von Kultur und Pop am meisten verlangt wurde: Haltung zeigen. Es ist also nicht nur so, dass eine wachsende Anzahl von prekarisierten Menschen den der Prekarisierung angemessenen Pop benötigt, sondern Pop seinerseits ist ein Motor der Prekarisierung.

Die Produzenten der Popkultur leben die neoliberale Mythologie auf eine verschärfte Weise vor und reden sich dabei auf ein »arm aber sexy« heraus; all das, was das Kapital von den neuen Arbeitnehmern erwartet, flexibel, risikobereit, anpassungsfähig und immer auf dem Sprung zur großen »Selbstverwirklichung«, das wird auch vom Pop-Produ­zen­ten erwartet, worunter wir nun eine große Entourage der Abhängigen um die eigentlichen Acts mit verstehen wollen. Der Popkritiker, die Aushilfsverkäuferin und die Brötchenbelegerin mit Kopftuch – sie verbindet nicht nur die Trostbedürftigkeit, sondern auch die Trostproduktion. Sie sind es, die »den Laden am Laufen halten«.

 

Was aber trennt uns, wenn wir doch ökonomisch und politisch so ähnlich behandelt, misshandelt und übersehen werden? Es ist in erster Linie, wie es scheint, die »Kultur«. Eben dies ist die Paradoxie der Situation: Eine wachsende Klasse, das »Prekariat«, nutzt das bisschen Überschuss, das es subjektiv produzieren kann, dazu, sich von den jeweils anderen zu distanzieren. Es müsste schon ein ziemlich teuflischer Stratege sein, sich so etwas auszudenken, aber vielleicht ist es einfach nur die Mechanik des Marktes: Die wachsende Klasse des Prekariats muss sich die kulturellen Instrumente ihrer Entmachtung selber erarbeiten. Nachdem die Klasse eines Proletariats, das sich schon im Kleinbürgertum und bescheidenem Wohlstand einzurichten begonnen hatte (und entsprechend konservativ wurde bzw. die dabei entstehenden Konflikte, schon ganz nach Bürger-Art, internalisierte), zugunsten einer Hybridklasse von »flexiblen« und »dynamischen« Arbeitskräften aufgegeben oder doch wesentlich eingeschrumpft wurde und das Kleinbürgertum selber in den Verliererstrudel zu kommen droht, entfaltet die populäre Kultur ganz offensichtlich nicht nur ihre destruktiven und aggressiven Potentiale bis zum Exzess, sondern dient einer neuen Konstruktion von »Identi­tät« jenseits des realen ökonomischen Lebens. Davon, dass das Sein das Bewusstsein bestimme, kann hier die Rede kaum noch sein. Weder als Widerspiegelung noch als Trost- und Gegenmittel funktioniert die »totale« Popkultur unserer Tage, sondern als Illusion eines eigentlichen Seins. Dorthin, wo sie zurückkehren, der Popkritiker, die Aushilfsverkäuferin und die Küchenhilfe mit dem Kopftuch, soll dieses wirkliche Sein der entwerteten Arbeit nicht reichen.

Prekarisierung reicht in alle Lebens- und Kulturbereiche der neoliberalen Gesellschaft. In der Nationalbibliothek in Rom arbeiten Menschen in der Katalogisierungsabteilung für 400 Euro, bei 20 Stunden in der Woche und 15 Tage Urlaub im Jahr. Sie haben keine Absicherung im Krankheitsfall und keine Möglichkeit, in Mutterschaft zu gehen, weil sie keinen Vertrag bekommen. So also beteiligt sich das Ministero dei Beni culturali an der Prekarisierung, und dies mittlerweile über zehn Jahre. Als einige Zeitungen wie Il Manifesto und eine Fernsehsendung auf die Missstände aufmerksam machten, wurde überdies publik, wie sehr die Verhältnisse nicht nur den Überlebenskampf kultureller Institutionen, sondern auch eine neue Sklavenhaltermen­talität offenbaren: Man kontrollierte schließlich noch die Lebensmittelgutscheine, die einkassiert werden, wenn sie 400 Euro überschreiten, und eine ständige Überwachung kontrolliert die an sich un-legalen Arbeitskräfte, während zur gleichen Zeit verhindert wird, dass sie in der Buchführung auftauchen. Sie wurden auf diese Weise zu den »toten Seelen« der Kulturarbeit, rechtlos, offiziell nicht vorhanden, gespensterhaft. Aber was wollte man machen? Die Nationalbibliothek schließen? Viele kulturelle Einrichtungen, die aus besseren Zeiten des demokratischen Kapitalismus zu stammen scheinen, überleben nur auf Kosten prekarisierter Arbeit.

Aus der dot.com-Blase, die den Zusammenbruch der New Economy besiegelte, ging das sogenannte Kognitariat hervor, jene digitale Avantgarde, die für eine Zeit dafür zu stehen schien, dass ein neues, flexibles und in gewisser Weise »demokratischeres« Kapital in jungen Händen eine neue »freie« Arbeitskultur zu generieren imstande wäre, Selbstorganisation, flache Hierarchien, Work/Life-Balances, hippes Design, und von denen weite Teile in prekärer Arbeitssituation endeten, in Call Centern und bizarren sweat shops des crowdworking oder in häuslicher Scheinselbständigkeit, während Konzerne und der militärisch-wirtschaft­liche Komplex sich um die Reste der neuen Intelligenz bemühten. Der neueste Kapitalismus entstand, indem der alte den neuen fraß. Die post-alphabetische Generation mit ihrer Netz- und audiovisuellen Medien-Fixierung hatte gegen den Angriff der Alten nicht viel zu setzen. Viele von ihnen bemerkten kaum die feindliche Übernahme ihrer Kultur, so sehr hatten sie bereits alles ausgeschlossen, was nicht zu ihrer Vernetzung gehört. Und, ganz entscheidend: Was nicht in ihre Popkulturelle Codierung passte. Sie sahen und sehen nicht, wie die wirkliche Welt ihre Imaginationen, die eigentümliche Vermischung von Freizeit und Arbeit, an die man sich gewöhnt hatte, auffraß. Um nicht aus ihrer Kultur geworfen zu werden und nicht letzte Aufstiegschancen zu verlieren, sind die Angehörigen des Kognitariats bereit, schlecht bezahlt und ungesichert weiter zu arbeiten.

Wie der Philosoph und Medientheoretiker Franco Berardi alias Bifo mit zornigem Gestus bemerkt, sind die meisten von ihnen durch diesen Werdegang unfähig geworden, eine kritische Distanz zu den eigenen Arbeits- und Lebensbedingungen zu entwickeln. Sie wurden, und eben dies hätten sie ohne die Hilfe »ihrer« Popkultur nie geschafft, zugleich zu den besten Propagandisten der eigenen Ausbeutung. Sie schufen in der sogenannten »Event«-Kultur (ein Hopping von einer spektakulären, abgeschlossenen Simulationswelt in die andere) die ideale Kultur der Prekarisierung. Sie machen einfach weiter, weil sie nicht wissen, was sie sonst tun sollten, außer vom Kognitariat noch »tiefer«, nämlich ins analoge Prekariat zu sinken und damit auf ihre Lebensader –den »Medienaktivismus« (Bifo) – zu verzichten. Er spricht von »der prekären Klasse mit vernetztem Hirn, aber unharmonischer Verkabelung, performativ aber unglücklich«. Dieses Kognitariat ist Protagonist eines »Semiokapitalismus«, also eines kapitalisierten, beschleunigten, digitalen Zeichenaustauschs. Die Angehörigen des Kognitariat haben die Aufgabe, die Zeichen in Umlauf zu halten, zu beschleunigen und zu vermehren, so wie ein Prekariat des Finanzsektors (auch das gibt es) dafür zu sorgen hat, das Geld im Umlauf zu halten. Man könnte sie denn auch paradoxerweise als Chaos-Arbeiter bezeichnen, insofern sie zu einer beständigen semiotischen Überforderung ihrer Mitmenschen sorgen, auch und gerade dann, wenn ihre Zeichenproduktion vollkommen trivial ist oder endlos gespiegelt (die Nachricht zur Nachricht zur Nachricht, dass sich ein Mitglied einer Soap Opera einen Finger gebrochen hat). Sie werden dabei niemals zu »Autoren«, und sie werden niemals zu »Kritikern«, denn sobald sie das eine oder das andere werden, verlieren sie auch noch ihren letzten Status der »Medienaktivität« nebst 400 Euro-Bezahlung.

Prekariat und Kognitariat sind weder zur praktischen noch zur theoretischen Kapitalismus-Kritik fähig; ein Großteil der performativen Tätigkeit besteht in der Arbeit am Unsichtbarkeit-Machen der eigenen Lebensumstände. Im Prekariat ist jeder gezwungen, sich »reicher« und »glücklicher« darzustellen, als er ist, und im Kognitariat muss jeder so tun, als sei die eigene Arbeit involviert in »wichtige« Bewegungen der post-laboristischen Ökonomie. Nur das Herabsehen auf die alten »Bildungsbürger« und die Bewohner analoger Rest-Kulturen gibt ihnen Selbstvertrauen, was sie wiederum zu direkten oder indirekten Verbündeten der rechtspopulistischen Bewegungen macht. Sie leben derweil zum Teil noch in der Illusion, den Informationsfluss unter die Prinzipien von Recht, Demokratie, Aufklärung und Vernunft stellen zu können.

Damit ist nicht gesagt, dass diese Arbeit, die die drei unterschiedlichen Bewohner des Prekariats leisten, ihnen »kei­nen Spaß« machen müsste. Ganz im Gegenteil. Sie hat so viel sozialen und Identifikationswert, dass man sie möglicherweise sogar umsonst verrichten würde, wenn man auf irgendeine andere Weise seinen Lebensunterhalt bestreiten könnte (von der Generation Praktikum wird das mehr oder weniger verlangt, für eine endlos verlängerte »Ausbildung«: Schein-Ausbildung als Pendant zur Schein-Selbständigkeit im Prekariat!). Möglicherweise ist es unter den Bedingungen der prekären Arbeit sogar schwer zu sagen, was schlimmer ist, eine gehasste oder eine geliebte Arbeit. Denn die ökonomische und (damit) kulturelle Entwertung macht beides unerträglich. Eine geliebte Arbeit – zu ihr können wir ziemlich wahrscheinlich die des Popkritikers rechnen, je nach Temperament und Erwartung vielleicht auch die der Aushilfsverkäuferin, bei der Küchenhilfe wird es kritisch, und bei den Migranten, die sich für einen Hungerlohn als Saisonarbeiter abschinden, hört ziemlich sicher der Spaß auf – eine geliebte Arbeit also ist in ihrer Entwertung nicht weniger demütigend als eine ungeliebte, und doch unterscheiden sich beide signifikant. Für den einen nämlich mag Hoffnung in der Arbeit selbst liegen und damit die Möglichkeit, Leben und Arbeit sinnvoll zu verbinden, für den anderen liegt alle Hoffnung jenseits der demütigenden und giftigen Arbeit. Wir sind alle unterbezahlt, unsicher beschäftigt, ohne Planungssouveränität in unserem Leben, vom Überlebenskampf ermattet und zugleich gierig nach Spektakel und Sensation; aber zur gleichen Zeit leben wir sowohl in der Arbeit als auch jenseits von ihr in solch unterschiedlichen kulturellen, körperlichen und ästhetischen Umständen, dass uns der Gedanke von Solidarität und Gemeinschaft gar nicht kommt. Vor einem neuen Jesus, einem neuen Marx und neuen Beatles müssten wir uns fürchten. Denn sie alle drei mussten ihre Adressaten, wie Eleanor Rigby, erst durch einen schmerzhaften Prozess der Selbsterkenntnis führen. Prekariatspop muss den Blick auf die andere Seite dieses Schmerzes verhindern.

II

Das Prekariat ist eine Klasse ohne gemeinsame Sprache, ohne gemeinsames Bewusstsein, ohne gemeinsame Kultur, ohne gemeinsame Organisationen, ohne gemeinsame Hoffnungen. Es ist die Klasse der Menschen, die sich nur gegenseitig misstrauen und verachten können.

Denn nicht nur die absurde Hoffnung darauf, »Chancen« nutzen zu können, auch die reale Armut ist im Prekariat subjektiviert. Wenn zwei Prekarier sich treffen, glaubt jeder, dem anderen seine wahre Situation verheimlichen zu müssen und umgekehrt, dass der andere ihm seine wahre Situation verheimlicht. Denn die Kehrseite davon, auf die subjektive Chance zu lauern, ist die Scham. Man ist doch selber schuld, oder wenn nicht, dann ist es eben dumm gelaufen. Von allen Seiten raunt es auf den Popkritiker, der einmal ein Interview führen darf, bis zum migrantischen Arbeiter auf dem Feld: Du könntest es noch schlimmer haben. Man kann dir jederzeit auch noch diese Arbeit, dieses Überleben, diese Selbstvergewisserung nehmen.

Die Klasse ohne Klassenbewusstsein, ohne Klassenstolz, ohne Klassenorganisation ist natürlich die Erfüllung der feuchten Träume von Neoliberalen und Rechtspopulisten gleichermaßen. Dem einen ist der Mensch sowieso eine Wegwerfware, das billigste und schmutzigste, das auf dem Markt zu haben ist, dem anderen eine Manövriermasse, die eine selbst ernannte neue rechte Elite nach Belieben auf Sündenböcke und noch Schwächere hetzen kann. Die Post-Masse der Vereinzelten nutzt also gerade noch dazu, hier Profit und dort Macht zu generieren. Struktur und Zukunft sind nicht gefragt. Die Verachtung, die beide Gruppen der »Starken« für uns hegen, setzt sich im Inneren dieser Klasse, die keine ist, immer weiter fort. Am Ende steht eine Selbstverachtung, die Menschen so ans Überleben bindet, dass von politischer Organisation keine Rede mehr sein kann. Wir kommen nur zu der Frage: Was haben wir falsch gemacht? Aber nicht zu der Frage: Was ist falsch an dieser Organisation von Arbeit und Einkommen?

Das politisch erzeugte Bild und die realen Lebensumstände der Menschen haben nur wenig miteinander gemein. Unter den 44,74 Millionen Erwerbstätigen, die die Bundes­agentur für Arbeit im November 2017 zählte, sind 3,36 Millionen »Unterbeschäftigte« (also Kranke oder andere Arbeitsunfähige) und 7,5 Millionen sogenannte Minijobber, so dass nur 32,7 Millionen sozialversicherungspflichtige Beschäftigte bleiben, von denen wiederum etwa ein Drittel in Teilzeit arbeitet, davon die Mehrheit Frauen. Es liegt auf der Hand: Es gibt viel weniger Arbeit als die »Arbeitslosenstatistik« wiedergibt. Und: Die »Schaffung« von Arbeitsplätzen geschieht nur noch unter der Voraussetzung der ökonomischen, sozialen und kulturellen Entwertung. Wem dient die Verschleierung dieser offenkundigen Tatsachen?

Wir haben also, selbst wenn wir bei den »offiziellen Zahlen« bleiben, die Situation eines immer weiter wachsenden prekären Arbeitsmarktes, der die Statistik des Arbeitsmarktes schönt. Die Arbeitsmarktzahlen des Jahres weisen darauf hin, dass die freien Stellen signifikant nur auf dem prekären Markt steigen: von insgesamt 747.000 offenen Stellen entfielen 293.000 Jobangebote auf den prekären Sektor, davon die Mehrzahl (nämlich 250.000) auf Angebote von Zeitarbeitsfirmen.

Zur gleichen Zeit leben beinahe acht Millionen Menschen in Deutschland von der »sozialen Mindestsicherung«, vulgo Sozialhilfe. Sechs Millionen erhalten zum Jahresende 2016 Arbeitslosengeld II, mehr als eine Million Rentner müssen mit Sozialhilfe versorgt werden. Nach Angaben der Bundes­agentur schließlich lebten im November 2017 3,2 Millionen Familien (»Bedarfsgemeinschaften«) von Hartz IV (21.000 mehr als im Jahr zuvor). »Nur knapp 1,6 der insgesamt 4,3 Millionen ›erwerbsfähigen Hilfebedürftigen‹ tauchen in der Arbeitslosenstatistik der Bundesagentur auf. Die Mehrheit der Hartz IV-Bezieher hat demnach einen Job, muss aber aufstocken.« (Susan Bonath). Dabei ist das Ansteigen von relativer wie absoluter Armut in der Gesellschaft nur ein Teil des Problems. Und auch die Abdrängung von immer mehr Menschen in die »zweitklassigen Sonderarbeitsverhältnisse im Niedriglohnbereich«, von dem Annelie Buntenbach vom Deutschen Gewerkschaftsbund spricht, ist noch nicht der letzte Faktor der Erzeugung einer wachsenden Schicht von »arbeitender Armut«. Drastischer noch scheint das Funktionieren einer Gesellschaft, die nicht weiß, nicht wissen darf, wie es um die politische Ökonomie in ihrem Inneren aussieht. Denn das Prekariat ist etwas anderes als eine »Reservearmee«, nämlich eine Reparaturinstanz im neoliberal deregulierten »Arbeitsmarkt«.

 

Zynisch wird uns entgegengehalten, dass doch alles in Ordnung sei. Rein statistisch gesehen. Die Prekären, das sei zwar keine Klasse mit Klassenbewusstsein und auch keine Klasse, in der man sich solidarisiert, aber es sei eben eine Klasse der Jammerer und Nörgler. Und ist das Prekariat nicht immer noch aufregender als das Kleinbürgertum und nicht immer noch reicher als das »Subproletariat«?

Wir haben also Lebensbedingungen und Erfahrungen im ökonomischen Bereich gemeinsam. Aber unsere Differenz wird nicht allein durch »Kultur« erzeugt, sondern auch innerhalb des ökonomischen Bereichs. Während nämlich ein Teil des Prekariats mit der Hoffnung leben kann, dass sich die persönlichen Verhältnisse durch ein plötzlich sich ergebende Chance, eine glorreiche (Geschäfts-)Idee oder eine unerwartete Allianz doch noch entscheidend ändern könnten, bleibt einem anderen Teil als Möglichkeit nur der Lottogewinn. Dass wiederum beides »in aller Regel« ausbleibt, ist möglicherweise eine objektive Wahrheit, bringt aber subjektiv die sozialen Zonen des Prekariats einander nicht gerade näher.

Ist es denn wahrscheinlich, dass es einen »klassenlosen« Kapitalismus gibt, dergestalt, dass man sich zwei wabernde Massen von Gewinnern und Verlierern vorstellt, die miteinander offene Grenzen bilden und ein Gemisch in der Mitte, bei dem sich Aufstiegshoffnungen und Abstiegsängste gerade so neutralisieren? Aus der Marx-Lektüre kann man indes leicht folgern: Sobald es einen aus der Arbeit anderer gewonnenen Mehrwert (Profit) gibt, gibt es auch Klassen, oder anders gesagt: Arbeit, die etwas anderes generiert als den Reproduktions- und Lebenswert des Arbeitenden ist Klassenarbeit.

Paradoxerweise nun generiert die Arbeit des wachsenden und vielgestaltigen Prekariats nicht nur den Reichtum von »Besserverdienenden« und natürlich auch der »wirklich Reichen«, sondern auch das Bild der Gesellschaft von sich selbst. Nicht nur der Popkritiker unseres Beispiels, sondern auch die Verkäuferin und die Brötchenbelegerin sind Performer, Teilnehmer einer Simulation von Geschäftigkeit. Sie schreiben Popkritiken, die kein Schwein mehr liest, die aber trotzdem notwendig sind, um den Betrieb in Gang zu halten; sie belegen Brötchen für Menschen, die unterwegs zu einer Arbeit sind, die in etwa das Negativ des Brötchenbelegens sind, zum Beispiel die Auslieferung von Teiglingen oder der Wäscheservice für Hotels. In den schlauen Büchern zur Gewinnmaximierung und zur Förderung der Verblödung des homo oeconomicus wird genau aufgezeigt, wie man die ideale Lage eines Coffee-to-Go-Ladens aus den Verkehrsströmen der arbeitenden Bevölkerung errechnet, und im Buch nebenan wird genau aufgezeigt, wie Immobi­lienpreise durch Coffee-to-Go-Läden in die Höhe getrieben werden. Prekarisierung bedeutet auch eine extreme Beschleunigung der ökonomischen Mini-Zyklen, je flexibler die Arbeit, desto irrealer wird die Stadt. Waren die Arbeiter im analogen Kapitalismus vom Produkt ihrer Arbeit getrennt, so ist der Arbeiter im Prekariat von seiner Arbeit selbst getrennt. Er kann sie nur, da sie ihm kein Leben schenken kann, als das Fremde in seinem Leben begreifen, selbst dann, wenn diese Arbeit, wie in unseren Beispielen, höchst unterschiedliche Formen im traditionellen Modell der Entfremdung aufweist. Der Popkritiker, der gern Popkritiken schreibt (schon weil sie eine perfekte Ausrede für den Konsum von Pop sind) und die Brötchenbelegerin, die niemals eines ihrer Brötchen verzehrt (einerseits aus religiösen Gründen, andererseits weil überall Kameras lauern, die ihr dies als Vertrauensbruch gegenüber ihrem Arbeitgeber auslegen würden), sind zwei Seiten des gleichen Phänomens einer Arbeit, die sich nicht erst durch die Produktion, sondern schon in sich selbst als enteignet und entfremdet erkennen lässt.

Prekäre Arbeit wird nicht Alltag, was in bestimmten Situationen noch ein Vorteil – schließlich will niemand den Rest seines Lebens Brötchen belegen –, im allgemeinen jedoch ein extremer Nachteil ist. Überall herrschen Zeichen, Muster, Spuren, nur die eigene Biographie ist chaotisch und un-ornamental (also »hässlich«). Man wird sagen: Diese Arbeit verleiht keine Identität. Über prekäre Arbeit kann sich kein Mensch »definieren«. Sie ist immer vorläufig, uneigentlich, instabil, unzuverlässig, chaotisch, abgewertet, fremd (natürlich begegnen wir unserem brötchenver­zeh­ren­den Popkritiker als Taxifahrer wieder, und der Brötchenbelegerin als Gastgeberin in einer Wohnung mit Auslegeware, und was der Klischees mehr sind). Als Insasse des Preka­riats muss man sich Identität woanders holen, da sie aus der Arbeit nicht zu gewinnen ist. Aber wo? Im Prekariat muss man lernen, doppelte Existenzen zu führen. So ist die Aushilfsverkäuferin Mitglied einer Garagenelektropunkfusion-Band, und der Popkritiker ist berühmt für seine selbst hergestellte Himbeermarmelade. Gefährlich wird es für jene, die es nicht zu einer solchen Zweit- oder auch Dritt-Existenz bringen. Denen bleiben, sieht man die Sache sarkastisch, nur Fernsehen, Suff und Nazis.

Aber für Sarkasmus ist hier nur wenig Raum. Was bleibt ist die Beobachtung (und auch Selbstbeobachtung), dass der prekär arbeitende Mensch auf eine Weise innerlich entbeint ist, dass er eine Art von kulturellem Außenskelett benötigt. Daher müssen wir der ersten Paradoxie (das Prekariat als Klasse, die an der Kultur ihrer eigenen Dissoziation arbeitet) eine zweite hinzufügen: Das Prekariat ist eine Klasse, die zwar keine einigende Kultur hervorbringt, deren Mitglieder aber nur aufgrund Popkultureller Überfütterung überlebensfähig sind. Nimmt man beides zusammen, so erscheint das Doppelgesicht der Popkultur: Sie bildet einen allgemeinen Lebensraum für die Klasse, die keine ist, sorgt in diesem aber zugleich für die fundamentale Vereinzelung aller ihrer Mitglieder.

Mehr noch: Diese Popkultur sorgt durch einen permanenten Kulturkampf für eine Art des internen, semantischen Bürgerkriegs innerhalb der Klasse des Prekariats.

Die Gesellschaft des Spektakels sorgte, so Guy Debord, für »die Proletarisierung der Welt«. Welcher Art nun ist eine Gesellschaft, die für ihre Prekarisierung sorgt?

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