Der Koch der Hübschlerinnen

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Der Koch der Hübschlerinnen
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Georg Steinweh

Der Koch der Hübschlerinnen

Die Gelegenheiten des Fred Keller, Teil 2

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

Die Vergangenzeit

das Gynaäceum und die Lust

die Stadt und der Freund

Figuren und Plan

über den Autor

Impressum neobooks

Prolog

worum es geht:

Um 1415, zur Zeit des Konstanzer Konzils findet Fred durch eine glückliche Fügung Arbeit als Koch in einem Dirnenhaus. Hohe Kirchendiener feiern hier ihre Orgien. Die Stadt stinkt und platzt aus allen Nähten. Händler aus ganz Europa verkaufen ihre Waren. Jan Hus wird hingerichtet.

Fred lernt den kleinen Paul kennen, der ihm Konstanz näherbringt. Trotz aller Armut gefällt es ihm hier. Er spricht im Schlaf, hat Angst, entlarvt und als Hexer verbrannt zu werden. Er entscheidet sich gegen den kleinen Paul und seine Dirnen-Freundin und versucht zurückzureisen – in die Gegenwart.

wie es klingt:

... Gleich hinter dem Rathaus, auf dem Oberen Fischmarkt, reihten sich die Stände der Bodenseefischer wie Bojen der Netze im See. Die schreienden Fischer priesen ihre Hechte, Karpfen, Schleien und Felchen – alles fangfrisch aus dem See.

Die Veroneser hatten in Windeseile ihren guten Ruf und den noch besseren Duft ihrer Spezialitäten bis in die engste Konstanzer Gasse verbreitet. Für hoffnungsvolle Momente schien es, als könne der schwebende Kloakengeruch auf Dauer vom Aroma ihrer delikaten, in Baumöl gebackenen Fische verdrängt werden. Dem Fisch, der den Felchen glich und sechs Pfennige kostete, sagte man lange Haltbarkeit nach. Seinem Aroma zwischen den Häusern leider nicht. ...

Die Vergangenzeit

Montagabend, gegen 20 Uhr

Bescheiden und doch bewusst, das erste Haus am Wegrand zu sein, duckte sich der Gasthof unter das kalte Mondlicht. Fred hielt das späte Mittelalter für eine sehr rustikale Zeit. Trotzdem fand er es nicht schicklich, in seinem merkwürdigen Aufzug durch die vordere Tür ein fremdes Haus zu betreten, und sei dieses noch so schlicht.

Mehr erschöpft als zaghaft klopfte er an das hintere Fenster.

Die junge Frau schaute von ihrer Küchenarbeit auf, zum Fenster, direkt in Freds Augen. Sie erschrak fürchterlich, kreischte, ruderte aufgeregt mit den Armen und rannte schreiend aus dem Raum. Es war die vierzehnjährige Lisbeth und es war die Erfahrung, die sie vor plötzlich auftauchenden Männern fliehen ließ.

Gleich darauf erschien hinter der donnernd gegen die Wand knallenden Tür ein unglaublich dicker Mann. Wütend ging er auf den Kerl vor dem Fenster zu, griff im Vorbeigehen ein großes Messer und öffnete den Riegel.

„Was willst du? Bei uns gibt es nichts zu strolchen oder Almosen begehren.“ Abfällig taxierte Kuno Fred und wedelte, um seine Worte zu unterstreichen, mit dem Messer gefährlich nahe vor Freds Nase.

Beschwichtigend hob Fred die Hände, bewegte sich einen kleinen, aber respektvollen Schritt weg vom Fenster. Vor dem Mann wäre er auch ohne Messer zurück gewichen. Der Kerl war nicht nur dick, er war riesig. Von einer Körpergröße, die Fred den Menschen im Mittelalter nicht zugetraut hätte.

Fred schaute auf zu seinem ersten Gesprächspartner, der ihn um einen halben Kopf überragte.

„Entschuldigt meine Aufmachung. Nichts lag mir ferner, als jemanden zu erschrecken. Ein Handstreich. Mir wurde alles geraubt. Und dies so kurz vor meinem Ziel. Ein Bestrafter der ach so unsicheren Zeiten.“

Fred rieb sich die Arme am Körper - tatsächlich fror er fürchterlich - in der Hoffnung, dass der Wirt, den er offensichtlich vor sich hatte, ein Einsehen hatte und ihn einließ.

Der Messerschwinger musterte Fred kurz von oben bis zum Fenstersims, beschloss, mit diesem elenden Wurm sowieso kurzen Prozess machen zu können und ließ ihn zum hinteren Verschlag herein.

„Setzt euch! Ich lass euch zu essen richten. Was sind das bloß für Zeiten?“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage und Kuno lamentierte und jammerte über die vielen Fremden, die sich seit Monaten in der Gegend festgesetzt hatten, keinen sicheren Schritt könne ein braver Mann mehr allein vor die Tür gehen. Geschweige denn ein ehrbares Weib.

Kuno der Wirt lief in der Küche hin und her, kratzte sich am Kopf, kratzte sich im Schritt und rammte das Messer in eine dicke Rübe.

„Am hellen Tag rauben sie einen aus, so weit ist es schon gekommen. Und das unter den Augen unseres Königs. Ein Elend, hat er doch die Welschen und die Winden selber hinter Petershausen einquartiert. Spanische, italienische Grafen, Herzöge aus Lothringen und Österreich, alle haben sie ihre Gefolgschaft im Zügel. Nur von diesen Winden vernimmt man immer wieder die übelsten Dinge. Nicht gerade im Namen des Königs. Gott möge uns beistehen und ihn schützen!“

Ach, der König ist da. War das nicht Sigismund?

„Ich dank Euch, dass Ihr mir Obdach gewährt. Es gibt also noch ein paar Menschen in diesen rauen Zeiten, die guter Taten fähig sind.“

„Ach, was palavere ich hier vor mich hin!“ Kuno rief nach seiner Küchenhilfe. „Geh Lisbeth, bring dem armen Kerl einen Teller Hafergrütze und zuallererst eine ordentliche Decke!“

Vorsichtig lugte das erschrockene Mädchen zur Tür herein. Konnte sie es wagen, die Küche wieder zu betreten? Verschämt bedeckte Fred mit dem wenigen Stoff seinen halbnackten Körper. Dem Wirt war das nicht entgangen, ein gutes Zeichen. Nur Herrschaften waren es nicht gewohnt, sich öffentlich fast nackt zu zeigen. Das gehörte sich nicht. Und verwahrlost schien er auch nicht zu sein. Menschen taxieren und schnell einschätzen können hatte dem Schankwirt schon oft geholfen. Mit weitaus schwierigeren Situationen hatte er gelegentlich zu tun, die beim Umgang mit rauen Gesellen im Handumdrehen gefährlich werden konnten. Da war es schon hilfreich, Zechprellern die leeren Taschen an der versoffenen Nasenspitze anzusehen.

Lisbeth brachte eine Decke, die muffig und fleckig war und Freds Sackrupfen in nichts nachstand. Sie reichte sie ihm mit ausgestreckten Armen, als sorgte sie sich, von seiner Nacktheit angesteckt zu werden. Dabei entblößte sie ihre Arme, die voller Striemen und blauer Flecke waren. Die Haut der mageren Hände war rissig, die blonden Haare schmutzig. Ihre blauen Augen waren kaum auszumachen, so selten hob sie den Kopf, um einen scheuen Blick zu wagen. Ihr schlichter brauner Kittel war an der Taille mit einem einfachen Strick zusammengebunden und Freds Erscheinungsbild nicht unähnlich. Ihre kleinen Füße steckten in derben Holzschuhen.

Fred wickelte sich so gut es ging in die grobe Decke. Allmählich wurde ihm wärmer, die Unsicherheit nagte nicht mehr so sehr an seinem Gemüt. Trocken schluckte er bei der Vorstellung, was passiert wäre, wenn er als Sonderling, von den Leuten gerne Ketzer genannt, entlarvt würde. Verleumdet und gebranntmarkt wäre er schnell. Am Pranger würde er sich wiederfinden, im Hungerturm dem Ende seiner Tage entgegenfaulen. Er schüttelte sich. Es fröstelte ihm plötzlich von innen heraus.

Ein derber Schlag auf den Hintern scheuchte das Mädchen an den Herd. „Wo bleibt die Grütze?“ raunte Kuno. „Dem Herrn friert und ganz ausgezehrt schaut er mir auch drein. Also spute dich gefälligst!“

Kuno nahm Freds Zittern als Folgen des Überfalls und mahnte Lisbeth zur Eile. Wechselte sogleich den Ton und widmete sich mit fürsorglicher Stimme seinem mitgenommenen Gast. „Was verschlägt den Herrn in unsre gepriesene Stadt? Gibt es zur Zeit einen Menschen auf Gottes fruchtbarem Erdboden, der nicht wegen des Konzils nach Konstanz reiste?“

Fred versuchte, seine Anspannung fallen zu lassen. Der Wirt hatte sich von seiner Körpersprache beeinflussen lassen. Innerhalb weniger Minuten wurde er vom armen Kerl zum Herrn. Ein hoffnungsvoller Anfang.

Gierig schlürfte Fred den heißen Brei. Das Brot schmeckte intensiv nach Sauerteig mit einer Spur von Rauch. Die dunkle Kruste war fest und von tiefen Rissen durchzogen. Langsam kehrten seine Lebensgeister zurück. Lisbeth stellte ungefragt einen kleinen Krug warmes Bier neben den Teller. Und verließ ihn mit einem kleinen, aber deutlichen Knicks. „Bring besser noch einen gehörigen Becher Wein!“ rief der Wirt hinterher.

„Mein Pferd ist geraubt, Satteltaschen mit Tauschwaren, meine Töpfe, meine Kleider. Alles diesen schändlichen Räubern in die Hände gefallen. Die weite Reise, völlig vergebens. Ich bin am Ende.“

Fred rutschte mit jedem Löffel Grütze tiefer in seine neue Rolle. Das Bier schmeckte lau und dünn. Bevor er seine abenteuerliche Reise antrat, hatte er sich in einer letzten Bootsfahrt eine plausible Geschichte zurechtphantasiert. Aber was hieß das schon, plausibel war sie nur für ihn. Er konnte nicht sicher sein, ob ihm die Bürger des 15. Jahrhunderts seine Räuberpistole abkaufen würden – vorausgesetzt, er würde überhaupt dort ankommen.

 

Genauso gut könnte ich im Kerker landen. Das wär´s dann wohl gewesen. Da mach ich mir Gedanken über den Füllzustand meiner Pressluftflaschen. Lächerlich.

Für ein paar Sekunden versteckte sich Fred hinter seinen Sätzen, kaschierte seine Unruhe, indem er gierig die Grütze löffelte. Konnte er sich in Sicherheit wiegen, nur weil ihn sein Magen wärmte, das Bier so schmeckte, wie er es gelesen hatte? Viele Menschen galt es zu überzeugen, Kuno war nur ein Anfang. Der war immerhin getan. Er gab sich nicht der Hoffnung hin, in der Stadt nur wohlmeinenden Bürgern zu begegnen.

Kuno holte ihn ins wahre Leben. Es hieß, zu reagieren, nicht nur zu denken.

„Wo seid Ihr denn sesshaft, welcher Euer Grund, um auf diesen doch oft unsicheren Wegen auch noch mit Töpfen beschwerlich zu reisen?“ Der Wirt wollte nicht länger warten, die Neugier gehörte schließlich zum guten Recht seiner Zunft. „Gleichwohl...“

Fred zuckte zusammen. Ist der Dicke mit dem beweglichen Hirn über etwas gestolpert?

„Gleichwohl melden hin und wieder meine Gäste, dass auch Fremde und zugereiste Händler täglich die sicheren Mauern von Konstanz verlassen, um bis auf eine Meile durchs Aichhornwäldchen zu spazieren. Kein Flecken, in dem man einen Schnapphahn vermuten würde. Dort gibt es Wirte, die allerlei gewürzten Wein ausschenken, gebratene Hühner, auch andere ungewöhnliche Speisen servieren und was das Herz sonst noch so begehre. Auch hübsche Frauenzimmer.“

Kuno lachte feist und haute sich auf die fetten Schenkel, dass es nur so staubte. „Bei mir erbeutet Ihr dergleichen natürlich nicht, das sollt Ihr gerne glauben. Die arme Lisbeth hat sich allerdings manch gierigen Blicken auszusetzen. Aber trinkt doch einen guten Schluck und erzählt. Ein warmes Stück Dohle wird sich gewiss noch finden.“

Kuno freute sich an seinen eigenen Späßen und rückte Fred näher, als ob er seine Wahrheit körperlich spüren wollte.

Fred erzählte von seinen Absichten, als Koch während des Konstanzer Konzils sein Glück zu suchen. Die Gegend um Würzburg, wo er bisher in Lohn und Brot stand, bot kaum mehr eine Bereicherung und so lockte ihn die Nähe des königlichen Hofstaates und der bischöflichen Eminenzen. „Für einen flinken Koch gibt's immer einen heißen Herd.“

Der dicke Wirt goss Fred vom gewärmten Wein ein und schien zufrieden. Irgend etwas hatte seinen unsteten Blick zur Ruhe, seine Augen zum Leuchten gebracht. Still saßen sie gegenüber, ganz genau studierte er diesen Fremden. Fred griff den getriebenen Becher, versuchte in kleinen Zügen den fremden Trank, strich sich über den gefüllten Bauch und lehnte sich zurück, um in Ruhe die Küchenstube zu betrachten. Spürte den deutlichen Spuren von Zimt und Nelken nach, die sich auf seiner Zunge niedergelassen hatten. Ganz hinten im Gaumen verlor sich fast eine Spur Ingwer. Erinnerte an besonders gelungenen, abgekühlten Glühwein.

Die letzten Holzscheite verglühten im Ofen, den für späte Gäste warm gehaltenen Eintopf hatte Lisbeth an den Rand des Herdes geschoben und zweimal betrat sie mit schmutzigen Tellern die Küche. Kuno erhob sich energisch, der Schemel kippte scheppernd um. Gemächlich schritt er durch die Küche, dachte nach, sortierte die frischen Eindrücke, betrachtete seinen Gast.

„Ihr behagt mir“, flüsterte er mehr, als dass es ein Urteil werden sollte. „Mein Ansinnen: ihr bekommt von mir Kleidung und alles Nötige, um schicklich unter Menschen zu treten. Dafür arbeitet ihr in meiner Küche. Aber nicht geringer als allerhand Wochen. In diesen Zeiten kann ich eine flinke Hand gut gebrauchen, die weiß, wie es gelingen kann.“

Kuno kratzte sich an seinen üblichen Stellen, stemmte sich auf den groben Tisch mitten im Raum, auf dem sich schmutziges Geschirr stapelte, der aber auch zur Vorbereitung von Fleisch und Gemüse diente und verbreitete durch seine ausladenden Bewegungen einen gehörigen Schwall Wirtsschweiß. Außerdem roch es säuerlich - eine Mischung aus vergorener Kohlsuppe und schimmligen Zitronen – ein Geruch, der für Fred in einer Küche nichts zu suchen hatte. Hatte er denn in dieser Küche etwas zu suchen? In diesem Umfeld konnte er nur gewinnen. Mit welchem Glück hatte es ihn nur hierher verschlagen...

Fred hatte vor seiner Abreise so viel über die Eßgewohnheiten um 1400 gelesen, wie er finden konnte. Und erfasste zwei Hauptunterschiede: was die Armen aßen und was die Reichen aßen. Bis ins 19. Jahrhundert ernährten sich die Armen hauptsächlich von Gemüse- oder Mehlsuppen, dazu gab es Brot. Zur Abwechslung Hafergrütze. Diese ‚Gerichte’ stellten kein Problem in der Zubereitung für ihn dar, die einseitige Ernährung konnte er sich merken. Es war aber nicht sein Ziel, für die Armenspeisung zu sorgen. Er wusste, es wurde viel mit Zucker gekocht, Obst oft nur gedörrt angeboten und Knollengemüse meist geschmort. Ob Kuno mit seiner derben Wirtsküche eine große Hilfe sein würde, diese spärlichen Kenntnisse zu vertiefen, bezweifelte er. Andererseits: war er in der Lage, es sich aussuchen zu können?

Unruhig wälzte er sich auf seinem harten Strohlager durch die erste Nacht. Er hatte es geschafft, war ins Mittelalter gereist, eine Zeitreise, seine Erfindung. Wie würde es nun weitergehen und - was würde das alles aus ihm machen?

Wie war er überhaupt hierher gekommen? Noch vor ein paar Stunden tauchte er im Bodensee. Und meinte noch immer den kalten, ungewohnten Geschmack seines Mundstücks zu spüren.

Des Mundstücks, das kein Fremdkörper mehr war, durch das er aus dem Vacumator das Zeiten verändernde Gemisch saugte. Ruhig beobachtete er die Sauerstoffbläschen, sie schwebten im schwarzen Wasser, begleiteten ihn. Die Stille entspannte ihn völlig – er hatte die Zeit verdrängt.

Fred erschrak.

Wie lange hatte er die Instrumente nicht kontrolliert? So plötzlich wie er jegliches Zeitgefühl verloren hatte ohne einschätzen zu können, wann das war, so plötzlich drängte sich der Reflex, die Tauchzeit nun ganz wichtig zu nehmen, nach vorn. Eine Handvoll Messgeräte baumelte an ihm. Sein erster Blick fiel auf den großen Tiefenmesser. Dreimeterfünfzig, das war in Ordnung. Die Tauchrichtung brachte ihn nach dem befürchteten Kontrollverlust im Moment nicht weiter, die lebenswichtigste Kontrolle war die Anzeige der Flaschenfüllung.

Er wollte nicht stundenlang tauchen, aber der Plan war klar. Er hatte nicht viel vorzuweisen: eine unbewiesene Berechnung, wann er auftauchen sollte, falls eintrat, was er hoffte, sich aber mit keiner Faser seines Verstandes vorzustellen wagte. Für dieses vage Erlebnis durfte er maximal fünfundvierzig Prozent des Flascheninhaltes verbrauchen, für den Hinweg, wohin auch immer. Weitere fünfundvierzig Prozent als Rückfahrkarte, zehn Prozent Reserve. Sicherheitshalber. Sicherheitshalber hätte er diese Reise allerdings gar nicht antreten sollen. Reserve wofür? Wo würde er ankommen?

Der See lag ruhig, zumindest unter Wasser, was ihn oben erwartete, war außerhalb seines Vorstellungsvermögens. Dem Wasser spürte er nicht an, ob er in einer anderen Epoche unterwegs war, die Fische sahen nicht anders aus als sonst. Ein dichter Schwarm, womöglich Renken, kreuzte sein Blickfeld, der volle Mond warf einen trüben Schatten von ihnen ins Nichts darunter.

Begleitete ihn dieser Schwarm oder fantasierte er schon?

Mein Gott, fuhr es ihm mit einer gehörigen Portion Pressluft durch den Kopf. Die Fische! Warum bin ich nicht gleich drauf gekommen?

Es prickelte in ihm, als hätte er eine Flasche Dom Perignon aus seiner Pressluftflasche gesaugt.

Zu viele und zu große Fische. Nicht leer gefischt, nicht abgewandert, nicht unrentabel. Der See. Er lebt. In der Blüte der Zeit. Welcher Zeit? Verdammt. Die Anzeige!

Achtundfünfzig Prozent Inhalt. Und er würde eine Weile brauchen, um aufzutauchen. Würden drei Prozent reichen? Der Kompass behauptete, dass er Richtung Osten unterwegs war. Links abbiegen, wenn alles gut ging, lag hier nördlich das Ufer. Mechanisch schlugen die langen Flossen durchs Wasser.

Nicht gleich ans Ufer, erst auftauchen, hier, irgendwo hier draußen.

Ein mulmiges Gefühl bedrängte ihn, unerwartet und schnell breitete es sich wie ein Geschwür in ihm aus. Die Flossen wurden schwerer, die Beine weigerten sich, in Bewegung zu bleiben. Der Bauch bestimmte. Das Gehirn musste die Anweisungen nur weitergeben. Nicht weiter. Höher. Fred hatte Angst. Eine Angst, die ihn lenkte. Er ließ es zu.

So weit war es gekommen.

Vierundfünfzig Prozent. Verdammter Mist, registrierte er panisch.

Auftauchen. Der Rest wird geschwommen und wenn´s bis in die Steinzeit ist.

Offenes Feuer. Fred entdeckte offenes Feuer am Ufer. Zumindest sah es so aus. Fackeln säumten das Ufer. Der See schlug ihm kleine Wellen ins Gesicht, hielt ihn wach, um bereit zu sein. Nicht für den neuen Tag, der hatte noch nicht begonnen. Es war die andere Zeit, die vor ihm lag, sie war aufgetaucht, ließ ihn noch im Unklaren darüber, ob das, was er zu sehen glaubte, Wirklichkeit war. Der Wind kam vom Ufer, brachte würzigen Rauch und unvertraute Klänge. Schalmeien? Betörende Töne, die wie ein selbstknüpfendes Netz das deutlich hörbare Stimmengewirr bündelten.

Langsam, lauschend schwamm er näher. Zweihundert Meter waren es wohl bis ans Ufer, zu diesem imposanten Bauwerk. Die Fassade flackerte, als sandte es Leuchtsignale auf den See hinaus, um den heimkehrenden Fischern den rechten Weg zu weisen. Unstetig, mal hier, mal dort heller blinkend. Nun wies es Fred die Richtung. Es war das Konzilgebäude, von Fackeln eindrucksvoll beleuchtet.

Konstanz! Ich habe es tatsächlich geschafft.

Er musste an Land gehen. Es wurde Zeit. Am 13. Mai 1415.

Er nahm die Flossen ab, um sich nicht im Schlick zu verheddern, versank knöcheltief im Morast. Spürte seinen heftigen Herzschlag, wurde aufgeregter, mit jedem Schritt, der ihm das Ufer dieser Zeit näher brachte. Seine Vorstellungen vor der Reise waren zu abstrakt. Jetzt war es, als ob das Schilf ihn schwerer als nötig ans Ufer gelangen ließ.

Ein gutes Stück entfernt, weit genug von den letzten Lichtern, versteckte er seine Ausrüstung, prüfte die Flaschen, schraubte gewissenhaft die Ventile zu. Seine Rückfahrkarte, diese kleine, unscheinbare Kugel baumelte in einem am Bleigürtel verknoteten Säckchen. Zaghaft nahm er die Kugel in die Hände, wie ein Teil von sich, unglaublich wertvoll war sie in diesem stillen Augenblick. Nur der Wind war um ihn herum, und die wispernden Laute, die das fast vier Meter hohe Schilf verbreitete, als wollte die Bewegung Fred beruhigen und ihn endlich in Sicherheit wiegen.

Irgendwie kam ihm dieses Bild vertraut vor. Hatte er nicht vor längerer Zeit an einem anderen Ort wogendes Schilf vor sich, das ihn gefangen nahm? Allerdings voller negativer Erinnerungen. Sein Haus, sein Steg, sein Schilf.

Bibbernd - war es die Ungewissheit, die Kälte - kauerte er hinter den Büschen, deren andere Seite den Eintritt in eine fremde Welt verhieß. So musste sich Neugeboren anfühlen. Nackt, kalt, wehrlos. Aber nicht hoffnungslos.

Der erste Schritt war getan, zurück auf keinen Fall. Nicht jetzt. Wann? Steif wickelte er sich den Kartoffelsack um. Mit Sand und etwas Lehm versuchte er, den Zeitsprung unsichtbarer werden zu lassen. Seine üppige Körperbehaarung würde den Eintritt in diese Gesellschaft etwas erleichtern. Außerdem passte es besser zu seinem Sackrupfen.

Ein steiniger Weg. Die Füße schmerzten. Das Bewusstsein trommelte sich in den Vordergrund. Er fürchtete sich, war erschöpft, unsicher und aufgeregt, alles gleichzeitig und überall. Die Arme baumelten an ihm, als gehörten sie nicht dazu, zu dieser Gestalt, in der ein hasenfüßiger Geist hauste.

Die Schritte wurden kleiner, seine Körperspannung verschwand, kampflos überließ er sich schleichender Müdigkeit.

Weit weg von seinem Versteck schimmerten die ersten Fenster, wiesen undeutlich die Richtung zum Rand der Stadt.

Die Keramikscherbe stammte also tatsächlich aus der von Leon vermuteten und durch Freds Destillation bewiesenen Zeit und Gegend. Die Menschen, die aus allen Himmelsrichtungen herbeiströmten, die sich zu diesem einmaligen Ereignis in und um Konstanz versammelt hatten, bescherten nicht nur den Goldschmieden arbeitsreiche Tage und Monate. Die Stadt platzte aus ihren Nähten.

 

Mit dem Wohlstand der Städte wuchs das Selbstbewusstsein. Unabhängig von den Fürsten, frei von der Willkür des Königs. In den Gilden und Zünften lag die Hoffnung der Bürger, sie lenkten die Geschicke ihrer Städte selbst, um nicht länger unter dem oft auspressenden Schutz der Landesherrschaft zu stehen. Sie fühlten sich in den Jahren des Wachstums stark genug, sich aus eigener Kraft gegen Eindringlinge wehren zu können. Wie sollte sie auch ein König schützen, der weit entfernt seinen Hofstaat die Kornkammern einer Pfalz plündern ließ, bevor der gefräßige Tross zur nächsten Pfalzstadt zog? Welche Soldaten wollte er schicken, wenn sie doch mal hier, mal da ihrem in ständige Scharmützel verwickelten König das gesprochene und geschriebene Recht durchsetzen mussten?

War es bisher schon nicht ohne Glanz, erblühte Konstanz mehr und mehr, lag es doch eingerahmt von mitteleuropäischen Handelswegen strategisch günstig im Herzen des damaligen Europa. Handwerker bevorzugten die ummauerte Stadt. Königspfalzen, Bischofssitze waren attraktiv und versprachen Sicherheit und geregelte Umsätze. Selbst Bauern zog es hinter die Mauern. Sie waren es leid, nur für den Bedarf eines Grundherren ihr Feld zu bestellen.