Es begann in der Abbey Road

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Ich hatte den Musiker noch nie gesehen. Um 10.20 Uhr, als die Session schon im vollen Gang sein sollte, ging ich nach oben und wartete auf die Ankunft des unbekannten Musikers. Ein Mann mit einer Halbglatze, gekleidet in einen schwarzen Mantel und eine Nadelstreifenhose, der einen Instrumentenkoffer trug, betrat das Gebäude.

Wütend ging ich auf ihn zu und meinte: „Es wird auch verdammt noch mal Zeit. Ist Ihnen überhaupt klar, dass wir auf Sie warten mussten? Wir warten schon seit gestrichenen 20 Minuten.“

„Wovon reden Sie überhaupt?“, fragte er mich.

„Sie wissen wohl am besten, was ich meine. Die Aufnahme sollte um Punkt 10 Uhr beginnen, und Sie lassen uns hier hängen.“

„Wissen Sie überhaupt, wer ich bin?“, fragte er mit eiskalter Stimme.

Plötzlich tauchte ein schrecklicher Zweifel im hinteren Teil des Martin-Gehirns auf und zwickte mich. „Aber sicher – Sie sind der Organist … oder etwa nicht?“

„Nein, ich bin nicht der Organist. Ich heiße Fisk, und ich bin der Geschäftsführer dieser Firma.“

Gespenstische Stille. Hatte ich eine aussichtsreiche Zukunft verspielt? Ich entschuldigte mich unterwürfig und versuchte zwischen den Paneelen in den Boden zu versinken. Hoffentlich merkte er sich bloß nicht meinen Namen! Die nächsten Tage verbrachte ich in ständiger Furcht und Angst, da ich mich ihm gegenüber mehr als ungehörig verhalten hatte. Glücklicherweise gab es kein Nachspiel, wofür ich dem guten Mann wohl dankbar sein muss.

Der oberste Manager der Firmengruppe war ein vollkommen unterschiedlicher Charakter, den man den Spitznamen „der japanische General“ gegeben hatte. Gespräche mit ihm bestanden im Extremfall in wenigen Silben. Ich wechselte kaum ein Wort mit ihm, da Oscar für die direkte Kommunikation mit „Gott“ zuständig war, doch ich nahm des Öfteren seine Anrufe entgegen, bei denen er sich mit einem simplen „Mitell hier“ meldete. Danach herrschte Stille, eine Stille, die eine dringliche Aufforderung zum Sprechen ausdrückt. Und so redete man wenige Worte. Es folgte wieder eine lange Pause. Der Mann sprach einfach kein Wort zu viel.

Obwohl die Plattenlabels zu der Zeit einen großen Teil der Einnahmen für die EMI erwirtschafteten, wurde die Unterhaltungsindustrie meiner Meinung nach von der Geschäftsführung argwöhnisch beäugt. Vermutlich hätten sie lieber Fahrräder als Schallplatten produziert. Ich glaube auch, dass sie die hohen Kosten der Umstellung auf die Produktion von LPs fürchteten. Allerdings hatten sie keine Entschuldigung, nichts über den potentiellen Marktwert zu wissen, denn jeder wies sie darauf hin – Oscar, Leonard Smith und Norman Newell vom Pop-Segment der Columbia und Walter Legge, der für die Klassik Columbias verantwortlich zeichnete.

Damals konnte Walter Legge als die Primadonna der Welt der Klassik bezeichnet werden. Er war mit Elisabeth Schwarzkopf verheiratet und engagierte sich für den Unterhalt des originalen Philharmonia Orchestra, was ihm ganz offensichtlich nicht schadete. Schwarzkopf und das Orchester waren nur zwei der vielen Künstler und Ensembles, die unter seiner Leitung produzierten. Er war ein typischer Einzelgänger. Ich verehrte Legge, da er einen Hauch frischen Windes in die damals knochentrockene und gruftähnliche Struktur der EMI brachte.

Doch ein Oscar Preuss war nicht weniger außergewöhnlich. Als ich zu ihm stieß, muss er um die 60 gewesen sein. Er hatte die berufliche Laufbahn als Tontechniker-Lehrling im Alter von 14 oder 15 Jahren begonnen, also kurz nachdem Edison den Startschuss für eine technologische Revolution gab. Er fertigte sogar noch die Membran und die Nadeln für die ersten Grammophone an, darunter sogar noch die Zylinder-Maschinen. Damals musste sich der Tontechniker, der die Aufnahme leitete, noch sein Equipment selbst anfertigen. Über die Jahre hatte er die Karriereleier erklommen, bis er schließlich Parlophone vorsaß und auf einen riesigen Erfahrungsschatz zurückblicken konnte.

Während des ersten Arbeitsmonats bestand meine Aufgabe darin, Oscar auf Schritt und Tritt zu folgen und so viel wie möglich von ihm zu lernen. Nach einer Weile übertrug er mir kleinere Aufgaben. Er fragte mich: „George, vielleicht bin ich morgen nicht pünktlich im Büro. Könntest du bitte mit den Aufnahmen beginnen?“ Und ich war pünktlich vor Ort und organisierte die Tontechniker und die Musiker, sodass wir die erste Aufnahme schon „im Kasten“ hatten, bevor Oscar herein gestürmt kam und kommentierte: „Das ist überhaupt noch nicht gut. Da müssen wir was anderes versuchen.“ Es kostete einiges an Überwindung, mich bei den Musikern vorzustellen und sie zu informieren, dass ich mehr oder weniger die Verantwortung trug. Ich hege keine Zweifel, dass sie mich anfänglich als einen Grünschnabel betrachteten, doch mir war die Autorität übertragen worden (wenn auch nicht das Gehalt), und somit mussten sie mich tolerieren.

Die wohl beängstigendste Aufnahme-Session war meine erstmalige Arbeit mit Sidney Torch und dem Queen’s Hall Light Orchestra. Ich arbeitete im Studio 1 in der Abbey Road, im Grunde genommen fast schon eine Kathedrale mit den Ausmaßen von geschätzten 2.000 Quadratmetern. Sogar mit der guten, alten Compton-Kirchenorgel noch an ihrem Platz (auf der Fats Waller seine einzigen Orgel-Aufnahmen machte) war der Raum riesengroß. Oscar hatte mir gesagt, dass er erst ab 11 Uhr da sein werde, also eine Stunde nach Aufnahmebeginn. Ich glaube, dass es ein beabsichtigter Schachzug von ihm war, um zu prüfen, wie ich mich schlage. Hautsächlich erinnere ich mich an die lange Wegstrecke durch den scheinbar endlosen Raum und durch das versammelte 45-köpfige Orchester, bis ich endlich vor Sidney Torch stand, der auf seinem Dirigentenpodest thronte. Ein Schlagmann beim Kricket fühlt sich wahrscheinlich ähnlich, wenn er zur Spielfeldlinie auf dem Platz in Lords schreitet.

„Guten Morgen, Mr. Torch“, quietschte ich mit einer piepsigen Stimme. „Mein Name ist George Martin. Ich bin Oscars Assistent und werde mit den Aufnahmen beginnen.“

Ich machte mir vor Angst fast in die Hose, da ich wegen des Reflexes auf meine Unsicherheit offensichtlich ein wenig albern und unbedarft aufgetreten war, doch Sidney blieb nett und gelassen. Er lächelte wohlwollend, erklärte, das sei schon in Ordnung, und gab mir mehr oder weniger zu verstehen, dass er mich unbehelligt lassen würde, wenn ich ihm nicht in seine Arbeit pfuschte.

Nach der ersten Begegnung kamen wir gut miteinander aus. Allerdings wurde er in kritischen Situationen äußerst jähzornig. Ich habe ihn dabei beobachtet – wenn das Orchester nicht seine Vorstellungen umsetzte – wie er den Taktstock durch den ganzen Raum schleuderte (und das ist ein sehr weiter Wurf). Dabei schrie er: „Herrgott noch mal, Gentlemen. Nun spielen Sie es doch endlich richtig!“

Ich musste schnell lernen und lernte aus meinen Fehlern. Einen der ersten Schnitzer leistete ich mir 1950, also schon zu Anfang meiner Anstellung. Man schickte mich in ein Lichtspielhaus, um mir einen Film anzusehen, in dem Mario Lanza das Thema „Be My Love“ sang. Immer noch stark von der Klassik geprägt, empfand ich den Gesang des Mannes als Beleidigung durch und durch. Er behandelte die Melodie mit roher Gewalt und Ignoranz. Ich verabscheute jede Sekunde und verfasste daraufhin einen gehässigen Bericht, der aus der Feder eines Musikkritikers hätte stammen können, der alles von einer erhobenen, avantgardistischen Warte aus analysiert. Ich kritisierte das Stück als einen kitschigen und bis ins letzte kalkulierten Song, in dem jedes nur erdenkliche Klischee verwendet wird.

Und so kümmerten wir uns nicht weiter um diese Nummer. Doch in meinem jugendlichen Leichtsinn hatte ich die auf der Hand liegende Möglichkeit übersehen, dass aus dem Stück ein Hit werden konnte. Und genau das geschah natürlich.

Ich musste weiteres Lehrgeld bezahlen, als Oscar mich mit der Leitung von Jazz-Sessions beauftragte, zusätzlich zu den Klassik- und Easy-Listening-Aufnahmen. Ich begutachtete eine Plattenaufnahme von Humphrey Lytteltons Formation. Sie spielten einige Stücke, wobei ich speziell dem Bassisten kritisch zuhörte. Scheinbar erzeugte er mit seinem Instrument nur ein dumpfes Ploppen.

Ich beobachtete den Musiker noch etwas länger und fragte ihn dann: „Könnten Sie die Noten nicht etwas deutlicher spielen?“

Nach einer kurzen Pause reagierte der schockierte Mann und schleuderte mir eine nicht druckfähige Antwort ins Gesicht. Die Essenz seiner Meinung bestand jedenfalls im Vorwurf, dass ich keine Ahnung von den damals modernen Spieltechniken des Kontrabasses hätte – was sogar stimmte.

Unbeeindruckt versuchte ich ihm meine Empfindung zu vermitteln: „Es klingt so, als würden Sie mit Boxhandschuhen spielen.“

Ich lag nicht falsch, doch in dem Moment explodierte Humph. Er beschimpfte mich mit Ausdrücken, die ich in meinem ganzen Leben noch nie gehört hatte, und rannte wutentbrannt aus dem Studio.

Es war klar – jetzt brauchte ich Hilfe von höchster Stelle. Ich suchte Oscar in seinem Büro auf und erzählte ihm von dem Vorfall, was zu einer weiteren Explosion führte. Oscar schrie: „Du gehst jetzt sofort, holst Humph um alles in der Welt wieder ins Studio zurück und entschuldigst dich bei allen Anwesenden“, befahl er mir. Und dann drehte er sozusagen das Messer um, das in meiner Brust steckte: „Wenn du uns Humph vergrault hast, kannst du deinen Hut nehmen.“

Außerhalb des Gebäudes fand ich den hochgradig verärgerten Künstler, der die Straße auf und ab stampfte. Ich biss in den sauren Apfel, entschuldigte mich bei ihm für mein dummes und ungebührliches Verhalten und überzeugte ihn letztendlich, die Session weiterzuführen. Damit – aber das verriet ich ihm damals nicht – war der Job wieder gesichert.

Später entwickelte sich zwischen Humph und mir eine innige Freundschaft. Gemeinsam produzierten wir viele Platten, wie zum Beispiel „Bad Penny Blues“. Ich hatte die Lektion gelernt. Aus musikalischer Sicht hatte ich recht gehabt, doch nicht diplomatisch reagiert. Sine qua non – ein taktvolles Verhalten ist die unerlässliche Voraussetzung für die Arbeit eines Plattenproduzenten. Es ist eine schwierige Gratwanderung. Man darf sich nicht jeder kleinsten Laune eines Künstlers unterwerfen, aber auch selbst nicht zu unbedarft und massiv auftreten. Ich musste eine geeignete Umgangsform erlernen, um dem Musiker Fehler aufzuzeigen, ohne ihn vor den Kopf zu stoßen. Man sollte führen, aber durfte auf gar keinen Fall Druck ausüben. Damals, wie auch heute, war die psychologische Feinfühligkeit das bedeutendste Charakteristikum eines Plattenproduzenten.

 

Eine weitere, wenn auch weniger bedeutende Eigenschaft ist die Trinkfestigkeit. Sie wurde besonders gefordert, wenn ich mit schottischen Künstlern arbeitete. Parlophone hatte sich auf diesem Markt etabliert. Es war das Plattenlabel in Schottland und veröffentlichte Reels, Jigs und ähnliche folkloristische Musik. Oscar leitete für gewöhnlich die Sessions mit Robert Wilson. Auch standen bei uns die Akkordeonisten Mickey Ainsworth und Jimmy Blue unter Vertrag, und ich musste nach Schottland reisen, um sie aufzunehmen.

Die beiden waren leidenschaftliche Whiskey-Trinker. Wir begannen die Aufnahmen um 10 Uhr morgens, und schon nach eineinhalb Stunden meinten die beiden betrübt: „Wir arbeiten so hart, dass uns der Durst plagt, George. Lass uns uns doch kurz einen genehmigen.“ Und so ließen wir alles stehen und liegen und begaben uns in die Bar an der Ecke. (In Schottland gibt es an jeder Ecke eine Bar.) Dort bestellten sich die beiden ihre „Erfrischungen“, immer doppelte, hochprozentige Whiskeys.

Johnny Walker oder Bell waren verpönt. Es war wohl Pride of Methlane oder eine andere unbekannte Marke mit dem Effekt reinen Feuerwassers. Ich konnte mich nicht vor den Umtrunken drücken, bei denen sich die beiden die Drinks hinter die Binde kippten, ähnlich Desperados in einem stilechten Western. Stand ein Glas erst mal vor ihnen, wurde es augenblicklich runtergekippt und sofort mit einer dringenden Bitte zum Barmann zurückgeschoben: „Ach, bitte noch einen.“

Doch was mich am meisten verblüffte – der Alkohol schien ihnen nichts anhaben zu können. Sie tranken während einer Session jeder eine halbe Flasche, wodurch ihre Finger noch schneller über die Tastatur des Akkordeons flitzen. Diese Fähigkeit stellte ich auch bei Annie Shand fest, einer Pianistin mit einer kleinen Band in Aberdeen. Ich nahm sie im dortigen Theater auf. Ungefähr zur Mitte der Aufnahmen hielt sie plötzlich inne, kramte in der Handtasche und zog eine große Whiskeyflasche heraus. „Möchte hier einer ’nen heißen Schluck?“, fragte sie beim Abschrauben des Verschlusses ihres Medizinfläschchens. „Heiß“ bedeutete in dem Fall, einen großen Schluck, der dem Format ihrer Handtasche nahezu gleichkam, die sie offensichtlich als persönliche Bar bei sich trug. In Annies Leben zählte der Whiskey zu den Grundnahrungsmitteln.

Mal abgesehen von diesen Künstlern, die ich eher als Leichtgewichte bezeichnen möchte, hatten wir den großartigen Jimmy Shand (nicht mit Annie verwandt) unter Vertrag. Ich arbeitete häufig mit ihm und wurde mit schottischer Musik regelrecht „geimpft“, wogegen man sich gar nicht wehren konnte. Damals feierte schottische Tanzmusik in Großbritannien einen Erfolg nach dem anderen, und Jimmy wäre es beinahe gelungen, mich für die Musik zu begeistern. Jedes Mal, wenn ich zu ihm reiste, nahmen wir ungefähr 48 Titel auf – 12 oder 14 täglich – was dem Vorrat für ein Jahr entsprach, in dem wir sie nach und nach auf den Markt brachten.

Jimmy war ein schüchterner und zurückhaltender Mensch – und, was ungewöhnlich für einen schottischen Musiker ist, abstinent –, der mit einem starken, pfeifenden Akzent sprach. Ich würde ihn als sehr höflich beschreiben, obwohl er Menschen generell misstraute, was aber möglicherweise an dem generellen Argwohn der Schotten gegenüber „Fremden“ lag. Allerdings teilten wir eine Gemeinsamkeit. Ich hatte mir gerade mein erstes motorisiertes Vehikel zugelegt, eine alte Ariel VB 600 mit einem Seitenmotor und einem Beiwagen. Wie sich herausstellte, mochte Jimmy, dem alles Technische eine Riesenfreude bereitete, besonders Motorräder – und das mit einer beispiellosen Leidenschaft. Er besaß eine alte, zerbeulte Maschine, die er mit viel Liebe pflegte. Seine Lieblingsbeschäftigung, mal abgesehen von seiner Musik, die er sehr wichtig nahm, bestand darin, auf dem Motorrad mit einer Geschwindigkeit von vielleicht 90 Meilen die Stunde durch die ländlichen Gefilde Schottlands zu flitzen, dabei die Mütze tief ins Gesicht gezogen.

Dann gab es noch unseren „lateinamerikanischen“ Schotten Roberto Inglez, der tatsächlich Bob Ingles hieß. Er hatte seine Lektionen gelernt und war der umsatzstärkste Interpret des Latin in Lateinamerika! Er spielte „Einfinger-Piano“ (wie wir es scherzhafterweise nannten) vornehmlich auf den tiefen Tönen und achtete stets auf luxuriöse Orchestrierungen, die im Vergleich zu Edmundo Ross geschickter gesetzt waren, aber auch kitschiger klangen. Er setzte Streicher ein, ja sogar ein Horn, welches Dennis Brain für ihn einspielte.

Seine exotische Tarnung hätte nicht besser sein können. Eines Tages spielte er im Studio 2, als uns einige Vertreterinnen besuchten, die einen Eindruck von der Plattenproduktion gewinnen wollten. Sie standen mit offenen Augen und Mündern im Regieraum, als Bobs Stimme mit einem starken Glasgower Akzent über das Raummikro erklang.

„Oh“, meinte eins der Mädchen erstaunt. „Das ist ja tatsächlich ein Ausländer, nicht wahr?“

Bob gehörte zu den ersten Künstlern, deren Platten ich „pflanzen“ wollte – zumindest versuchte ich das. Oscar hatte sich entschieden, dass das ein Teil meiner Ausbildung sei. Ich musste also die Platte bewerben, was bedeutete, die BBC zu besuchen, damit sie dort gespielt wurde. Es wurde leider kein atemberaubender Erfolg. Ich schnappte mir eine von Bobs Platten und traf mich mit Jack Jackson, der sie in seiner Saturday Night Show spielen sollte, der Sendung mit Tiddles the Cat. Er zeigte sich sehr zuvorkommend, aber unbeeindruckt von meinen Überzeugungsversuchen. „Bringen Sie mir doch Platten von Guy Mitchell, Mitch Miller oder ähnlichen Interpreten. Das interessiert mich.“ Ärgerlicherweise konnte ich ihm keine vergleichbaren Künstler anbieten.

„Sehen Sie mal, mein Sohn“, erklärte er mit nachgiebiger Stimme. „Ich möchte mich Ihnen gegenüber nicht unhöflich verhalten. Wenn Sie mir eine für mein Programm passende Platte bringen, werde ich sie gerne vorstellen. Aber Roberto Inglez! Na, hören Sie mal …!“

Ich war am Boden zerstört.

Godfrey Winn war einer der Männer, die meine Platten in ihrer Sendung spielten, und zwar bei Housewives’ Choice. Über die Zeit entwickelte sich zwischen uns eine angenehme Beziehung. Eines Tages lud ich ihn zum Mittagessen in ein nobles Restaurant in der Ebury Street ein. Zuvor hatte ich mir 5 £ Spesen geben lassen. Wie üblich fuhr ich mit dem Motorrad zum Treffpunkt, um die Taxikosten zu sparen.

Nach der Mahlzeit bot er mir an, mich in seiner Edelkarosse, ich glaube, es war ein Bentley oder ein anderes Gefährt gleichen Kalibers, zum Studio zurückzubringen. Was sollte ich jetzt bloß machen? Ich hatte, ohne mit der Mine zu zucken, die 5 £ hingeblättert. Meine Bestrebungen, ihn zu beeindrucken, wären zunichtegeworden, hätte ich ihm von meiner Ankunft auf dem Motorrad erzählt – obwohl das heutzutage natürlich einen gewissen Schick ausdrücken würde. „Nein, mach dir keine Mühe. An der Ecke kann ich problemlos ein Taxi heranwinken. Trotzdem vielen Dank.“ Doch ich konnte ihn nicht abhalten. Höflicher Mensch, der er nun mal war, bestand er darauf, mir ein Beförderungsmittel zu organisieren. Und er wartete sogar, bis ich Platz nahm. Ich stand nun vor der peinlichen Aufgabe, ans Glas zu klopfen und den Fahrer zu bitten: „St. John’s Wood Studios, bitte.“

Hundert Yards die Straße hinunter – Godfrey befand sich nun in sicherer Entfernung – klopfte ich wie ein Wahnsinniger an die Scheibe und schrie: „Lassen Sie mich bitte raus. Bitte lassen Sie mich raus!“ Zweifellos dachte der Fahrer, ich sei übergeschnappt. Was macht man nicht alles, um das gute Image der Firma aufrechtzuerhalten!

Das stand für mich an erster Stelle und mag einer der Gründe dafür gewesen sein, warum ich mich beim Platten-Pflanzen nicht sonderlich geschickt anstellte. Ich war ein Schaf unter Wölfen und bemerkte das nicht. Damals gab es einige große Skandale in Bezug auf der Verhältnis Plattenindustrie/Radiomoderatoren, und so setzte die meisten Firmen Strohmänner ein, die den Job für sie erledigten, doch das war niemals Oscars Stil. Er zählte zu den rechtschaffenen Menschen, und somit dachte er nicht im Entferntesten daran, mithilfe zwielichtiger Gestalten zu arbeiten. Dadurch erfuhr ich erst relativ spät von diesen fragwürdigen Zuständen. Und mal ganz davon abgesehen, empfand ich die EMI als hoch seriös.

Für die Firma zu arbeiten ließ sich wohl mit einer Anstellung bei Rolls Royce in den Dreißigern vergleichen. Sie waren unglaublich stolz auf ihr „By Appointment“-Zeichen, auf das Hund-und-Grammophon-Label von HMV und weitere unverkennbare Charakteristika. Die Entlohnung bei der EMI kann nur als abgrundtief schlecht bezeichnet werden, aber man durfte sich des Privilegs rühmen, zu einer solchen Firma zu gehören, vergleichbar mit der Zugehörigkeit zur BBC heutzutage, allerdings noch ausgeprägter.

Was die Formalitäten anbelangte – da gab es keinen großen Unterschied zum öffentlichen Dienst. Jeder musste einen Anzug mit Krawatte tragen und konnte sich nicht erlauben, in schlabberigen Jeans aufzutauchen. Sogar im Studio durfte die Krawatte nicht abgelegt werden, und die Tontechniker arbeiteten in weißen Kitteln, wodurch sie wie OP-Assistenten aussahen. Ich kann mich gut an Peter Brown erinnern, einen Mitarbeiter, der es mittlerweile bis ganz nach oben geschafft hat. Er besaß nur einen Anzug, und zwar das Ausmusterungskleidungsstück, das ihm die dankbare Nation spendierte! Er kam Tag für Tag in dieser schäbigen Kluft zur Arbeit.

Der Kleidungskodex galt auch für Musiker. Sogar die Jazz-Schlagzeuger spielten in einem Anzug mit einer eng geschnürten Krawatte. Es war schon eine recht dümmliche Form des Snobismus, die zu lächerlichen Zwischenfällen führte. Eines Tages wollte Eddie Fisher, damals ein Riesenstar, die Studios durch den Haupteingang betreten. An dem Tag standen Plattenaufnahmen auf dem Programm, doch er trug seine amerikanische Uniform. Unglücklicherweise bekleidete er nicht den Rang eines Offiziers, und so bat ihn der Portier, die Studios bitte doch durch den Hintereingang zu betreten. So bewertete man also nach dem Krieg den Dienstgrad einer Person!

Allerdings behandelte man die ganz großen Stars in der Regel zuvorkommend, denn sie umgab Glamour und der Hauch der großen, weiten Welt. Sie wurden in Limousinen zum Studio gebracht, und man reichte ihnen neben geräuchertem Lachs zur Erfrischung Champagner. Die Ankunft eines Stars war beinahe körperlich zu spüren, denn die Atmosphäre des Studios schien sich elektrisch aufzuladen. Und wenn sich eine Künstlerin wie Jane Morgan zeigte, war das auch gerechtfertigt, denn sie sah fantastisch aus. Jane Morgan hatte einen unvergleichlichen und tadellosen Stil und trug einen mit Diamanten besetzten, glitzernden Pelz. Doch daran erinnert sich heute anscheinend niemand mehr. Die großen Stars tragen alte und ausgebeulte Jeans und unterscheiden sich nicht von anderen Personen.

Meist wurden die Stars bei ihrer Ankunft von Oscars Sekretärin Judy Lockhart-Smith unterhalten. Der schottische Tenor Robert Wilson erwartete immer ein Glas Whiskey. Unglücklicherweise mochte unser Nachtwächter auch einen guten Schluck, bediente sich an der Flasche und füllte sie wieder mit Wasser auf. Judy wusste nichts davon und reichte Wilson eines Tages ein Glass des verdünnten Drinks. Er trank ein wenig und spuckte den Whiskeyverschnitt sofort aus. Wilson konnte kaum glauben, was seine Geschmacksknospen da ertragen mussten.

Judy, wie schon erwähnt, verhielt sich mir gegenüber eine lange Zeit äußerst unterkühlt. Ich fand sie attraktiv, jedoch leicht arrogant und eindeutig überheblich. Als Judy mich das erste Mal sah, musterte sie mich wie einen Hund, den jemand mitgebracht hatte. Trotz ihrer Jugend zählte sie zu den „Oldtimern“, und ich war das kleine Balg. Wir arbeiteten in einer angespannten Atmosphäre, begleitet von gegenseitiger Antipathie, was sicherlich ein recht ungewöhnlicher Beginn für zwei Menschen war, die später eine wunderbare Ehe führen sollten.

 

Judy verstand sich gut mit unseren Künstlern, und neben der normalen Arbeit blätterte sie die Noten während der Aufnahmen um, für Persönlichkeiten wie Kentner, Gerald Moore, Yehudi Menuhin, Rawicz und Landauer sowie Solomon, den Pianisten. Allerdings liefen nicht alle Aufnahmen harmonisch ab. Ray Martin, auch ein Künstler, der bei der Firma unter Vertrag stand, besaß einen kleinen Dackel, der kurz vor Solomons Mitschnitt einer Sonate in das Studio tapste. Unglücklicherweise war das Tier nicht „studiorein“ und hinterließ unter dem Piano ein kleines Häufchen. Solomon stellte einen Fuß auf das Klavierpedal und trat – kkkksch – direkt rein. Er humpelte aus dem Studio, wobei er darauf achtete, dass er den Dreck nicht weiter verbreitete, und weigerte sich, an dem Tag noch weiter aufzunehmen.

Ärgernisse in der Art waren von Sir Thomas Beecham nie zu erwarten. Der nette Mann wohnte ganz in der Nähe und nahm gelegentlich bei uns auf. Zum Mittagessen ging er zu McWhirters, dem Arbeiterimbiss nebenan, und nicht in das Nobelrestaurant die Straße hoch. Dort servierte man Hausmannskost. Der Lunch kostete 3 Schilling und 9 Pence und 3 Pence extra, wenn man die Fleischbeilage wünschte.

An einem dieser Tage bat er die Serviererin um die Weinkarte. „Wir haben keinen Wein, mein Lieber. Ich kann Ihnen aber gerne eine gutes Glas Tizer holen.“ Ihn störte es nicht, denn er war ein bodenständiger Mensch, ganz im Gegensatz zu Malcolm Sargent. Der forderte stets Sandwiches mit geräuchertem Lachs und Champagner. Als Star mochte er es, sich vom Fußvolk abzuheben, wohingegen Beecham es genoss, sich unter den „einfachen“ Menschen zu bewegen.

Sargent hatte sich den Spitznamen „Flash Harry“ „eingefangen“. Ich erinnere mich an einen Tag, an dem wir eins von Beethovens Werken probten. Als er nicht im Studio war, hatte jemand die Noten für „I’m Just Wild About Harry“ auf sein Notenpult gelegt. Er kam zurück, nahm sie in die Hand und sagte: „Ich schätze mal, dass bezieht sich auf einen berühmten Dirigenten, hier ganz in der Nähe, oder etwa nicht?“

Ein weiterer Dirigent, mit dem ich arbeitete, war Charles Mackerras. Ich kannte ihn noch aus der Zeit, als wir als Oboisten im Ensemble für Don Giovanni im berühmten Theater Sadler’s Wells spielten. Die Gruppe musste über die Bühne marschieren und unter den Augen des Publikums auf einem Balkon spielen, wurde aber vom Orchestergraben aus dirigiert. Wir trugen Perücken und ein Wams und erhielten dafür sogar zusätzlichen Lohn, was mir damals nur recht sein konnte. Charles und ich waren die einzigen Oboisten der Gruppe, mit dem Unterschied, dass er das Instrument um Längen besser beherrschte. Mein Spiel ließ sich höchstens als mittelmäßig umschreiben, doch er verhielt sich immer freundlich und hilfsbereit. Zu der Zeit befand er sich noch im Sadler’s Wells in der Ausbildung zum Dirigenten. In seiner Freizeit sammelte er die Musik von Gilbert and Sullivan, die er sehr mochte.

Als die Rechte an den Werken von Arthur Sullivan gemeinfrei waren, machte Charles den brillanten Schachzug, verschiedene Stück aus diversen Opern zusammenzustellen und sie für ein Orchester zu arrangieren. Darüber hinaus engagierte er sich bei der Produktion eines Balletts, das auf Sullivans Musik basierte. Es hieß Pineapple Poll, wurde ein Riesenerfolg und unverzüglich von Len Smith für Columbia aufgenommen, der dabei das Covent Garden Orchestra einsetzte.

Oscar war völlig aufgebracht: „Du kennst Charles Mackerras“, beschimpfte er mich anklagend. „Warum hast du uns nicht Pineapple Poll gesichert?“

Ich fühlte mich schuldig und antwortete: „Ich wusste, dass er sich mit einer Produktion beschäftigte, dachte aber nicht näher darüber nach.“

Oscar versuchte das Beste aus dem Missgeschick zu machen, indem er das Werk mit dem Sadler’s Wells Orchestra unter der Leitung von Charles Mackerras aufnahm, doch die Platte war nicht annähernd so gut.

Es war typisch für die EMI, dass verschiedene Labels die gleichen Werke vertonen durften. Obwohl sich unsere Büros alle im selben Gebäude befanden – Len Smith arbeitete in Räumlichkeiten, die direkt über den Flur lagen –, bekämpften sich die Labels wie Rivalen. Alle vier Wochen trafen sich die Kontrahenten bei der sogenannten „Ergänzungs-Besprechung“, um sich darüber zu unterhalten, welche Aufnahmen für den kommenden Monat angesetzt wurden. Der eigentümliche Name dieser Meetings beruhte darauf, dass die in Frage kommenden Titel eine Ergänzung zum Gesamtkatalog darstellten. Oscar hegte ein unvergleichliches Misstrauen gegen Walter Legge von Columbia und wartete darauf, dass Walter den Produktionsplan vorstellte. Erst danach enthüllte er sein angepeiltes Programm. Und dafür gab es einen guten Grund. Falls Oscar kundgetan hätte, dass er eine Aufnahme des Sinfonia Concertante von Dittersdorf für den nächsten Monat plante, wäre folgende Antwort von Legge symptomatisch gewesen: „Das tut mir so leid, mein Lieber, jedoch ließ ich sie erst vor wenigen Tagen aufzeichnen. Ich habe sie nur noch nicht veröffentlicht, weil ich über stilistisch ähnliche Werke im Überfluss verfüge.“ Das war natürlich vollkommener Unfug. Hätte Legge die Idee so einer Aufnahme zugesagt, wäre er aus dem Konferenzzimmer geschlichen, hätte die Produktion durch einige schnelle Telefonanrufe fixiert und sich gleichzeitig eine Feder für seinen Kopfschmuck verdient. Da Oscar das Prozedere schon einige Male erlebt hatte, war er durch die Erfahrungen klüger geworden.

Neben den Meetings versammelten sich die einzelnen Labels zu einem monatlichen Verlagstreffen. Dabei hörten wir die neuen Stücke. Damals verfügten Interpreten und Verleger über keine Homerecording-Möglichkeiten, und so besuchten uns die verschiedene Vertreter – gebucht von Judy in 15-minütigen Intervallen – und sangen und klimperten uns ihre aktuellen Werke auf dem großen Flügel (der stand in unserem Büro) im guten, alten Tin-Pan-Alley-Stil vor. Wir machten uns Notizen und behielten Kopien der Noten. Ich hatte meinen Spaß dabei, da es mich an die Zeit der Varietés erinnerte und in der Tradition von George Gershwin stand, der als unbekannter Künstler auch seine Stücke feilbieten musste. Es lässt sich überhaupt nicht mit den polierten und durchproduzierten Demobändern vergleichen, die man uns heute präsentiert.

Da die Besprechungen vormittags stattfanden, hatte ich den Nachmittag für Aufnahme-Tests im Studio 2 zur Verfügung. Jede halbe Stunde kündigte sich ein neuer Interpret an. Damals verfügte Judy über ein wesentlich größeres Wissen über Pop und Jazz als ich. Sie nahm sich manchmal frei, flog in den Pariser Blue Note Club und hatte ihren Spaß mit dieser Szene.

Verglichen mit heute war das Geschäft meist weniger dramatisch, sensationsheischend und aufgesetzt. Es war ganz einfach Arbeit, obwohl eine höchst interessante, von der die Menschen, die sich außerhalb dieses Kreises bewegten, so gut wie gar nichts erfuhren. Kaum jemand hielt den Job eines Plattenproduzenten für erstrebenswert, was im eindeutigen Gegensatz zu heute steht, wo sich alle darum reißen und ihnen jedes Mittel recht ist, um sich zu etablieren.

Sogar die Rivalität unter den diversen Sub-Labels der EMI kann noch als gentlemanlike bezeichnet werden. Wir schnüffelten niemals nach Büroschluss in den Aktenordnern der anderen herum, um einen Vorteil zu erlangen, um zu wissen, was bei ihnen vor sich ging. Es bestand eher eine Parallele zum Automobilhersteller British Leyland, wo man leicht einen Mitarbeiter finden konnte, der auf seine Firmenzugehörigkeit stolz war: „Einmal ein Austin-Mann, immer ein Austin-Mann“. Auf uns übertragen hieß dass dann: „Einmal ein Columbia-Mann, immer ein Columbia-Mann.“