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[96]7

Wenn es noch Hoffnung gibt, schrieb Winston, so liegt sie bei den Proles.

Wenn es noch Hoffnung gab, so musste sie bei den Proles liegen, denn nur dort, innerhalb dieser wimmelnden, missachteten Massen, die immerhin 85 Prozent der Bevölkerung Ozeaniens darstellten, könnte die Kraft erzeugt werden, die die Partei für immer zerstören würde. Von innen heraus ließe sich die Partei nicht stürzen. Ihre Feinde, falls es überhaupt welche gab, hatten keine Möglichkeit, sich zu versammeln oder sich einander zu erkennen zu geben. Selbst wenn die legendäre Bruderschaft existierte, was durchaus möglich war, blieb es schwer vorstellbar, dass ihre Mitglieder sich je in größerer Anzahl versammeln könnten als zu zweit oder zu dritt. Rebellion bedeutete, dass ein gewisser Ausdruck in die Augen trat, dass die Stimme einen anderen Tonfall annahm; im Extremfall ein gelegentlich geflüstertes Wort. Aber für die Proles bestand gar keine Notwendigkeit einer Verschwörung, wenn sie sich endlich einmal ihrer eigenen Stärke bewusst werden könnten. Sie brauchten nur aufzustehen und sich zu schütteln, wie ein Pferd, das Fliegen verscheucht. Wenn sie nur wollten, könnten sie die Partei gleich morgen früh in Stücke hauen. Früher oder später müsste ihnen doch der Gedanke kommen, es zu tun? Und trotzdem –

Er erinnerte sich, wie er einmal eine belebte Straße hinuntergegangen war, als aus einer Seitenstraße ein Stück voraus ein gewaltiger Aufschrei aus Hunderten Kehlen [97]erscholl – Stimmen von Frauen. Es war ein großer, furchtbarer Schrei der Wut und Verzweiflung, ein tiefes, lautes »Oh-o-o-o-oh!«, das weiterdröhnte wie der Nachhall einer Glocke. Das Herz war ihm aufgegangen. ›Es geht los!‹, hatte er gedacht. ›Ein Aufstand! Die Proles befreien sich endlich!‹ Als er die Stelle erreichte, war ein Gedränge von etwa zwei- oder dreihundert Frauen zu sehen, die sich um die Stände eines Straßenmarkts scharten, mit so traurig-verzweifelten Mienen, als seien die Frauen todgeweihte Passagierinnen eines sinkenden Schiffs. Aber in diesem Moment zerfiel die allgemeine Verzweiflung in eine Vielzahl einzelner Streitigkeiten. Offenbar hatte man an einem der Stände Blechtöpfe verkauft. Es waren erbärmliche, dünnwandige Dinger, aber es war immer schon schwierig gewesen, an Kochtöpfe jeglicher Art zu kommen. Inzwischen war der Vorrat unerwartet ausverkauft. Die Frauen, die etwas ergattert hatten, versuchten nun, mit ihren Töpfen davonzukommen, herumgeschubst und bedrängt von den anderen, während Dutzende anderer vor dem Verkaufsstand zeterten und dem Standbesitzer vorwarfen, er bevorzuge bestimmte Leute und habe irgendwo noch weitere Töpfe auf Lager. Neues wütendes Geschrei setzte ein. Zwei aufgedunsene Frauen, eine davon mit wirrem, aufgelöstem Haar, hatten denselben Topf zu fassen bekommen und versuchten jetzt, ihn sich gegenseitig aus der Hand zu reißen. Einen Moment lang zerrten sie beide daran, und dann brach der Stiel ab. Winston verfolgte mit Abscheu, was die beiden taten. Und dennoch war für einen kurzen Augenblick eine fast erschreckende Machtfülle in diesem Aufschrei aus ein paar hundert Kehlen angeklungen! Wieso konnten diese Leute nie so lautstark [98]schreien, wenn es um Belange ging, die wirklich wichtig waren?

Er schrieb:

Solange sie sich nicht ihrer selbst bewusst werden, werden sie niemals rebellieren, und solange sie nicht rebelliert haben, werden sie sich nicht ihrer selbst bewusst.

Das, dachte er, hätte fast ein Versatzstück aus einem der Lehrbücher der Partei sein können. Die Partei behauptete natürlich, sie habe die Proles aus der Knechtschaft befreit. Vor der Revolution seien sie auf fürchterliche Weise von den Kapitalisten unterdrückt worden, man habe sie verhungern und auspeitschen lassen, Frauen seien gezwungen worden, in den Kohlebergwerken zu arbeiten (tatsächlich arbeiteten immer noch Frauen in den Minen), Kinder seien im Alter von sechs Jahren an die Fabriken verkauft worden. Gleichzeitig jedoch, getreu den Prinzipien des Doppeldenk, lehrte die Partei, die Proles seien von Natur aus Minderwertige, die man unter Anwendung einiger einfacher Regeln wie Tiere in Abhängigkeit halten müsse. In Wirklichkeit war über die Proles nur sehr wenig bekannt. Es war auch nicht notwendig, viel über sie zu wissen. Solange sie weiterhin arbeiteten und sich fortpflanzten, waren alle anderen Aktivitäten nicht von Belang. Sie waren sich selbst überlassen, wie Vieh, das auf den Ebenen von Argentinien frei herumlief, und hatten zu einem Lebensstil zurückgefunden, der ihrer Natur zu entsprechen schien, zu einem über Generationen vererbten Lebensentwurf. Sie wurden geboren, sie wuchsen in der Gosse auf, gingen mit zwölf Jahren arbeiten, durchlebten eine kurze Blütezeit der [99]Schönheit und des sexuellen Verlangens, heirateten mit zwanzig, befanden sich mit dreißig schon im mittleren Alter und starben meistens mit sechzig. Harte körperliche Arbeit, die Versorgung von Haus und Kindern, kleine Streitigkeiten mit Nachbarn, Filme, Fußball, Bier und vor allem Glücksspiele füllten den Horizont in ihren Köpfen aus. Sie unter Kontrolle zu halten, war nicht schwer. Immer wieder mischten sich ein paar Agenten der Gedankenpolizei unter sie, verbreiteten falsche Gerüchte, machten die wenigen Personen ausfindig, die einmal gefährlich zu werden vermochten, und eliminierten sie; es wurde aber kein Versuch unternommen, die Proles mit der Ideologie der Partei zu indoktrinieren. Es war nicht erwünscht, dass die Proles starke politische Überzeugungen entwickelten. Man verlangte ihnen nur einen primitiven Patriotismus ab, an den man immer dann appellieren konnte, wenn es erforderlich wurde, dass die Proles längere Arbeitszeiten oder kleinere Rationen akzeptierten. Und selbst wenn sie unzufrieden wurden, was manchmal der Fall war, führte diese Unzufriedenheit zu nichts, denn da den Proles die Vorstellung für das große Ganze fehlte, waren sie nur imstande, ihre Unzufriedenheit gegen kleine unbedeutende Missstände zu richten. Die größeren Übel entgingen ihrer Aufmerksamkeit ausnahmslos. Die überwiegende Mehrheit der Proles hatte zu Hause nicht einmal einen Telemonitor. Selbst die Zivilpolizei griff selten in ihr Leben ein. Die Kriminalitätsrate in London war sehr hoch, es gab eine in sich geschlossene Welt der Diebe, Banditen, Prostituierten, Drogenhändler und Erpresser aller Couleur; aber da sich all dies unter den Proles abspielte, war es nicht weiter von Belang. Bei allen Fragen der Moral durften sie dem Kodex [100]ihrer Vorfahren folgen. Der sexuelle Puritanismus der Partei wurde ihnen nicht auferlegt. Promiskuität wurde nicht geahndet, Scheidungen waren erlaubt. Im Grunde wäre ihnen sogar die Gottesverehrung gestattet gewesen, wenn die Proles hätten erkennen lassen, dass sie dergleichen benötigten oder danach verlangten. Sie standen unter jedem Verdacht. Wie es die Parteiparole so treffend formulierte: »Proles und Tiere sind frei«.

Winston bückte sich und kratzte sich vorsichtig an seinem Krampfadergeschwür. Es hatte wieder zu jucken begonnen. Man kam unweigerlich zurück an denselben Punkt, nämlich dass man unmöglich wissen konnte, wie das Leben vor der Revolution wirklich ausgesehen hatte. Aus der Schublade holte er ein Geschichtslehrbuch für Kinder hervor, das er sich bei Mrs Parsons ausgeliehen hatte, und fing an, einen Absatz daraus in sein Tagebuch zu übertragen:

Früher einmal [so der Wortlaut], vor der glorreichen Revolution, war London keinesfalls die schöne Stadt, wie wir sie heutzutage kennen. Es war ein düsterer, dreckiger, elender Ort, wo kaum jemand genug zu essen hatte und wo Hunderte und Tausende von armen Leuten keine Stiefel und nicht einmal ein Dach über dem Kopf zum Schlafen hatten. Kinder, nicht älter als ihr, mussten zwölf Stunden am Tag für grausame Herren arbeiten, die sie mit Peitschen schlugen, wenn sie zu langsam arbeiteten, und ihnen nichts anderes zu essen gaben als alte, trockene Brotkrusten und Wasser. Aber inmitten all dieser schrecklichen Armut gab es einige wenige große, hohe und schöne Häuser, in denen reiche Menschen wohnten, die bis zu dreißig [101]Bedienstete hatten, die sich um sie kümmern mussten. Diese Reichen wurden Kapitalisten genannt. Es waren fette, hässliche Leute mit bösen Gesichtern, wie der Mann, den ihr auf der gegenüberliegenden Seite sehen könnt. Wie ihr seht, trägt er einen langen schwarzen Mantel, der Gehrock genannt wurde, und einen seltsamen, glänzenden Hut, der wie ein Ofenrohr geformt ist und Zylinder hieß. Dies war die einheitliche Kleidung der Kapitalisten, und niemand anders durfte sie tragen. Den Kapitalisten gehörte alles auf der Welt, und alle anderen Menschen waren ihre Sklaven. Sie besaßen alles Land, alle Häuser, alle Fabriken und das gesamte Geld. Wenn ihnen jemand nicht gehorchte, konnten sie ihn ins Gefängnis werfen oder nahmen ihm seine Arbeit weg und ließen ihn verhungern. Wenn ein gewöhnlicher Mensch mit einem Kapitalisten sprach, so musste er vor ihm kriechen und sich tief vor ihm verbeugen, seine Mütze abnehmen und ihn mit »Sir« anreden. Der Oberste aller Kapitalisten wurde König genannt, und –

Den Rest der Auflistung kannte er längst. Es würden die Bischöfe mit ihren Batistärmeln erwähnt werden, die Richter in ihren Hermelinroben, der Pranger, der Fußblock, die Tretmühle, die neunschwänzige Katze, das Bankett des Oberbürgermeisters von London und der Brauch, dem Papst die Füße zu küssen. Es gab da auch noch etwas, das ius primae noctis genannt wurde, das aber in einem Schulbuch für Kinder vermutlich keine Erwähnung finden würde. Es bezeichnete das Gesetz, nach dem jeder Kapitalist das Recht hatte, mit jeder Frau zu schlafen, die in einer seiner Fabriken arbeitete.

[102]Wie sollte man beurteilen, wie viel davon gelogen war? Es mochte wahr sein, dass es dem Durchschnittsmenschen jetzt besser ging als vor der Revolution. Der einzige Gegenbeweis war der stumme Protest, der einem in den Knochen steckte, das instinktive Gefühl, dass die Bedingungen, unter denen man lebte, unerträglich waren und dass sie früher einmal anders gewesen sein müssen. Ihm ging auf, dass der wirklich charakteristische Aspekt des modernen Lebens nicht dessen Grausamkeit und Ungewissheit war, sondern dessen Armut, Schäbigkeit und Teilnahmslosigkeit. Das Leben wies, wenn man sich nur richtig umblickte, nicht nur keinerlei Ähnlichkeit mit den Lügen auf, die aus den Telemonitoren kamen, sondern nicht einmal mit den Idealen, die die Partei anstrebte. Der Großteil verlief selbst für ein Parteimitglied neutral und unpolitisch, es ging eher darum, sich durch die eintönige Arbeit zu quälen, einen Platz in der U-Bahn zu ergattern, verschlissene Socken zu stopfen, eine Süßstofftablette zu schnorren, einen Zigarettenstummel aufzusparen. Das von der Partei aufgestellte Ideal war etwas Riesiges, Gewaltiges und Gleißendes – eine Welt aus Stahl und Beton, mit monströsen Maschinen und schrecklichen Waffen – eine Nation von Kriegern und Fanatikern, die in vollkommener Eintracht vorwärtsmarschierten, die alle die gleichen Gedanken dachten und dieselben Parolen brüllten, die immerzu arbeiteten, kämpften, triumphierten und andere verfolgten – dreihundert Millionen Menschen mit ein und demselben Gesicht. Die Realität bestand aus verfallenden, schäbigen Städten, in denen sich unterernährte Menschen in löchrigen Schuhen mal hierhin, mal dorthin schleppten, in notdürftig ausgebesserten Häusern aus dem neunzehnten Jahrhundert, in denen es ständig [103]nach Kohl und verstopften Toiletten roch. Er sah nun eine Art Vision von London vor sich, riesig und verfallen, die Stadt der Millionen Abfalltonnen, und darin tauchte ein Bild von Mrs Parsons auf, einer Frau mit faltigem Gesicht und strähnigem Haar, die hilflos an einem verstopften Abwasserrohr herumwerkelte.

 

Er bückte sich und kratzte sich am Fußknöchel. Tag und Nacht versengte der Telemonitor einem die Ohren mit Statistiken, die bewiesen, dass die Menschen heute mehr Lebensmittel, mehr Kleidung, bessere Wohnungen, bessere Freizeitmöglichkeiten hatten – dass sie länger lebten, kürzere Arbeitszeiten hatten, dass sie größer, gesünder, kräftiger, glücklicher, klüger und besser ausgebildet waren als die Menschen vor fünfzig Jahren. Nicht ein Wort von alldem ließ sich je beweisen oder widerlegen. So behauptete die Partei zum Beispiel, inzwischen könnten 40 Prozent der erwachsenen Proles lesen und schreiben: Vor der Revolution, so hieß es, seien es lediglich 15 Prozent gewesen. Die Partei behauptete zudem, die Kindersterblichkeitsrate liege inzwischen nur bei 160 Promille, wohingegen sie vor der Revolution bei 300 gelegen habe – und so ging es immer weiter. Es war wie eine Gleichung mit zwei Unbekannten. Es könnte sehr gut sein, dass tatsächlich jedes Wort in den Geschichtsbüchern reine Fantasie war, selbst die Dinge, die man fraglos hinnahm. Was wusste er schon, vielleicht hatte es so ein Gesetz wie das ius primae noctis gar nicht gegeben, auch kein Wesen wie den Kapitalisten oder eine Kopfbedeckung wie den Zylinderhut.

Alles löste sich in Nebelschwaden auf. Die Vergangenheit war ausradiert, das Ausradieren selbst war in Vergessenheit geraten, die Lüge wurde zur Wahrheit. Nur ein [104]einziges Mal in seinem Leben hatte er einen konkreten, unzweideutigen Beweis dafür gehabt, dass etwas verfälscht worden war – und zwar nach dem Vorfall: das war, was zählte. Für die Dauer von etwa dreißig Sekunden hatte er ihn in Händen gehalten. Das musste 1973 gewesen sein – jedenfalls war es um die Zeit herum, als er und Katharine sich getrennt hatten. Aber der wirklich relevante Zeitpunkt lag noch weitere sieben oder acht Jahre zurück.

Die Geschichte begann eigentlich Mitte der 60er, in der Phase der großen Säuberungswellen, in denen die ursprünglichen Führer der Revolution ein für alle Mal ausgelöscht wurden. 1970 lebte keiner mehr von ihnen, abgesehen vom Großen Bruder selbst. Alle Übrigen waren bis dahin als Verräter und Konterrevolutionäre überführt worden. Goldstein war geflohen und versteckte sich – keiner wusste, wo –, und von den anderen waren einige einfach verschwunden, die Mehrzahl hingegen war nach spektakulären Schauprozessen, in denen sie ihre Verbrechen bekannten, hingerichtet worden. Unter den letzten Überlebenden befanden sich drei Männer namens Jones, Aaronson und Rutherford. Es musste 1965 gewesen sein, als diese drei verhaftet worden waren. Wie so oft, waren sie ein Jahr oder länger verschwunden geblieben, so dass man nicht wusste, ob sie noch lebten oder längst tot waren, und dann wurden sie plötzlich wieder präsentiert, auf dass sie sich nach herkömmlichem Muster selbst belasteten. Sie hatten geheimen Informationsaustausch mit dem Feind gestanden (auch damals hieß der Feind Eurasien), die Veruntreuung öffentlicher Gelder, den Mord an mehreren vertrauenswürdigen Parteimitgliedern, Intrigen gegen die Führungsrolle des Großen Bruders, die bereits lange Zeit vor der [105]Revolution eingefädelt worden waren, und Sabotageakte, die das Leben Hunderttausender gekostet hatten. Nachdem sie all diese Dinge bekannt hatten, waren sie begnadigt, wieder in die Partei aufgenommen und mit Posten versorgt worden, bei denen es sich im Grunde um Ruheposten handelte, die sich jedoch bedeutend anhörten. Alle drei hatten lange, unterwürfige Artikel in der Times verfasst, hatten die Gründe für ihre Abtrünnigkeit analysiert und gelobt, Wiedergutmachung zu leisten.

Einige Zeit nach ihrer Freilassung hatte Winston tatsächlich alle drei im Chestnut Tree Café gesehen. Er erinnerte sich, wie erschrocken und fasziniert zugleich er die drei aus den Augenwinkeln beobachtet hatte. Sie waren um einiges älter als er, Überbleibsel aus der alten Welt, beinahe die letzten großen Gestalten, die aus der heroischen Frühzeit der Partei übriggeblieben waren. Der Abglanz des Untergrundkampfes und des Bürgerkriegs haftete noch schwach an ihnen. Er hatte das Gefühl, obwohl schon zu jener Zeit Fakten und Daten zu verschwimmen begannen, die Namen der drei bereits Jahre vor dem des Großen Bruders gekannt zu haben. Andererseits waren sie Geächtete, Feinde, Unberührbare, die in ein oder zwei Jahren mit absoluter Sicherheit zur Vernichtung verdammt waren. Wer einmal in die Hände der Gedankenpolizei gefallen war, kam nicht mehr ungeschoren davon. Diese Leute waren wandelnde Tote, die darauf warteten, zurück ins Grab geschickt zu werden.

An den Nachbartischen der drei saß niemand. Es war nicht ratsam, sich auch nur in der Nähe solcher Leute blicken zu lassen. Schweigend saßen sie vor ihren Gläsern mit Gin, der mit Gewürznelken aromatisiert war; die [106]Spezialität des Hauses. Von den dreien hatte die äußere Erscheinung Rutherfords Winston am meisten beeindruckt. Der Mann war einst ein berühmter Karikaturist gewesen, dessen schonungslose Cartoons dazu beigetragen hatten, die öffentliche Meinung vor und während der Revolution aufzuheizen. Selbst jetzt noch, in größeren Abständen, erschienen seine Cartoons in der Times. Sie waren aber nicht mehr als eine Nachahmung seines früheren Stils und wirkten seltsam leblos und wenig überzeugend. Ständig wurden die alten Themen neu aufgewärmt – die Unterkünfte in den Elendsvierteln, verhungernde Kinder, Straßenkämpfe, Kapitalisten mit Zylinderhüten – selbst auf den Barrikaden schienen die Kapitalisten an ihren Zylindern festzuhalten in nicht enden wollendem, hoffnungslosem Bemühen, die Vergangenheit wieder aufleben zu lassen. Rutherford war ein monströs großer Mann mit einer Mähne fettigen, grauen Haars, mit Tränensäcken und rissig-spröder Haut und dicken, negroiden Lippen. Früher musste er ungemein kräftig gewesen sein; jetzt aber war sein massiger Körper schlaff und schief, wirkte ausgebeult und schien in alle Richtungen zugleich zu zerlaufen. Er schien vor den Augen des Betrachters in sich zusammenzufallen, wie ein Berg, der bröckelt und ins Rutschen gerät.

Es war die stille Stunde um fünfzehn Uhr. Winston wusste nicht mehr genau, warum er zu dieser Uhrzeit überhaupt ins Café gegangen war. Es war so gut wie leer. Aus den Telemonitoren rieselte eine blecherne Musik. Die drei Männer saßen fast reglos in ihrer Ecke und sagten kein Wort. Unaufgefordert brachte der Kellner neue Gläser mit Gin. Auf dem Nebentisch stand ein Schachbrett mit Figuren in der Grundaufstellung, aber niemand hatte eine Partie [107]begonnen. Und dann, vielleicht dauerte es insgesamt nur dreißig Sekunden, geschah etwas mit den Telemonitoren. Die Melodie, die bis eben zu hören gewesen war, veränderte sich, auch die Klangfarbe der Musik veränderte sich. Etwas stahl sich hinein – aber das ließ sich nur schwer beschreiben. Es war ein eigenartiger, gebrochener, gellender, höhnender Klang: Winston bezeichnete ihn für sich als gelben Klang. Dann sang eine Stimme aus dem Telemonitor:

Under the spreading chestnut tree

I sold you and you sold me:

There lie they, and here lie we

Under the spreading chestnut tree.

Die drei Männer rührten sich nicht. Aber als Winston erneut einen Blick auf Rutherfords entstelltes Gesicht warf, sah er, dass dessen Augen voller Tränen waren. Und zum ersten Mal fiel ihm auf, mit einem inneren Schaudern, ohne zu wissen, wovor ihm schauderte, dass sowohl Aaronsons als auch Rutherfords Nasenbein gebrochen war.

Etwas später wurden alle drei erneut festgenommen. Wie sich herausstellte, waren sie bereits unmittelbar nach ihrer Freilassung in neue Verschwörungen verwickelt gewesen. Bei ihrer zweiten Gerichtsverhandlung bekannten sie sich noch einmal zu ihren alten sowie zu einer ganzen Reihe neuer Verbrechen. Sie wurden hingerichtet, und ihr Schicksal wurde in der Geschichtsschreibung der Partei aufgezeichnet, als Warnung für die Nachwelt. Ungefähr fünf Jahre später, 1973, als Winston gerade ein Bündel Dokumente entrollte, die soeben aus der Rohrpost auf seinen Schreibtisch gefallen waren, entdeckte er ein Stück Papier, [108]das offensichtlich unter die anderen geraten und dann vergessen worden war. Sowie er dieses Papier glattgestrichen hatte, erkannte er, welche Bedeutung es besaß. Es handelte sich um eine halbe Seite, die etwa zehn Jahre zuvor aus der Times gerissen worden war – es war die obere Hälfte der Seite, so dass das Datum zu lesen war – und enthielt ein Foto, auf dem die Delegierten irgendeines Parteitages in New York zu sehen waren. In der Mitte der Gruppe waren ganz deutlich Jones, Aaronson und Rutherford zu erkennen. Es gab kein Vertun; außerdem tauchten ihre Namen in der Bildunterschrift auf.

Der entscheidende Punkt war, dass alle drei Männer bei beiden Verhandlungen gestanden hatten, sich zu jenem Zeitpunkt auf eurasischem Boden befunden zu haben. Von einem geheimen Flugplatz in Kanada seien sie zu einem Treffpunkt irgendwo in Sibirien geflogen und dort mit Abgesandten des eurasischen Generalstabs in Unterhandlungen getreten, denen sie dann wichtige militärische Geheimnisse verraten hätten. Das Datum war Winston im Gedächtnis geblieben, weil es zufällig der Tag der Sommersonnenwende gewesen war; aber die ganze Angelegenheit musste noch an zahllosen anderen Stellen dokumentiert sein. Es gab nur eine mögliche Erklärung: Die Schuldeingeständnisse waren gelogen.

Das war natürlich für sich genommen keine neue Entdeckung. Selbst damals schon hatte Winston sich nicht vorstellen können, dass die Leute, die im Zuge der Säuberungswellen ausgelöscht wurden, tatsächlich die Verbrechen begangen hatten, die man ihnen zur Last legte. Doch dies war ein konkreter Beweis; es war ein Fragment der abgeschafften Vergangenheit, wie der Knochen eines Fossils, [109]der in der falschen Erdschicht zum Vorschein kommt und eine ganze geologische Theorie auf den Kopf stellt. Das reichte aus, um die Partei zu vernichten, wenn man es auf irgendeine Weise hätte publik machen und auf die Bedeutung hätte hinweisen können.

Er hatte sich gleich wieder an die Arbeit gemacht. Sowie er erkannt hatte, was für ein Foto das war und was es bedeutete, hatte er es unter einem anderen Blatt Papier verschwinden lassen. Glücklicherweise hatte das Papier, als er es glattstrich, vom Blickwinkel des Telemonitors aus verkehrt herum gelegen.

Er legte sich seinen Schreibblock auf die Knie und schob den Stuhl zurück, um so weit wie möglich vom Telemonitor entfernt zu sein. Es war nicht schwer, eine ausdruckslose Miene aufzusetzen, und selbst die Atmung konnte man mit etwas Mühe kontrollieren: Aber den eigenen Herzschlag konnte man nicht kontrollieren, und der Telemonitor war empfindlich genug eingestellt, das wahrzunehmen. Er ließ seiner Schätzung zufolge zehn Minuten verstreichen, die ganze Zeit gepeinigt von der Angst, irgendein Zufall – zum Beispiel ein Luftzug, der über seinen Schreibtisch strich – könne ihn verraten. Dann warf er das Foto, ohne es noch einmal aufzudecken, zusammen mit anderen Papierabfällen in das Gedächtnisloch. Keine Minute später würde es vermutlich bereits zu Asche zerfallen sein.

 

Das war vor zehn, elf Jahren. Heute hätte er das Foto wahrscheinlich behalten. Es war seltsam, aber der Umstand, dass er es in Händen gehalten hatte, schien sogar heute noch von Bedeutung zu sein, obwohl das Foto selbst, und auch das Ereignis, das es festhielt, nur noch Erinnerung war. Hatte die Partei etwa weniger Macht über die [110]Vergangenheit, nur weil ein Beweisstück, das gar nicht mehr existierte, einst existiert hatte?

Heute jedoch würde das Foto, vorausgesetzt, man könnte es irgendwie aus der Asche retten, vielleicht nicht einmal als Beweis taugen. Schon als er damals die Entdeckung machte, befand sich Ozeanien nicht mehr im Krieg mit Eurasien, und die drei toten Männer hatten ihr Land demnach an Agenten aus Ostasien verraten. Seither hatte es weitere Anschuldigungen gegeben – zwei oder drei, er wusste nicht mehr genau, wie viele. Sehr wahrscheinlich waren die Geständnisse immer wieder neu geschrieben worden, bis die ursprünglichen Fakten und Zeitangaben nicht mehr die kleinste Bedeutung besaßen. Die Vergangenheit veränderte sich nicht nur, sie veränderte sich ständig. Am meisten bedrückte es ihn, wie in einem Albtraum, dass er nie richtig verstanden hatte, warum dieser riesige Schwindel überhaupt unternommen wurde. Die unmittelbaren Vorteile einer Fälschung der Vergangenheit lagen auf der Hand, aber das ultimative Motiv hinter dem Ganzen blieb rätselhaft. Er griff wieder zum Federhalter und schrieb:

Ich verstehe WIE; Ich verstehe nicht WARUM.

Und wie er sich schon oft gefragt hatte, fragte er sich auch jetzt, ob er selbst verrückt war. Vielleicht war ein Verrückter nur eine Minderheit, bestehend aus einer Person. Einst war es ein Anzeichen für Irrsinn gewesen, zu glauben, die Erde drehe sich um die Sonne: Heute war es Irrsinn, wenn man glaubte, die Vergangenheit sei unveränderlich. Vielleicht stand er allein mit dieser Überzeugung da, und wenn er allein dastand, dann war er ein Verrückter. Aber die [111]Vorstellung, verrückt zu sein, bereitete ihm nicht allzu große Sorgen – das Schreckliche war vielmehr, dass er sich womöglich irrte.

Er nahm das Geschichtsbuch für Kinder zur Hand und betrachtete das Bild des Großen Bruders, das das Frontispiz beherrschte. Die hypnotischen Augen starrten in seine Augen. Es war, als übte eine ungeheure Kraft Druck auf einen aus – etwas, das sogar in den Schädel drang, gegen das Gehirn hämmerte, das einen so sehr verängstigte, dass man die eigenen Überzeugungen abwarf, das einen beinahe so weit brachte, dass man die Beweiskraft der eigenen Sinneswahrnehmung leugnete. Letzten Endes würde die Partei verkünden, dass zwei und zwei fünf ergeben, und dann würde man es glauben müssen. Es war unumgänglich, dass sie diese Behauptung früher oder später aufstellen würden: Das erforderte schon die Logik ihrer Position. Nicht nur die Gültigkeit der Erfahrung wurde stillschweigend von ihrer Philosophie geleugnet, sondern bereits die Existenz einer äußeren Realität. Die schlimmste aller Ketzereien war der gesunde Menschenverstand. Und schrecklich war nicht, dass sie einen für das Andersdenken töten würden, sondern dass sie womöglich recht hatten. Denn woher wissen wir schließlich, dass zwei und zwei vier ergibt? Oder dass die Schwerkraft greift? Oder die Vergangenheit unveränderlich ist? Wenn sowohl die Vergangenheit als auch die externe Welt nur in der geistigen Vorstellungskraft existiert, und wenn der Geist selbst kontrollierbar ist – was dann?

Aber nein! Sein Mut schien sich plötzlich aus eigenem Antrieb zu verfestigen. Das Gesicht von O’Brien kam ihm ohne eine besondere Assoziation in den Sinn. Mit größerer [112]Gewissheit als zuvor wusste er, dass O’Brien auf seiner Seite stand. Er schrieb das Tagebuch für O’Brien – an O’Brien: Es war wie ein nie enden wollender Brief, den niemand je lesen würde, der aber an eine spezielle Person gerichtet war und daher eine besondere Färbung hatte.

Die Partei befahl, man dürfe der Beweiskraft der eigenen Augen und Ohren nicht trauen. Das war ihr letztgültiger und essentiellster Befehl. Ihm sank das Herz, als er an die ungeheure Macht dachte, die gegen ihn in Stellung gebracht wurde, oder daran, wie leicht ihm jeder Intellektuelle der Partei in einem Streitgespräch überlegen wäre, oder an die subtilen Argumente, die er nicht imstande war, nachzuvollziehen, geschweige denn zu widerlegen. Und trotzdem hatte er recht! Sie lagen falsch, und er hatte recht. Das Offensichtliche, das Einfältige und das Wahre mussten verteidigt werden. Gemeinplätze sind wahr, haltet euch daran fest! Die stoffliche Welt existiert, ihre Gesetzmäßigkeiten unterliegen keinen Veränderungen. Steine sind hart, Wasser ist nass, ungebundene Gegenstände fallen zur Erde. Mit dem Gefühl, geradewegs zu O’Brien zu sprechen, aber auch in der Gewissheit, einen bedeutsamen Grundsatz aufzustellen, schrieb er:

Freiheit ist die Freiheit zu sagen, dass zwei plus zwei vier ergibt. Wenn das gilt, folgt alles Weitere von selbst.

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