George Orwell: 1984

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Winston fischte zwei zerknitterte und schmuddelige Scheine aus der Tasche und überreichte sie Parsons, der die Spende in der sorgfältigen Handschrift des Analphabeten in ein kleines Notizbuch eintrug.

»Übrigens, alter Junge«, sagte er. »Hab gehört, dass mein kleiner Bengel Ihnen gestern eins mit der Schleuder verpasst hat. Hab ihm dafür ordentlich eins hinter die Ohren gegeben. Hab ihm auch gesacht, dass er die Schleuder die längste Zeit gehabt hat, wenn er das noch mal macht.«

»Ich glaube, er war ein bisschen angesäuert, weil er nicht zur Hinrichtung durfte«, sagte Winston.

»Äh, na ja – was ich damit sagen will, der hat die richtige Einstellung, ne? Freche kleine Bengel sind das, alle zwei, aber an Eifer mangelt’s bei denen nu wirklich nich! Die ham nichts anderes im Kopf als die Spione – und den Krieg natürlich. Wissen Se, was meine Kleene letzten Samstag gemacht hat, als ihre Truppe auf ner Gemeinschaftswanderung nach Berkhamsted war? Hat sich zwei andere Mädels geschnappt, hat sich mit denen abgesetzt und hat den ganzen Nachmittag so nen merkwürdig aussehenden Mann verfolgt. Zwei Stunden lang ham die den verfolgt, mitten durch’n Wald, und als sie nach Amersham kamen, ham sie ihn der Polizeistreife übergeben.«

»Warum haben sie das gemacht?«, fragte Winston etwas verdutzt.

Parsons fuhr triumphierend fort: »Meine Kleene hat gemerkt, dass der so ne Art feindlicher Agent war – könnt ja zum Beispiel mit’m Fallschirm abgesetzt worden sein. Und jetzt kommt’s, alter Junge. Was glauben Se, was das Kind überhaupt auf den gebracht hat? Sie hat gemerkt, dass der komische Schuhe anhatte – sachte, sie hätte noch nie jemanden mit so welchen Schuhen gesehen. Also war’s ziemlich wahrscheinlich, dass das ein Ausländer war. Ganz schön schlau für’n siebenjähriges Gör, oder?«

»Was ist mit dem Mann passiert?«, fragte Winston.

»Äh, hab keine Ahnung. Aber es tät mich nich wundern, wenn ...« Parsons machte eine Bewegung, als lege er ein Gewehr an, und imitierte mit einem Zungenschnalzen den Schuss.

»Gut«, murmelte Syme geistesabwesend, ohne von seinem Blatt aufzublicken.

»Natürlich können wir es uns nicht leisten, solche Risiken einzugehen«, stimmte Winston pflichtbewusst zu.

»Meine Rede, es herrscht ja schließlich Krieg«, sagte Parsons.

Wie zur Bestätigung erscholl ein Trompetensignal aus dem Teleschirm direkt über ihren Köpfen. Diesmal handelte es sich jedoch nicht um die Verkündung eines militärischen Sieges, sondern lediglich um eine Mitteilung des Ministeriums für Fülle.

»Genossen!«, rief eine eifrige jugendliche Stimme. »Achtung, Genossen! Wir haben wunderbare Neuigkeiten für Sie. Wir haben die Produktionsschlacht gewonnen! Die nun abgeschlossenen amtlichen Berichte über die Produktion von Konsumgütern aller Klassen zeigen, dass der Lebensstandard im vergangenen Jahr um nicht weniger als 20 Prozent gestiegen ist. In ganz Ozeanien kam es heute Morgen zu spontanen Demonstrationen, als Arbeiter aus Fabriken und Büros marschierten und mit Transparenten durch die Straßen zogen, um dem Großen Bruder für unser neues, glückliches Leben zu danken, das seine weise Führung uns geschenkt hat. Es folgen einige der endgültigen Zahlen. Lebensmittel –«

Der Satz »unser neues, glückliches Leben« wurde mehrmals wiederholt. Dieser Ausdruck war in letzter Zeit ein Lieblingsausdruck beim Ministerium für Fülle. Parsons, dessen Aufmerksamkeit durch das Trompetensignal geweckt worden war, saß da und hörte ernst glotzend, mit einer Art erbauter Langeweile zu. Er konnte den Zahlen nicht folgen, war sich aber bewusst, dass sie auf irgendeine Weise einen Anlass zur Zufriedenheit boten. Er hatte eine große, schmierige Pfeife hervorgeholt, die bereits halb voll mit verkohltem Tabak war. Bei einer wöchentlichen Tabakration von 100 Gramm konnte man seine Pfeife selten komplett füllen. Winston rauchte eine Victory-Zigarette, die er sorgfältig waagerecht hielt. Die neue Ration war erst morgen fällig, und er hatte nur noch vier Zigaretten. Im Moment hatte er seine Ohren vor den Hintergrundgeräuschen verschlossen und hörte sich das Zeug an, das aus dem Teleschirm tönte. Es hatten offensichtlich sogar Demonstrationen stattgefunden, um dem Großen Bruder für die Erhöhung der Schokoladenration auf zwanzig Gramm pro Woche zu danken. Dabei war doch erst gestern, überlegte er, angekündigt worden, die Ration auf zwanzig Gramm pro Woche zu reduzieren. War es möglich, dass die Leute das nach nur vierundzwanzig Stunden schlucken könnten? Ja, sie schluckten es. Parsons schluckte es problemlos, mit der Dummheit eines Tieres. Die augenlose Kreatur am Nebentisch schluckte es fanatisch, leidenschaftlich, mit dem rasenden Verlangen, jeden aufzuspüren, zu denunzieren und zu vaporisieren, der andeuten sollte, dass die Ration letzte Woche bei dreißig Gramm gelegen habe. Auch Syme schluckte es – allerdings auf eine komplexere Art und Weise, die Zwiedenk erforderte. War er damit also der EINZIGE, der ein Gedächtnis hatte?

Aus dem Teleschirm strömten weiter die sagenhaften Statistiken. Im Vergleich zum vergangenen Jahr gab es mehr Lebensmittel, mehr Kleidung, mehr Häuser, mehr Möbel, mehr Kochtöpfe, mehr Benzin, mehr Schiffe, mehr Hubschrauber, mehr Bücher, mehr Babys – mehr von allem außer von Krankheit, Verbrechen und Wahnsinn. Jahr für Jahr und Minute für Minute erlebte alles und jeder einen rasanten Anstieg. Wie zuvor Syme hatte Winston seinen Löffel in die Hand genommen, malte damit in der bleichen Soße, die über den Tisch tropfte, und zog eine lange Schliere zu einem Muster aus. Er grübelte verstimmt über die physische Beschaffenheit des Lebens. War es schon immer so gewesen? Hatte das Essen schon immer so geschmeckt? Er sah sich in der Kantine um. Ein überfüllter Raum mit niedrigen Decken, dessen Wände durch den Kontakt unzähliger Körper schmutzig geworden waren; ramponierte Metalltische und -stühle, die so dicht beieinanderstanden, dass man sich beim Sitzen mit den Ellenbogen berührte; verbogene Löffel, verbeulte Tabletts, schäbige weiße Becher; alle Oberflächen schmierig, Dreck in jeder Ritze; und ein säuerlicher Geruch, zusammengesetzt aus schlechtem Gin, schlechtem Kaffee, metallischem Eintopf und schmutzigen Kleidern. Ständig rebellierten der Bauch und die Haut in einer Art Protest, einem Gefühl, dass man um etwas betrogen wurde, auf das man ein Anrecht hatte. Er hatte jedoch keine Erinnerungen daran, dass es jemals wirklich anders gewesen wäre. Soweit er sich zurückerinnern konnte, hatte es nie genug zu essen gegeben, hatte man nie Socken oder Unterwäsche gehabt, die nicht voller Löcher waren, die Möbel waren immer ramponiert und klapprig, die Zimmer ungenügend geheizt, U-Bahnen überfüllt, die Häuser verfallen, das Brot dunkel, Tee eine Seltenheit, Kaffee widerlich schmeckend, Zigaretten knapp gewesen – nichts war billig und ausreichend vorhanden außer dem synthetischen Gin. Und obwohl es natürlich mit zunehmendem Alter immer schlimmer für einen wurde, war dies nicht doch ein Zeichen dafür, dass dies NICHT die natürliche Ordnung der Dinge war, wenn einem das Herz schwer wurde bei all der Unbehaglichkeit, dem Dreck und dem Mangel, den endlosen Wintern, der Klebrigkeit der eigenen Socken, den Aufzügen, die nie funktionierten, dem kalten Wasser, der grobkörnigen Seife, den zerbröselnden Zigaretten, dem Essen mit seinem merkwürdig üblen Geschmack? Warum sollte man das alles als unerträglich empfinden, wenn man nicht eine Art Urerinnerung daran hatte, dass die Dinge einmal anders gewesen waren?

Er sah sich erneut in der Kantine um. Fast jeder hier war hässlich und wäre auch dann noch hässlich gewesen, wenn er etwas anderes als den blauen Einheitsoverall getragen hätte. Am anderen Ende des Raumes saß ein kleiner, seltsam käferartiger Mann allein an einem Tisch und trank eine Tasse Kaffee, wobei seine kleinen Augen argwöhnische Blicke von einer Seite zur anderen warfen. Wenn man sich nicht umsah, dachte Winston, war es leicht zu glauben, dass der von der Partei als Ideal aufgestellte Körpertyp – große muskulöse Jungen und vollbusige Mädchen, blond, vital, sonnenverbrannt, sorglos – wirklich existierte und sogar vorherrschte. Soweit er es beurteilen konnte, war die Mehrheit der Leute von Stützpunkt Eins klein, dunkelhaarig und hässlich. Es war merkwürdig, wie sich dieser käferähnliche Typ in den Ministerien vermehrte: kleine plumpe Männer, die bereits früh im Leben dick wurden, mit kurzen Beinen, schnellen, huschenden Bewegungen und schwabbeligen, undurchdringlichen Gesichtern mit sehr kleinen Augen. Genau dieser Typ schien unter der Herrschaft der Partei am besten zu gedeihen.

Die Durchsage des Ministeriums für Fülle endete mit einem weiteren Trompetensignal und wich einer blechernen Musik. Parsons, bei dem das Zahlenbombardement vage Begeisterung entfacht hatte, nahm seine Pfeife aus dem Mund.

»Das Ministerium für Fülle hat dieses Jahr echt gute Arbeit geleistet«, sagte er mit einem wissenden Kopfnicken. »Übrigens, Smith, alter Junge, Sie ham nicht zufällig ein paar Rasierklingen, die Sie mir überlassen könnten?«

»Nicht eine«, sagte Winston. »Ich benutze selbst seit sechs Wochen dieselbe Klinge.«

»Ah, na ja – ich dachte nur, ich könnt Sie ja mal fragen, alter Junge.«

»Tut mir leid«, sagte Winston.

Die quakende Stimme vom Nebentisch, die während der Ankündigung des Ministeriums vorübergehend verstummt war, erhob sich nun wieder so laut wie zuvor. Aus irgendeinem Grund dachte Winston plötzlich an Mrs. Parsons mit ihren strähnigen Haaren und dem Staub in den Falten ihres Gesichts. Innerhalb von zwei Jahren würden ihre Kinder sie bei der Gedankenpolizei denunzieren. Mrs. Parsons würde vaporisiert werden. Syme würde vaporisiert werden. Winston würde vaporisiert werden. O’Brien würde vaporisiert werden. Parsons hingegen würden niemals vaporisiert werden. Die augenlose Kreatur mit der quakenden Stimme würde niemals vaporisiert werden. Die kleinen käferähnlichen Männer, die so flink durch die labyrinthischen Korridore der Ministerien huschten, auch sie würden nie vaporisiert werden. Und das Mädchen mit den schwarzen Haaren, das Mädchen aus der Romanabteilung – sie würde ebenfalls nie vaporisiert werden. Es schien ihm, als wisse er instinktiv, wer überleben und wer umkommen würde; obwohl er nicht ohne Weiteres sagen konnte, was denn nun genau das Überleben sicherte.

 

In diesem Moment wurde er mit einem heftigen Ruck aus seinen Träumereien gerissen. Das Mädchen am Nebentisch hatte sich etwas umgedreht und sah ihn an. Es war das Mädchen mit den schwarzen Haaren. Sie sah ihn mit einem verstohlenen Seitenblick, aber mit seltsamer Intensität an. In dem Moment, als sich ihre Blicke trafen, sah sie wieder weg.

Winston brach der Schweiß aus allen Poren. Ein furchtbarer Schreck durchzuckte ihn. Er war fast sofort wieder verschwunden, hinterließ aber eine Art nagendes Unbehagen. Warum beobachtete sie ihn? Warum verfolgte sie ihn ständig? Leider konnte er sich nicht erinnern, ob sie bereits an diesem Tisch gesessen hatte, als er gekommen war, oder ob sie erst nach ihm gekommen war. Jedenfalls hatte sie sich gestern, während des Zwei-Minuten-Hasses, direkt hinter ihn gesetzt, wozu keine offensichtliche Notwendigkeit bestanden hatte. Sehr wahrscheinlich hatte ihre Absicht darin gelegen, ihm ganz genau zuzuhören und sich davon zu überzeugen, ob er laut genug mitbrüllte.

Sein früherer Verdacht fiel ihm wieder ein: Wahrscheinlich war sie nicht wirklich ein Mitglied der Gedankenpolizei, andererseits stellten gerade die Amateurspitzel die größte Gefahr von allen dar. Er wusste nicht, wie lange sie ihn bereits beobachtet hatte, aber vielleicht schon fünf Minuten, und es konnte sein, dass er seine Gesichtsmimik nicht perfekt unter Kontrolle gehabt hatte. Es war fürchterlich gefährlich, seine Gedanken schweifen zu lassen, solange man sich an einem öffentlichen Ort oder in Reichweite eines Teleschirms befand. Die geringste Kleinigkeit konnte einen verraten. Ein nervöses Zucken, ein unbewusster ängstlicher Ausdruck, die Angewohnheit, vor sich hin zu murmeln – alles, was auch nur den Verdacht einer Abweichung weckte oder darauf hindeutete, dass man etwas zu verbergen hatte. Es war an sich schon ein strafbares Vergehen, einen unangemessenen Gesichtsausdruck zu tragen (zum Beispiel ungläubig auszusehen, wenn ein Sieg verkündet wurde). In Neusprech gab es sogar ein Wort dafür: Sichtbrech, Gesichtsverbrechen also, so hieß es.

Das Mädchen hatte sich wieder von ihm abgewandt. Vielleicht verfolgte sie ihn doch nicht, vielleicht war es reiner Zufall, dass sie zwei Tage hintereinander so nahe bei ihm gesessen hatte. Seine Zigarette war ausgegangen, und er legte sie vorsichtig auf die Tischkante. Er würde sie nach der Arbeit zu Ende rauchen, wenn inzwischen nicht der Tabak herausgefallen war. Mit großer Wahrscheinlichkeit war die Person am Nebentisch eine Spionin der Gedankenpolizei, und höchstwahrscheinlich würde er innerhalb von drei Tagen in den Kellern des Ministeriums für Liebe stecken, aber einen Zigarettenstummel durfte man nicht verschwenden. Syme hatte seinen Papierstreifen zusammengefaltet und in seiner Tasche verstaut. Parsons hatte wieder angefangen zu reden.

»Hab ich Ihnen jemals erzählt, alter Junge«, sagte er kichernd, das Pfeifenmundstück zwischen den Zähnen, »wie meine zwei Racker den Rock von ner alten Marktfrau angezündet ham, weil sie gesehen hatten, wie die Alte Würstchen in ein Plakat vom Großen Bruder wickelte? Ham sich von hinten an sie rangeschlichen und sie mit nen paar Streichhölzern angefackelt. Ich glaub, die hat sich ziemlich bös verbrannt. Kleine Bengel, ne? Aber sie sind nu mal Feuer und Flamme! Is’n erstklassiges Training, das die heutzutage bei den Spionen kriegen – sogar besser als zu meiner Zeit. Was glauben Se wohl, womit die die Racker neuerdings ausrüsten? Hörrohre zum Lauschen an Schlüssellöchern! Meine Kleene brachte neulich eins mit heim – hat’s an unserer Wohnzimmertür ausprobiert und meinte, sie könnte doppelt so viel hören, wie wenn sie das Ohr ans Loch hält. Is natürlich bloß ein Spielzeug. Bringt sie aber trotzdem auf die richtige Spur, ne?«

In diesem Moment ertönte aus dem Teleschirm ein durchdringendes Pfeifen. Es war das Signal, wieder an die Arbeit zu gehen. Alle drei Männer sprangen auf, um sich in das Gewühl bei den Aufzügen zu stürzen, und der verbleibende Tabak krümelte aus Winstons Zigarette heraus.

KAPITEL 6

Winston schrieb in sein Tagebuch:

Es war vor drei Jahren. Es war an einem dunklen Abend in einer engen Seitenstraße in der Nähe eines der großen Bahnhöfe. Sie stand vor einem Tor in der Mauer unter einer Straßenlaterne, die nur spärliches Licht spendete. Sie hatte ein junges Gesicht, sehr stark geschminkt. Es war vor allem die Schminke, die mich anzog, das maskenhafte Weiß und die leuchtend roten Lippen. Die Frauen von der Partei schminken sich nie. Es war sonst niemand auf der Straße und da waren auch keine Teleschirme. Sie sagte zwei Dollar. Ich –

Es war für ihn im Augenblick zu schwierig weiterzuschreiben. Er schloss die Augen, presste die Finger dagegen und versuchte so, das immer wiederkehrende Bild zu verdrängen. Er verspürte ein beinahe überwältigendes Verlangen, lauthals einen Schwall schmutziger Worte hinauszuschreien. Oder seinen Kopf gegen die Wand zu schlagen, den Tisch umzutreten und das Tintenfass aus dem Fenster zu schleudern – irgendetwas Gewalttätiges, Lärmendes oder Schmerzhaftes zu tun, um die quälende Erinnerung auszulöschen.

Der schlimmste Feind, so dachte er, waren die eigenen Nerven. Jeden Augenblick konnte sich die innere Spannung in ein äußerlich sichtbares Symptom verwandeln. Er dachte an einen Mann, an dem er vor ein paar Wochen auf der Straße vorbeigegangen war; ein ganz normal aussehender Mann, ein Parteimitglied, zwischen fünfunddreißig und vierzig Jahre alt, ziemlich groß und dünn, mit einer Aktentasche. Sie waren ein paar Meter voneinander entfernt gewesen, als die linke Gesichtshälfte des Mannes plötzlich von einer Art Krampf verzerrt wurde. Es passierte erneut, gerade als sie aneinander vorbeikamen: Es war nur ein Zucken, ein Zittern, schnell wie das Klicken eines Kameraverschlusses, aber offenbar etwas Gewohnheitsmäßiges. Er erinnerte sich, dass er damals gedacht hatte: Der arme Teufel ist erledigt. Und das Erschreckende daran war, dass es sich dabei höchstwahrscheinlich um einen unbewussten Vorgang handelte. Die tödlichste Gefahr von allen war es, im Schlaf zu reden. Soweit er wusste, gab es aber keine Möglichkeit, sich dagegen zu schützen.

Er atmete tief durch und schrieb weiter:

Ich ging mit ihr durch das Tor und über einen Hinterhof in eine Kellerküche. An der Wand stand ein Bett und auf dem Tisch eine Lampe, die nur sehr schwach leuchtete. Sie –

Er knirschte mit den Zähnen. Am liebsten hätte er auch noch gespuckt. Mit dem Gedanken an die Frau in der Kellerküche kam auch die Erinnerung an Katharine, seine Frau. Winston war verheiratet – oder jedenfalls verheiratet gewesen. Wahrscheinlich war er noch verheiratet, denn soweit er wusste, war seine Frau nicht tot. Ihm kam es vor, als atme er wieder den warmen, stickigen Geruch der Kellerküche ein, ein Geruchsgemisch aus Ungeziefer, dreckiger Wäsche und einem abscheulichen, billigen Parfüm, das dennoch verlockend war, weil keine Frau der Partei jemals Parfüm benutzte, da dies etwas völlig Unvorstellbares war. Nur die Prolls benutzten Parfüm. In seiner Vorstellung war dieser Geruch untrennbar mit Unzucht verbunden.

Als er mit dieser Frau gegangen war, war es sein erster Fehltritt seit ungefähr zwei Jahren gewesen. Der Verkehr mit Prostituierten war natürlich verboten, aber das war eine dieser Vorschriften, die man gelegentlich zu übertreten wagen konnte. Es war gefährlich, aber man riskierte dabei nicht Kopf und Kragen. Mit einer Prostituierten erwischt zu werden, könnte einem fünf Jahre in einem Zwangsarbeitslager einbringen, aber mehr nicht, wenn man kein weiteres Delikt begangen hatte. Und es war auch wirklich einfach, solange man vermied, in flagranti erwischt zu werden. In den ärmeren Vierteln wimmelten es nur so von Frauen, die bereit waren, sich zu verkaufen. Manche waren sogar für eine Flasche Gin zu haben, den die Prolls eigentlich nicht trinken durften. Stillschweigend neigte die Partei sogar dazu, die Prostitution zu fördern, weil sie als Ventil für Instinkte diente, die nicht vollständig unterdrückt werden konnten. Die bloße Ausschweifung war dabei kaum von Belang, solange sie heimlich und freudlos war und nur mit Frauen einer unterdrückten und verachteten Klasse vollzogen wurde. Ein unverzeihliches Verbrechen hingegen war Promiskuität zwischen Parteimitgliedern. Doch obwohl dies zu einem der Verbrechen gehörte, das die Angeklagten bei den großen Säuberungen ausnahmslos gestanden hatten, konnte man sich kaum vorstellen, dass so etwas wirklich passierte.

Das Ziel der Partei bestand nicht nur darin, das Zustandekommen enger Beziehungen zwischen Männern und Frauen zu verhindern, die sie vielleicht nicht mehr kontrollieren konnte. Ihre wirkliche, unausgesprochene Absicht war es, dem sexuellen Akt jegliche Lust zu nehmen. Nicht so sehr die Liebe als vielmehr die Erotik war der Feind, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Ehe. Alle Eheschließungen zwischen Parteimitgliedern mussten von einem zu diesem Zweck eingesetzten Gremium genehmigt werden, und die Genehmigung wurde immer dann verweigert – obwohl dieses Kriterium nie ausdrücklich festgehalten wurde –, wenn das betreffende Paar sich körperlich zueinander hingezogen zu fühlen schien. Der einzige anerkannte Zweck der Ehe bestand darin, Kinder für den Dienst der Partei zu zeugen. Der Geschlechtsverkehr sollte als ein leicht ekelerregender kleiner Eingriff angesehen werden, ähnlich wie ein Einlauf. Auch dies wurde nie deutlich ausgedrückt, sondern indirekt jedem Parteimitglied von Kindheit an eingeimpft. Es gab sogar Organisationen wie die Anti-Sex-Juniorenliga, die sich für ein vollständiges Zölibat beider Geschlechter einsetzten. Alle Kinder sollten durch künstliche Befruchtung (Kunstsam in Neusprech) gezeugt und in staatlichen Anstalten großgezogen werden. Winston war sich bewusst, dass dies nicht ganz ernst gemeint war, aber irgendwie passte es zur allgemeinen Ideologie der Partei. Die Partei versuchte, den Geschlechtstrieb abzutöten oder ihn wenigstens zu verzerren und in den Schmutz zu ziehen, falls er nicht vollständig unterdrückt werden konnte. Er wusste nicht, warum das so war, aber es schien natürlich, dass es so sein sollte. Und soweit es die Frauen betraf, so waren die Bemühungen der Partei weitgehend erfolgreich.

Er dachte wieder an Katharine. Es musste nun neun, zehn, fast elf Jahre her sein, dass sie sich getrennt hatten. Es war schon merkwürdig, wie selten er an sie dachte. Manchmal konnte er tagelang vergessen, dass er jemals verheiratet gewesen war. Sie hatten nur rund fünfzehn Monate zusammengelebt. Die Partei gestattete keine Scheidung, befürwortete aber bei kinderlosen Ehen die Trennung.

Katharine war ein großes, blondes Mädchen mit einer sehr geraden Haltung und herrlichen Bewegungen. Sie hatte ein kühnes, markantes Gesicht, ein Gesicht, das man vielleicht als edel bezeichnet hätte, bis man entdeckte, dass so gut wie nichts dahintersteckte. Schon sehr früh in ihrem Eheleben war er zu dem Schluss gelangt – vielleicht auch nur, weil er sie besser kannte als die meisten Menschen –, dass sie das ausnahmslos dümmste, vulgärste, hohlste Wesen war, dem er je begegnet war. Sie hatte keinen einzigen Gedanken im Kopf, der nicht aus Parteiparolen bestand, und es gab keinen, absolut keinen Schwachsinn, den sie nicht schluckte, wenn die Partei ihn ihr auftischte. »Die menschliche Tonspur« war sein heimlicher gedanklicher Spitzname für sie. Dennoch hätte er das Zusammenleben mit ihr ertragen können, wenn es diese eine Sache nicht gegeben hätte – Sex.

Sobald er sie berührte, schien sie zusammenzuzucken und sich zu versteifen. Sie zu umarmen war so, als würde man eine Holzpuppe umarmen. Und selbst dann, wenn sie ihn an sich zog, hatte er seltsamerweise das Gefühl, dass sie ihn gleichzeitig mit aller Kraft von sich wegstieß. Ihre versteiften Glieder vermittelten zumindest diesen Eindruck. Sie lag dann mit geschlossenen Augen da, weder widerstrebend noch mitspielend, sondern irgendwie ergeben. Es war außerordentlich unangenehm und nach einer Weile sogar richtig schrecklich. Aber selbst dann hätte er es ertragen, mit ihr zusammenzuleben, wenn sie sich darauf geeinigt hätten, fortan zölibatär zu bleiben. Doch kurioserweise lehnte Katharine dies entschieden ab. Sie müssten, wie sie sagte, nach Möglichkeit ein Kind zeugen. Also fand der Vorgang weiterhin statt, regelmäßig einmal pro Woche, sofern es nicht gerade unpassend war. Sie pflegte ihn sogar morgens daran zu erinnern, als etwas, das an diesem Abend erledigt und das nicht vergessen werden durfte. Sie hatte zwei Bezeichnungen dafür. Die eine lautete »ein Kind machen« und die andere war »unsere Pflicht gegenüber der Partei erfüllen« (ja, diesen Ausdruck hatte sie tatsächlich gebraucht). Bald schon entwickelte sich bei ihm ein regelrechtes Grauen, wenn der vereinbarte Tag näher rückte. Doch zum Glück kam kein Kind, und am Ende willigte sie ein, es nicht weiter zu versuchen, und bald darauf trennten sie sich.

 

Winston seufzte unhörbar. Er nahm seinen Federhalter wieder zur Hand und schrieb:

Sie warf sich auf das Bett und zog sofort, ohne jegliches Vorspiel, auf die vulgärste, abscheulichste Weise, die man sich vorstellen kann, ihren Rock hoch. Ich –

Er sah sich dort im gedämpften Licht der Lampe stehen, den Geruch von Ungeziefer und billigem Parfüm in der Nase und in seinem Herzen ein Gefühl der Niederlage und des Grolls, das sich selbst in diesem Moment mit dem Gedanken an Katharines weißen Körper vermischte, den die hypnotische Macht der Partei für immer hatte zu Eis erstarren lassen. Warum musste es immer so passieren? Warum konnte er nicht eine Frau für sich haben, statt alle paar Jahre einmal eines dieser schäbigen Handgemenge? Aber eine echte Liebesaffäre war etwas nahezu Undenkbares. Die Frauen in der Partei waren alle gleich. Keuschheit war in ihnen ebenso tief verwurzelt wie Parteitreue. Durch sorgfältige frühe Konditionierung, durch Spiele und kaltes Wasser, durch den ganzen Müll, der ihnen in der Schule und bei den Spionen und in der Jugendliga eingetrichtert wurde, durch Vorträge, Paraden, Lieder, Parolen und Militärmusik war ihnen jegliches natürliche Gefühl ausgetrieben worden. Sein Verstand sagte ihm, dass es Ausnahmen geben müsse, aber sein Herz glaubte es nicht. Sie waren alle uneinnehmbar, so wie die Partei sie haben wollte. Was er sich wirklich wünschte, noch sehnlicher, als geliebt zu werden, war, diese Mauer der Tugend niederzureißen, und sei es nur ein einziges Mal in seinem ganzen Leben. Der erfolgreich vollzogene Geschlechtsakt war Rebellion. Begierde war ein Gedankenverbrechen. Sogar Katharine sexuell erweckt zu haben, wenn er das jemals geschafft hätte, hätte als Verführung gegolten, obwohl sie seine Frau war.

Aber er musste die Geschichte noch zu Ende bringen. Er schrieb:

Ich drehte die Lampe heller. Im hellen Licht betrachtet –

Nach der Dunkelheit war ihm das schwache Licht der Paraffinlampe sehr hell erschienen. Zum ersten Mal konnte er die Frau richtig sehen. Er hatte einen Schritt auf sie zugemacht und war dann, erfüllt von Begierde und Entsetzen, stehen geblieben. Er war sich schmerzlich des Risikos bewusst, das er eingegangen war, als er hierhergekommen war. Es war durchaus möglich, dass eine Streife ihn beim Hinausgehen erwischen würde; vielleicht warteten sie in diesem Augenblick schon draußen vor der Tür. Wenn er nun wieder ging, ohne das zu tun, weswegen er hergekommen war ...!

Es musste aufgeschrieben, es musste gebeichtet werden. Im hellen Schein der Lampe hatte er plötzlich erkannt, dass die Frau ALT war. Ihr Gesicht war so dick mit Schminke zugekleistert, dass es aussah, als könne es zerreißen wie eine Pappmaschee-Maske. Ihr Haar war weiß gesträhnt, aber das wirklich Schreckliche war, dass ihr halb geöffneter Mund nichts enthüllte außer einer höhlenartigen Schwärze. Sie hatte überhaupt keine Zähne.

Hastig schrieb er in krakeliger Handschrift:

Im hellen Licht betrachtet war sie eine richtig alte Frau, mindestens fünfzig Jahre alt. Aber ich riss mich zusammen und tat es trotzdem.

Er presste erneut die Finger gegen seine Augenlider. Endlich hatte er es aufgeschrieben, aber es änderte nichts. Die Therapie hatte nicht funktioniert. Der Drang, so laut er konnte schmutzige Worte hinauszuschreien, war so stark wie je zuvor.

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