Sie und Er

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2.

Am anderen Tag erhielt Thérèse folgenden Brief von Laurent:

»Meine gute und liebe Freundin, wie habe ich Sie gestern verlassen? Sollte ich irgend etwas Ungeheuerliches zu Ihnen gesagt haben, vergessen Sie es, ich war mir dessen nicht bewusst. Mich hatte ein Schwindel befallen, der auch draußen nicht vorüberging; denn ich gelangte – im Wagen – vor meine Türe und konnte mich nicht erinnern, wie ich eingestiegen war.

Recht häufig passiert es mir, meine liebe Freundin, dass mein Mund ein Wort sagt, während mein Gehirn ein anderes ausspricht. Bedauern Sie mich und verzeihen Sie mir. Ich bin krank, und Sie hatten recht, das Leben, das ich führe, ist verabscheuungswürdig.

Mit welchem Recht dürfte ich Ihnen Fragen stellen? Doch eines müssen Sie mir gerechterweise zugutehalten, es ist das erstemal, dass ich eine solche Frage an Sie gerichtet habe … in den ganzen drei Monaten, seit Sie mich allein bei sich zu Hause empfangen. Was geht es mich an, ob Sie verlobt, verheiratet oder verwitwet sind …? Sie wollen, dass keiner das weiß; habe ich versucht, das herauszukriegen? Habe ich Sie gefragt …? Ach! Sehen Sie, Thérèse, heute Morgen ist in meinem Kopf immer noch alles durcheinander, und doch fühle ich, dass ich lüge, und Ihnen gegenüber will ich nicht lügen. Freitag Abend hatte ich meine erste Anwandlung von Neugier, was Sie betrifft, die von gestern war schon die zweite; und das soll die letzte gewesen sein, ich schwöre es Ihnen, und damit nie wieder die Rede davon ist, will ich Ihnen alles gestehen. Neulich war ich also vor Ihrer Türe, das heißt am Gartentor. Ich habe geschaut und habe nichts gesehen; ich habe gelauscht und ich habe vernommen! Schön und gut, was kümmert Sie das? Ich weiß seinen Namen nicht, ich habe sein Gesicht nicht gesehen; doch ich weiß, dass Sie meine Schwester, meine Vertraute, mein Trost, mein Halt sind. Ich weiß, dass ich gestern zu Ihren Füßen geweint habe und Sie mit Ihrem Taschentuch meine Tränen getrocknet und dabei gesagt haben: ›Was tun, was tun, mein armes Kind?‹ Ich weiß, Sie sind klug, fleißig, gelassen, geachtet, weil Sie frei sind und geliebt werden, weil Sie glücklich sind; und dennoch finden Sie die Zeit und die Barmherzigkeit, mich zu bedauern und stets daran zu denken, dass es mich gibt, und zu wünschen, ich solle ein besseres Leben führen. Gute Thérèse, Sie nicht preisen hieße undankbar sein, und so erbärmlich ich auch bin, Undankbarkeit kenne ich nicht. Wann wollen Sie mich empfangen, Thérèse? Mir scheint, ich habe Sie gekränkt. Das fehlte mir gerade noch. Darf ich heute Abend zu Ihnen kommen? Wenn Sie nein sagen, oh! wahrlich, dann muss ich mich zum Teufel scheren!«

Bei der Rückkehr seines Dieners erhielt Laurent die Antwort von Thérèse. Sie war kurz: »Kommen Sie heute Abend.« Laurent war weder durchtrieben noch eingebildet, obwohl er oft erwog oder versucht war, das eine oder das andere zu sein. Er war aber offensichtlich, wie wir gesehen haben, ein Wesen voller Widersprüche, das wir beschreiben, ohne es zu erklären; dies wäre nicht möglich: manche Charaktere entziehen sich der logischen Analyse.

Die Antwort von Thérèse ließ ihn erzittern wie ein Kind. Noch nie hatte sie ihm in solchem Ton geschrieben. Sollte er sich bei ihr seinen wohlverdienten Abschied holen? Oder lud sie ihn ein zu einem Abend zärtlicher Zweisamkeit? Hatte Entrüstung oder Leidenschaft diese vier trockenen oder glühenden Worte diktiert?

Herr Palmer kam, und Laurent musste, so aufgeregt und beunruhigt er auch war, mit seinem Porträt beginnen. Er hatte sich fest vorgenommen, ihn mit vollendeter Geschicklichkeit auszufragen und ihm sämtliche Geheimnisse von Thérèse zu entlocken. Er fand nicht ein einziges Wort, um zum Thema überzuleiten, und da der Amerikaner gewissenhaft, regungslos und stumm wie eine Statue Modell stand, ging die Sitzung vorüber, ohne dass der eine oder der andere auch nur den Mund aufgemacht hätte.

Laurent konnte sich also vollauf beruhigen und die gelassene und reine Physiognomie dieses Ausländers gründlich studieren. Palmer war von vollendeter Schönheit, was ihm beim ersten Anblick ein seelenloses Aussehen verlieh, wie es ebenmäßigen Gesichtern oft eigen ist. Bei genauerem Betrachten entdeckte man die Feinheit in seinem Lächeln und das Feuer in seinem Blick. Während Laurent diese Beobachtungen machte, erforschte er das Alter seines Modells.

»Entschuldigen Sie bitte«, sagte er unvermittelt zu ihm, »aber ich möchte und muss wissen, ob Sie ein junger Mann sind, der schon etwas müde ist, oder ein reifer Mann, der noch außergewöhnlich frisch ist. So sehr ich Sie auch betrachte, ich werde aus dem, was ich sehe, nicht ganz klug.«

»Ich bin vierzig Jahre alt«, antwortete Herr Palmer schlicht.

»Donnerwetter!«, erwiderte Laurent, »Sie müssen eine beachtliche Gesundheit haben!«

»Eine ausgezeichnete«, sagte Palmer.

Und er nahm seine ungezwungene Pose mit seinem stillen Lächeln wieder ein.

›Das ist das Gesicht eines glücklichen Liebhabers‹, sagte der Maler zu sich selbst, ›oder das eines Mannes, der in seinem Leben immer nur das Roastbeef zu schätzen gewusst hat.‹

Er konnte dem Verlangen nicht widerstehen, noch hinzuzufügen:

»Dann haben Sie Fräulein Jacques wohl sehr jung gekannt?«

»Sie war fünfzehn Jahre alt, als ich sie zum ersten Mal sah.«

Laurent brachte nicht den Mut auf zu fragen, in welchem Jahr. Ihm war, als stiege ihm jedes Mal die Röte ins Gesicht, wenn er von Thérèse sprach. Was bedeutete ihm überhaupt Thérèses Alter? Was er zu gern erfahren hätte, das war ihre Geschichte. Thérèse schien ihm noch keine dreißig Jahre alt; Palmer konnte für sie früher nur ein guter Freund gewesen sein. Außerdem hatte er eine laute Stimme und eine harte Aussprache. Würde sich Thérèse an ihn gewandt und zu ihm gesagt haben: »Ich liebe nur noch Sie«, dann müsste Palmer irgendeine Antwort gegeben haben, die Laurent gehört hätte.

Endlich wurde es Abend, und der Maler, der nicht pünktlich zu sein pflegte, erschien noch vor der Zeit, zu der Thérèse ihn für gewöhnlich empfing. Er traf sie in ihrem Garten, gegen ihre Gewohnheit untätig, aufgeregt herumlaufend. Sobald sie ihn sah, ging sie ihm entgegen und ergriff seine Hand, eher gebieterisch als leidenschaftlich.

»Wenn Sie ein Ehrenmann sind«, sagte sie zu ihm, »so werden Sie mir jetzt alles sagen, was Sie durch dieses Gebüsch hindurch gehört haben. Los, reden Sie, ich höre zu.«

Sie setzte sich auf eine Bank, und Laurent, irritiert durch diesen ungewohnten Empfang, versuchte sie in Unruhe zu versetzen, indem er ihr ausweichende Antworten gab; doch ihre missbilligende Haltung und ein Gesichtsausdruck, den er an ihr nicht kannte, geboten ihm Einhalt. Die Angst, sich mit ihr unwiderruflich zu überwerfen, ließen ihn ganz schlicht die Wahrheit sagen.

»Das ist alles, was Sie gehört haben?«, bemerkte Thérèse. »Ich habe zu einer Person, die Sie nicht einmal wahrnehmen konnten, gesagt: ›Sie sind jetzt meine einzige Liebe auf der Welt‹?«

»Habe ich denn das alles nur geträumt, Thérèse? Ich bin bereit, es zu glauben, wenn Sie es mir befehlen.«

»Nein, Sie haben nicht geträumt. Ich kann, ja, ich muss das gesagt haben. Und was hat man mir geantwortet?«

»Nichts, ich habe gar nichts gehört«, sagte Laurent, auf den die Antwort von Thérèse wie eine kalte Dusche wirkte, »noch nicht einmal den Ton der Stimme. Sind Sie beruhigt?«

»Nein! Ich frage Sie weiter aus. Zu wem, vermuten Sie, habe ich so gesprochen?«

»Ich vermute gar nichts. Ich wüsste da nur Herrn Palmer, über dessen Beziehung zu Ihnen mir nichts bekannt ist.«

»Sieh mal an!«, rief Thérèse mit einem seltsamen Ausdruck von Befriedigung. »Sie glauben also, es sei Herr Palmer gewesen?«

»Warum sollte er es nicht gewesen sein? Ist denn der Gedanke, eine frühere Bindung könnte plötzlich neu geknüpft werden, eine Beleidigung für Sie? Ich weiß, Ihre Beziehungen zu all denen, die ich hier seit drei Monaten bei Ihnen treffe, sind ebenso uneigennützig, was die Absichten der anderen angeht, wie gleichgültig, was Sie selbst betrifft, genau wie das Verhältnis, das ich selbst zu Ihnen habe. Herr Palmer ist sehr schön, und sein Auftreten ist galant und ritterlich. Er ist mir sehr sympathisch. Ich habe weder das Recht, noch bin ich so vermessen, von Ihnen Rechenschaft über Ihre privaten Gefühle zu verlangen. Nur … Sie werden sagen, ich hätte Ihnen nachspioniert.«

»Ja, in der Tat«, bemerkte Thérèse, die offenbar nicht die leiseste Absicht hatte, auch nur das Geringste zu leugnen, »warum spionieren Sie mir nach? In meinen Augen ist das schlecht, und ich kann es überhaupt nicht verstehen. Erklären Sie mir diese Anwandlung!«

»Thérèse!«, antwortete der junge Mann lebhaft, fest entschlossen, alles loszuwerden, was ihn noch bedrückte, »sagen Sie mir, dass Sie einen Geliebten haben und dass Herr Palmer dieser Liebhaber ist, und ich werde Sie wirklich lieben, ich werde zu Ihnen in vollkommener Unschuld sprechen. Ich werde Sie um Verzeihung bitten für einen Anfall von Torheit, und Sie werden mir niemals mehr etwas vorzuwerfen haben. Im Ernst! Wollen Sie, dass ich Ihr Freund bin? Trotz aller meiner Prahlereien fühle ich, dass ich dies brauche und dass ich dazu auch fähig bin. Seien sie aufrichtig mir gegenüber, das ist alles, worum ich Sie bitte!«

»Mein liebes Kind«, antwortete Thérèse, »Sie sprechen mit mir wie mit einem koketten Frauenzimmer, das versuchen möchte, Sie festzuhalten, und einen Fehltritt zu beichten hat. Diese Situation kann ich nicht hinnehmen; sie kommt mir einfach nicht zu. Herr Palmer ist und wird für mich immer nur ein hochgeschätzter Freund sein, mit dem ich nicht einmal auf vertrautem Fuße stehe und den ich seit Langem aus den Augen verloren hatte. So viel muss ich Ihnen sagen, aber darüber hinaus nichts mehr. Was meine Geheimnisse angeht, sofern ich welche habe, so brauche ich Ihnen mein Herz nicht auszuschütten, und ich bitte Sie, sich nicht mehr dafür zu interessieren, als ich es wünsche. Es ist also nicht Ihre Sache, mich auszufragen, vielmehr ist es an Ihnen, mir Rede und Antwort zu stehen. Was hatten Sie hier vor vier Tagen zu suchen? Warum spionieren Sie mir nach? Was ist das für ein Anfall von Torheit, den ich verstehen und über den ich urteilen soll?«

 

»Der Ton, in dem Sie mit mir sprechen, ist nicht ermutigend. Warum sollte ich denn beichten, da Sie nicht geruhen, mich als guten Freund zu behandeln und mir Vertrauen zu schenken?«

»Gut, dann beichten Sie eben nicht«, antwortete Thérèse und stand auf. »Das ist mir ein Beweis dafür, dass Sie die Achtung, die ich Ihnen entgegengebracht habe, nicht verdienen und dass Sie diese auch in keiner Weise erwidert haben, indem Sie versuchten, meinen Geheimnissen auf die Spur zu kommen.«

»Sie werfen mich also hinaus«, entgegnete Laurent, »und zwischen uns ist es aus?«

»Es ist aus, und Adieu«, antwortete Thérèse in strengem Ton.

Laurent entfernte sich, von einem Zorn erfüllt, der es ihm unmöglich machte, auch nur ein Wort herauszubringen; doch draußen hatte er noch keine dreißig Schritte getan, da kehrte er wieder um und sagte zu Catherine, er habe ganz vergessen, ihrer Herrin etwas auszurichten, worum er gebeten worden sei. Er fand Thérèse im kleinen Salon; die Türe zum Garten war offen geblieben; betrübt und niedergechlagen schien sie ganz in ihre Gedanken vertieft zu sein. Ihr Empfang war eisig.

»Sie wieder hier?«, sagte sie. »Was haben Sie vergessen?«

»Ich habe vergessen, Ihnen die Wahrheit zu sagen.«

»Ich will sie nicht mehr hören.«

»Und doch haben Sie mich vorhin darum gebeten!«

»Ich dachte, Sie könnten sie von sich aus sagen.«

»Ich konnte es, und ich musste es; es war falsch von mir, es nicht zu tun. Thérèse, glauben Sie denn, es sei für einen Mann in meinem Alter möglich, Sie zu sehen, ohne in Sie verliebt zu sein?«

»Verliebt?«, sagte Thérèse stirnrunzelnd. »Als Sie mir sagten, Sie könnten sich nicht in eine einzige Frau verlieben, wollten Sie mich wohl zum Besten halten?«

»Nein, bestimmt nicht, ich habe das gesagt, was ich dachte!«

»Dann haben Sie sich also getäuscht, und nun sind Sie verliebt; ist das ganz sicher?«

»Ach! Ach! Werden Sie nicht gleich böse, mein Gott, so sicher ist das nun auch wieder nicht. Gedanken an Liebe sind mir durch den Kopf gegangen, haben meine Sinne berührt, wenn Sie so wollen! Haben Sie so wenig Erfahrung, dass Sie so etwas für unmöglich halten könnten?«

»Ich bin in einem Alter, in dem man Erfahrungen hat«, antwortete Thérèse, »aber ich habe lange allein gelebt. So habe ich von bestimmten Situationen eben keine Erfahrungen. Erstaunt Sie das? Und doch ist das nun einmal so. Ich bin sehr arglos, obwohl ich schon einmal betrogen wurde … wie jedermann. Und Sie haben mir hundertmal gesagt, Sie verehrten mich viel zu sehr, um in mir eine Frau zu sehen, zumal Sie die Frauen nur mit größter Grobheit lieben könnten. Ich glaubte also geschützt zu sein vor der Beleidigung Ihres Begehrens; auch habe ich an Ihnen ganz besonders Ihre Aufrichtigkeit in diesem Punkt zu schätzen gewusst. Ich fühlte mich Ihrem Schicksal umso mehr verbunden, als wir lachend, Sie erinnern sich, aber im Grunde doch ernsthaft zueinander gesagt hatten: ›Zwischen zwei Geschöpfen, von denen das eine Idealist und das andere Materialist ist, liegt das ganze Baltische Meer.‹«

»Ich habe das in gutem Glauben gesagt und bin zuversichtlich an meinem Ufer entlanggewandert, ohne dass ich daran gedacht hätte, das Wasser zu überqueren; doch es stellte sich heraus, dass auf meiner Seite das Eis nicht trug. Ist das meine Schuld, dass ich vierundzwanzig Jahre alt bin und Sie schön sind?«

»Bin ich denn noch schön? Ich hatte gehofft, nein.«

»Ich weiß nicht so recht; zuerst fand ich es nicht, und dann habe ich Sie eines Tages doch so gesehen. Sie selbst, Sie haben das nicht gewollt, das weiß ich; und als ich diesen verführerischen Zauber spürte, habe ich es auch nicht gewollt, ganz und gar nicht, sodass ich versuchte, mich dagegen zu wehren und davon abzulenken. Ich habe dem Teufel zurückgegeben, was des Teufels ist, nämlich meine arme Seele; und ich habe hier dem Kaiser nur das dargebracht, was dem Kaiser gebührt, meine Achtung und mein Schweigen. Doch diese ungute Erregung taucht nun schon acht oder zehn Tage lang in meinen Träumen auf. Sie verschwindet, sobald ich in Ihrer Nähe bin. Mein Ehrenwort, Thérèse, wenn ich Sie sehe, wenn Sie mit mir reden, bin ich ganz ruhig. Ich erinnere mich nicht mehr, Sie gescholten zu haben in einem Augenblick von Wahnsinn, den ich mir selbst nicht erklären kann. Wenn ich von Ihnen spreche, dann sage ich, Sie seien nicht jung und die Farbe Ihrer Haare gefalle mir nicht. Ich verkünde, Sie seien meine große Gefährtin, das heißt mein Bruder, und ich habe das Gefühl, ehrlich zu sein, wenn ich das sage. Und dann weht irgendein Frühlingshauch durch den Winter meines törichten Herzens, und ich bilde mir ein, Sie seien es, die ihn mir zubläst. Ja, wahrhaftig, Sie sind es auch, Thérèse, Sie mit Ihrem Kult um das, was Sie die echte Liebe nennen! Das stimmt nachdenklich, ob man will oder nicht!«

»Ich glaube, da irren Sie sich, ich spreche nie von Liebe.«

»Ja, ich weiß. In dieser Hinsicht haben Sie eine vorgefasste Meinung. Irgendwo haben Sie gelesen, von Liebe zu sprechen bedeute schon, Liebe zu schenken oder zu nehmen; doch Ihr Schweigen ist von großer Beredsamkeit, Ihre Zurückhaltung macht fiebrig und Ihre übertriebene Vorsicht übt einen teuflischen Reiz aus.«

»Wenn das so ist, sehen wir uns besser nicht mehr«, sagte Thérèse.

»Warum nicht? Was macht es Ihnen schon aus, dass ich ein paar schlaflose Nächte gehabt habe, da es doch nur an Ihnen liegt, mich wieder so ruhig werden zu lassen, wie ich vorher war?«

»Was muss ich dafür tun?«

»Das, worum ich Sie gebeten habe: Geben Sie zu, dass Sie jemandem angehören. Ich werde es mir gesagt sein lassen, und da ich sehr stolz bin, werde ich geheilt sein, als hätte mich der Zauberstab einer Fee berührt.«

»Und wenn ich Ihnen sage, dass ich keinem angehöre, weil ich niemanden mehr lieben will; genügt Ihnen das nicht?«

»Nein, ich wäre so töricht zu glauben, Sie könnten Ihre Meinung ändern.«

Thérèse musste lachen, wie anmutig es Laurent verstand, gute Miene zum bösen Spiel zu machen.

»Na schön«, sagte sie zu ihm, »Sie sollen geheilt werden, und nun geben Sie mir eine Freundschaft zurück, die mich stolz machte, anstelle einer Liebe, die mich erröten ließe. Ich liebe jemanden.«

»Das genügt nicht, Thérèse: Sie müssen mir sagen, dass Sie ihm angehören!«

»Sonst würden Sie glauben, dieser Jemand, das seien Sie selbst, nicht wahr? Nun denn, ich habe einen Liebhaber. Sind Sie nun zufrieden?«

»Voll und ganz. Und sehen Sie, ich küsse Ihre Hand, um Ihnen für Ihre Offenheit zu danken. Machen Sie das Maß Ihrer Güte voll und sagen Sie mir, dass es Palmer ist!«

»Das ist mir ganz unmöglich. Ich müsste lügen …«

»Nun … daraus werde ich nicht klug!«

»Es ist niemand, den Sie kennen; es ist eine Person, die nicht hier ist.«

»Die jedoch ab und zu kommt?«

»Anscheinend … da Sie doch ein Bekenntnis belauscht haben …«

»Danke, danke, Thérèse! Jetzt stehe ich wieder fest auf den Beinen; ich weiß, wer Sie sind und wer ich bin, und wenn ich alles sagen darf, ich glaube, ich liebe Sie so noch mehr; nun sind Sie eine Frau und keine Sphinx mehr. Ach! Hätten Sie doch früher gesprochen!«

»Diese Leidenschaft hat Sie wohl ziemlich mitgenommen?«, meinte Thérèse spöttisch.

»Ach nein, oder doch, vielleicht! In zehn Jahren, Thérèse, kann ich es Ihnen sagen, und wir werden darüber zusammen lachen.«

»Abgemacht! Guten Abend.«

Laurent ging gefasst und tief enttäuscht zu Bett. Er hatte wirklich um Thérèse gelitten. Er hatte sie leidenschaftlich begehrt, ohne dass sie es ahnen durfte. Aber gerade diese Leidenschaft war bestimmt nicht gut gewesen. Ebenso viel Eitelkeit wie Neugier hatten sich eingeschlichen. Diese Frau, von der alle Freunde sagten: »Wen liebt sie eigentlich? Ich möchte gern derjenige sein, aber es ist keiner von uns«, war ihm wie ein Wunschbild erschienen, nach dem es zu greifen galt. Seine Phantasie war entbrannt, sein Stolz hatte sich verzehrt in der Angst, in der fast untrüglichen Gewissheit, dass er scheitern würde.

Doch dieser junge Mann war nicht einzig und allein von Stolz besessen. Er hatte dann und wann eine glänzende und souveräne Vorstellung vom Guten, vom Schönen und vom Wahren. Er war ein Engel, womöglich ein gefallener Engel wie so viele andere auch, doch zumindest verirrt und krank. Das Verlangen zu lieben zehrte an seinem Herzen, und hundertmal am Tag fragte er sich voller Entsetzen, ob er nicht schon zu viel Missbrauch mit seinem Leben getrieben habe und ob er noch genügend Kraft besitze, um glücklich zu werden.

Ruhig und traurig wachte er auf. Schon trauerte er seinem Trugbild, seiner schönen Sphinx nach, die in ihm mit gütiger Aufmerksamkeit zu lesen verstand, die ihn bald bewunderte und bald schalt, die ihn aber auch ermutigte oder bedauerte, ohne jemals irgendetwas von ihrem eigenen Schicksal preiszugeben, und die doch ganze Schätze an Zuneigung, Hingabe, ja vielleicht Wonne ahnen ließ! Zumindest gefiel es Laurent, das Schweigen von Thérèse über sich selbst so zu deuten und ebenso ein gewisses geheimnisvolles Lächeln wie das der Mona Lisa, das sich auf ihren Lippen und in ihren Augenwinkeln zeigte, wenn er in ihrer Gegenwart lästerte. In diesen Augenblicken sah sie so aus, als denke sie bei sich: »Angesichts dieser bösen Hölle wäre es mir ein Leichtes, das Paradies zu beschreiben, doch dieser arme Narr würde mich nicht verstehen.«

Nachdem das Geheimnis ihres Herzens aufgedeckt war, verlor Thérèse in den Augen von Laurent zunächst ihr ganzes Ansehen. Sie war nur noch eine Frau wie alle anderen auch. Er war sogar versucht, sie in seiner Achtung herabzusetzen, und ihr, auch wenn sie sich niemals hatte ausfragen lassen, Heuchelei und Prüderie vorzuwerfen. Doch nun sie jemandem angehörte, bedauerte er kaum noch, sie geachtet zu haben, und begehrte nichts mehr von ihr, nicht einmal ihre Freundschaft, die er, wie er dachte, mühelos anderswo finden könnte.

Dieser Zustand hielt zwei oder drei Tage an, in denen sich Laurent mehrere Ausflüchte zurechtlegte, um sich zu entschuldigen, sollte Thérèse ihn zufällig fragen, warum er sie so lange nicht besucht habe. Am vierten Tag befiel Laurent ein unbeschreiblicher Lebensüberdruss. Bei den Freudenmädchen und bei den leichten Damen wurde ihm ganz einfach übel; auch bei keinem seiner Freunde konnte er die geduldige und feinsinnige Güte von Thérèse finden, die seinen Verdruss bemerkt, die ihn abzulenken versucht, die mit ihm zusammen nach der Ursache oder einem Heilmittel geforscht, kurz, die sich um ihn gekümmert hätte. Sie allein wusste, was es ihm zu sagen galt, und schien zu verstehen, dass das Geschick eines Künstlers wie Laurent keine nebensächliche Angelegenheit war, von der ein erhabener Geist hätte behaupten dürfen, nun er sich unglücklich fühle, sei ihm eben nicht zu helfen.

Er lief in solcher Eile zu ihr hin, dass er vergaß, was er ihr sagen wollte, um sich zu entschuldigen; doch Thérèse bekundete weder Missfallen noch Erstaunen über dieses Versäumnis, und sie ersparte es ihm zu lügen, indem sie einfach keine Fragen stellte. Nun fühlte er sich beleidigt und erkannte, dass er noch eifersüchtiger war als vorher.

›Sicher hat sie ihren Liebhaber getroffen‹, dachte er, ›mich wird sie vergessen haben.‹

Gleichwohl ließ er sich seinen Ärger nicht anmerken und nahm sich von nun an so in Acht, dass Thérèse sich täuschen ließ.


Mehrere Wochen vergingen ihm in einem ständigen Wechsel von Wut, Kälte und Zärtlichkeit. Nichts auf der Welt war für ihn so unentbehrlich und so wohltuend wie die Freundschaft dieser Frau, nichts war für ihn so bitter und so verletzend wie die Tatsache, dass er kein Recht auf ihre Liebe geltend machen konnte. Das Geständnis, das er ihr abverlangt hatte, trug in keiner Weise, wie er gehofft hatte, zu seiner Heilung bei, vielmehr verschlimmerte sich sein Leiden zusehends. Das war reine Eifersucht, die er sich nicht länger zu verbergen vermochte, denn sie hatte eine eindeutige und sichere Ursache. Wie hatte er sich nur einbilden können, sobald er diese Ursache kenne, werde er es verschmähen, zu kämpfen, um sie zu beseitigen?

 

Und doch machte er keinerlei Anstrengungen, den unsichtbaren und glücklichen Nebenbuhler auszustechen. Sein Stolz, der in Thérèses Nähe grenzenlos war, ließ das nicht zu. War er allein, so hasste er den anderen, verleumdete er ihn in seinem Inneren, indem er diesem Phantom lauter Lächerlichkeiten andichtete, es beleidigte und zehnmal am Tag herausforderte.

Verlor er aber die Lust am Leiden, dann kehrte er zum lasterhaften Leben zurück, vergaß sich selbst für einen Augenblick und verfiel wieder in tiefe Schwermut, verbrachte dann zwei Stunden bei Thérèse, war glücklich, sie zu sehen, die gleiche Luft zu atmen wie sie und ihr zu widersprechen aus lauter Freude daran, ihre grollend liebkosende Stimme hören zu können.

Zuletzt hasste er sie dafür, dass sie seine Qualen nicht erriet; er verachtete sie, weil sie diesem Liebhaber treu blieb, der ja höchstens ein Durchschnittsmensch sein konnte, da sie keinerlei Bedürfnis empfand, über ihn zu sprechen; er verließ sie und schwor sich, sie lange Zeit nicht mehr aufzusuchen, aber schon eine Stunde später wäre er am liebsten umgekehrt, wenn er hätte hoffen dürfen, von ihr empfangen zu werden.

Thérèse, die einen Augenblick lang seine Liebe bemerkt hatte, ahnte nichts mehr davon, so gut spielte er seine Rolle. Sie hatte dieses unglückliche Kind aufrichtig gern. Unter ihrem ruhigen und besonnenen Wesen war sie eine begeisterte Künstlerin und hatte, wie sie es nannte, eine Art Kult mit demjenigen getrieben, der es hätte sein können; nun blieb ihr nur noch übrig, ihn zu verwöhnen, aus übergroßem Mitleid, dem sich noch aufrichtige Achtung vor dem leidenden und verirrten Genie beimischte. Wäre sie ganz sicher gewesen, in ihm kein verhängnisvolles Begehren zu wecken, sie hätte ihn gestreichelt wie einen Sohn, und es gab Augenblicke, in denen sie sich zusammennehmen musste, dass ihr nicht das Du über die Lippen kam.

War bei diesem mütterlichen Gefühl noch Liebe mit im Spiel? Ganz bestimmt, doch ohne Thérèses Wissen, denn eine wahrhaft keusche Frau, deren Leben lange Zeit mehr Arbeit als Leidenschaft gewesen ist, kann lange vor sich selbst das Geheimnis einer Liebe hüten, gegen die sie sich wehren zu müssen glaubt. Thérèse meinte sicher zu sein, sie werde niemals an ihre eigene Befriedigung in dieser Zuneigung denken, die ganz auf ihre Kosten ging; sobald Laurent in ihrer Nähe Ruhe und Wohlbefinden verspürte, fühlte auch sie in sich selbst solche Kräfte, die sie ihm wiederum zufließen lassen konnte. Sie wusste sehr gut, dass er unfähig war, so zu lieben, wie sie sich das vorstellte; außerdem hatte diese launenhafte Anwandlung, die er ihr gestanden hatte, sie verletzt und erschreckt. Nachdem nun diese Krise vorüber war, beglückwünschte sie sich, in einer unschuldigen Lüge das Mittel gefunden zu haben, einem Rückfall vorzubeugen; und da Laurent bei jeder Gelegenheit, sobald er etwas erregt war, eiligst das unüberwindliche Hindernis des »Baltischen Meeres« heraufbeschwor, hatte sie keine Angst mehr und gewöhnte sich daran, ohne Verbrennungen mitten im Feuer zu leben.

Alle diese Qualen und alle diese Bedrohungen der beiden Freunde blieben verdeckt und reiften gleichsam heran unter einer zur Gewohnheit gewordenen spöttischen Heiterkeit, die kennzeichnend ist für die Lebensart französischer Künstler, ja geradezu ihr unauslöschliches Siegel. Sie ist so etwas wie eine zweite Natur, die uns von den Fremden aus dem Norden sehr häufig vorgehalten wird und um derentwillen uns vor allem die ernsten Engländer nicht selten verachten. Und doch macht gerade diese Lebensart den besonderen Charme delikater Liebesbeziehungen aus und bewahrt uns häufig vor so manchen Torheiten und Fehlern. Die komische Seite der Dinge suchen heißt die schwache und unlogische Seite aufdecken. Der Gefahren spotten, in die sich die Seele verstrickt sieht, heißt ihnen entgegentreten, so wie unsere Soldaten singend und lachend ins Feuer ziehen. Über einen Freund spotten, heißt oft, ihn vor der Verweichlichung der Seele retten, an der er, durch unser Mitleid ermutigt, hätte Gefallen finden können. Und sich selbst zu verspotten, heißt, sich vor der törichten Trunkenheit übertriebener Eigenliebe bewahren. Ich habe festgestellt, dass Menschen, die niemals scherzen, mit einer kindischen und unerträglichen Eitelkeit beladen sind.

Laurents Heiterkeit war wie ein blendender Rausch von Farben und Geist, genau wie seine Begabung, und sie wirkte umso natürlicher, als sie echt war. Thérèse war nicht so geistreich wie er, da sie von Natur aus verträumt und zu bequem war, viel zu reden; doch bedurfte gerade sie der Ausgelassenheit der anderen, damit ganz allmählich auch ihre Heiterkeit mit einfließen konnte, und dann war ihre eher stille Fröhlichkeit nicht ohne Charme.

Die zur Gewohnheit gewordene gute Laune, an der sie festhielten, brachte es mit sich, dass die Liebe, ein Thema, über das Thérèse niemals scherzte und über das in ihrer Gegenwart auch nicht gescherzt werden durfte, sich mit keinem Wort einschleichen und mit keinem Ton anklingen konnte.

An einem schönen Morgen war dann das Porträt von Herrn Palmer fertig; Thérèse übergab Laurent im Auftrag ihres Freundes eine ansehnliche Summe, und er versprach ihr, das Geld für den Krankheitsfall oder für unvorhergesehene dringende Ausgaben zurückzulegen.

Während der Arbeit an dem Porträt hatte sich Laurent mit Palmer angefreundet. Er erschien ihm so, wie er war: aufrichtig, gerecht, hochherzig, intelligent und gebildet. Palmer war ein reicher Bürger, dessen ererbtes Vermögen aus dem Handel stammte. In der Jugend hatte er dieses Gewerbe noch selbst betrieben und dafür weite Reisen unternommen. Mit dreißig Jahren kam ihm die vernünftige Einsicht, sich für reich genug zu halten und für sich selbst leben zu wollen. Nun reiste er nur noch zu seinem Vergnügen, und nachdem er, wie er sagte, viele merkwürdige Dinge und ungewöhnliche Länder gesehen hatte, fand er jetzt am Anblick wahrhaft schöner Dinge und am Studium der Länder Gefallen, die durch ihre Kultur und Zivilisation wirklich interessant waren.

Ohne auf dem Gebiet der Künste besonders gebildet zu sein, trat er mit einem ziemlich sicheren Urteil an sie heran und hatte auf allen Gebieten Ansichten, die so gesund waren wie seine natürlichen Neigungen. Seinem Französisch merkte man eine gewisse Befangenheit an, die so weit ging, dass er zu Beginn eines Gesprächs fast unverständlich und köstlich fehlerhaft redete; doch wenn er sich dann sicherer fühlte, erkannte man, dass er die Sprache beherrschte und ihm nur eine längere Übung und mehr Selbstvertrauen fehlten, um sie sehr gut zu sprechen.

Anfangs hatte Laurent diesen Mann mit großer Beunruhigung und Neugier studiert. Als endgültig feststand, dass er nicht der Liebhaber von Fräulein Jacques war, fing er an, ihn zu schätzen und so etwas wie Freundschaft für ihn zu empfinden, die in der Tat fast seiner Freundschaft für Thérèse ähnelte. Palmer war ein toleranter Philosoph, ziemlich unerbittlich gegen sich selbst und sehr wohlwollend gegenüber anderen. In seinen Vorstellungen, wenn nicht in seinem Charakter glich er Thérèse und stimmte fast immer in jeder Hinsicht mit ihr überein. Dann und wann war Laurent noch eifersüchtig auf das, was er, musikalisch ausgedrückt, ihr nicht zu erschütterndes ›Unisono‹ nannte, und da es nur noch eine rein verstandesmäßige Eifersucht war, wagte er es, sich bei Thérèse darüber zu beklagen.

»Ihre Definition taugt nichts«, sagte sie. »Palmer ist zu ruhig und zu vollkommen für mich. Ich habe etwas mehr Feuer, und ich singe etwas höher als er. Im Verhältnis zu ihm bin ich der Oberton einer großen Terz.«

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