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Dreizehntes Kapitel

Als die Spürhunde losgelassen waren, belebten sich Indianas Augen und Wangen, ihre Brust hob sich unter heftigen Atemzügen und plötzlich war sie von Raymons Seite verschwunden. Raymon wußte nicht, daß die Jagd die einzige Leidenschaft war, welche Ralph und Indiana miteinander teilten. Er ahnte ebensowenig, daß in diesem gebrechlichen und zarten Weibe ein mehr als männlicher Mut wohnte, jene phantastische Unerschrockenheit, welche zuweilen, gleich einem Nervenkrampfe, in dem schwächsten Wesen mächtig erwacht.



Mit Entsetzen sah Raymon sie dahinfliegen, kühn in das Dickicht eindringen, ohne Zaudern über Gräben setzen, ohne Furcht, ihre schwachen Glieder zu brechen, sondern nur darauf bedacht, als erste auf die Spur des Ebers zu gelangen. Raymon begann sich vor der Kühnheit und Hartnäckigkeit zu fürchten, die ein so unerschrockener Geist in der Liebe ahnen ließ.



»Wenn sich ihr Wille ebenso ungestüm an mich kettet, wie sie der Spur des Ebers folgt,« dachte er, »wenn die Gesellschaft für sie keine Schranken, die Gesetze keine Kraft haben, dann unterliege ich meinem Geschick und opfere meine Zukunft auf.«



Rufe des Entsetzens und der Angst, unter denen sich auch die Stimme Indianas unterscheiden ließ, weckten Raymon aus seinem Nachdenken. Erschrocken gab er seinem Pferde die Sporen und befand sich bald bei Sir Ralph, der ihn fragte, ob er die Hilferufe gehört hätte.



In demselben Augenblick stürzten ihnen mehrere Jägerburschen entgegen und aus ihren verworrenen Durcheinanderreden schien hervorzugehen, daß der Eber sich gegen Frau Delmare gewendet und sie zu Boden geworfen hätte. Andere kamen hinzu und riefen Sir Ralph zu Hilfe. »Aller Beistand ist vergebens,« sagte einer, der zuletzt kam, »da ist keine Hoffnung mehr, jede Hilfe kommt zu spät.«



In diesem Augenblick des Schreckens fiel Raymons Auge auf das totenbleiche Gesicht Sir Ralphs. Er schrie nicht, er rang nicht die Hände; er griff nur nach seinem Jagdmesser und wollte sich dieses mit einer wahrhaft britischen Kaltblütigkeit ins Herz stoßen, als Raymon ihm die Waffe entriß und ihn nach dem Orte zog, woher das Geschrei kam.



Ralph schien aus einem Traume zu erwachen, als er Frau Delmare auf sich zueilen sah, ihn zu bitten, ihrem Gatten zu Hilfe zu kommen. Der Oberst lag wie leblos auf der Erde. Ralph öffnete ihm rasch eine Ader, denn er hatte sich bald überzeugt, daß er nicht tot war, sondern nur den Schenkel gebrochen hatte. Er wurde ins Schloß getragen.



Man hatte nur infolge eines Irrtums Frau Delmares Namen genannt, vielleicht auch hatten Ralph und Raymon im Augenblick der Verwirrung den Namen zu hören geglaubt, der sie am meisten interessierte.



Indiana war nicht verwundet, aber Schrecken und Bestürzung raubten ihr fast die Kraft, zu gehen. Raymon stützte sie mit seinen Armen und versöhnte sich wieder mit ihrem weiblichen Herzen, da er sah, wie schmerzlich sie von dem Unglück ihres Gatten ergriffen war, dem sie doch so viel zu verzeihen hatte.



In jenem Augenblicke, wo Sir Ralph sich hatte töten wollen, hatte Raymon erkannt, wie groß dessen Liebe zu seiner Cousine war und wie wenig sie durch die zum Oberst im Gleichgewicht gehalten wurde. Diese Beobachtung, welche der Meinung Indianas geradezu widersprach, haftete fester in Raymon als im Gedächtnis der übrigen Zeugen dieser Szene. Doch sprach er mit Indiana niemals von Ralphs Selbstmordversuch.



Erst nach sechs Wochen konnte man den Obersten nach Lagny bringen, und dann verstrichen noch mehr als sechs Monate, ehe er wieder zu gehen vermochte. Seine Frau pflegte ihn mit der zartesten Sorgfalt; sie verließ ihren Platz am Krankenbett nicht und ertrug ohne Klagen seine Launen und soldatischen Zornesausbrüche. Und dabei erblühte sie in frischer Gesundheit und in ihrem Herzen zog das Glück ein. Raymon liebte sie wirklich. Er kam alle Tage, ertrug die Schwächen ihres Mannes, die Kälte ihres Vetters, den Zwang dieser Zusammenkünfte. Ein Blick von ihm goß für einen ganzen Tag Freude in Indianas Herz, Sie dachte nicht mehr daran, ihr Leben zu beklagen.



Unmerklich faßte der Oberst Freundschaft für Raymon. Er schrieb diese häufigen Besuche auf seine eigene Rechnung, indem er sie als Beweise der Teilnahme an seiner Gesundheit betrachtete. Auch Frau von Ramière kam zuweilen und Indiana schloß sich ihr mit ganzem Herzen an.



Bei diesem fortdauernden engen Beisammensein sahen sich Raymon und Ralph zu einer gewissen nahezu vertraulichen Annäherung gezwungen, aber lieben konnten sie sich nicht. Ihre Ansichten wichen in allem wesentlichen voneinander ab, sie hatten nichts Gemeinsames, worin ihre Gefühle übereinstimmten, und wenn sie beide Frau Delmare liebten, so geschah dies auf so verschiedene Weise, daß dieses Gefühl sie mehr trennte, als einander näher brachte. Indiana überließ sich mit dem ganzen Vertrauen ihrer Jugend der Hoffnung auf eine heitere Zukunft. Es war ihr erstes Glück und ihre glühende Phantasie, ihr weiches Herz wußte es mit allem zu schmücken, was ihm noch fehlte. Raymon log nicht, als er sagte, sie sei die einzige Liebe seines Lebens; er hatte nie, weder so rein noch so ausdauernd geliebt. Bei Indiana vergaß er alles, er gefiel sich in diesem traulichen Familienzirkel, in diesen freundlichen Beziehungen, die sie schuf. Er bewunderte die Geduld und die Kraft dieser Frau; er staunte über die Gegensätze ihres Geistes und ihres Charakters. Er staunte besonders, daß Indiana, nachdem sie jenen so ernsten und feierlichen Bund mit ihm geschlossen, seine ganze Hingabe, sein völliges selbstloses Aufgehen in ihr fordernd, so wenig Ansprüche machte, mit dem verstohlenen Glücke zufrieden war und ihm blind vertraute. Die Liebe war für ihr Herz eine neue und edle Leidenschaft, tausend zarte und edle Gefühle knüpften sich immer von neuem daran und gaben ihr eine Kraft, welche Raymon nicht fassen konnte.



Er selbst war anfangs von der ewigen Gegenwart ihres Gatten oder ihres Vetters unangenehm berührt. Aber bald zwang ihn Indiana, sich dieser fortdauernden Aufsicht zu fügen. Das Gefühl des Glückes, welches ihr verstohlener Blick ihm bezeugte, die beredte und stumme Sprache ihrer Augen, ihr Lächeln, wenn das Gespräch durch eine plötzliche Anspielung ihre Herzen berührte, – das alles waren bald zarte und köstliche Freuden, welche Raymon dank seinem Zartgefühl und seiner trefflichen Erziehung zu schätzen wußte.



Wenn er sich zufällig mit Indiana allein befand, belebten sich ihre Wangen nicht mit einem höheren Rot, sie wendete ihre Blicke nicht verlegen ab. Nein, ihre klaren, ruhigen Augen betrachteten ihn stets mit unbefangenem Entzücken; das engelgleiche Lächeln ruhte immer auf ihren rosigen Lippen wie bei einem kleinen Mädchen, das noch nichts kennt, als die Küsse seiner Mutter. Wenn Raymon sie so vertrauensvoll, so leidenschaftlich, so rein sah, nur dem keuschen Bedürfnisse des Herzens lebend, wenn er zu ihren Füßen lag, dann wagte Raymon nicht mehr Mensch zu sein, in der Besorgnis, die ideale Vorstellung, welche sie sich von ihm gebildet hatte, zu zerstören. Aus Eigenliebe wurde er tugendhaft wie sie.



Aber einen gab es in diesem Familienkreise, dessen Glück völlig zerstört wurde, und das war Ralph. Für ihn hatte das Leben nie glänzende Aussichten, nie reine, innige Freuden gehabt; für ihn war es ohne Poesie, ohne Interesse, ohne Freundschaft, ohne Liebe. Er hatte Vater und Mutter gehabt, einen Bruder, eine Gattin, einen Sohn, eine Freundin, und doch hatte er von all diesen Familienbanden nichts gewonnen, nichts behalten, er war ein Fremdling im Leben, welches traurig und ungekannt hinfloß und ihm nicht einmal jenes versöhnende Gefühl seines Unglücks gab, das selbst im Schmerze Reize findet.



Trotz seiner Charakterstärke fühlte er sich zuweilen seiner Tugend überdrüssig. Er haßte Raymon und hätte nur ein einziges Wort zu sprechen gebraucht, um ihn aus Lagny zu vertreiben; aber er sprach es nicht, denn Ralph hatte einen Glauben, der stärker war als die tausend Glaubensartikel Raymons, – dieser Glaube war sein Gewissen.



In seiner Einsamkeit hatte er sich einen Freund aus seinem eigenen Herzen gemacht. Immer in sich verschlossen, immer in sich die Ursache der Ungerechtigkeit erforschend, die er von anderen dulden mußte, war er zu der Gewißheit gelangt, daß er keine Fehler an sich hatte, welche die Welt zu ihrem harten Urteil über ihn berechtigen konnten. Sein Herz sagte ihm, daß er fähig sei, für andere alles zu empfinden, was er anderen nicht für sich einflößen konnte, und wenn er geneigt war, anderen alles zu verzeihen, so war er auch entschlossen, gegen sich selbst keine Nachsicht zu üben. Dieses ganz innerliche Leben, diese in sich verschlossenen Gefühle gaben ihm allen Anschein des Egoismus und diesem gleicht vielleicht nichts mehr, als die Selbstachtung.



Doch wie es oft geschieht, daß, wenn wir etwas zu gut machen wollen, wir es weniger gut machen, so geschah es auch, daß Sir Ralph aus allzugroßem Zartgefühl und aus Besorgnis, sein Gewissen mit einem Vorwurf zu belasten, gegen Indiana ein Unrecht beging, das nie gesühnt werden konnte. Dieser Fehler bestand darin, daß er ihr die wahre Ursache von Nouns Tode nicht aufklärte. Ohne Zweifel hätte sie dann die Gefahren ihrer Liebe zu Raymon erkennen müssen. Wir werden aber später sehen, welche peinliche Bedenklichkeiten Ralph bewogen, über einen so wichtigen Punkt zu schweigen. Als er sich entschloß, das Schweigen zu brechen, war Raymons Herrschaft bereits befestigt.



Ein unerwartetes Ereignis bedrohte die Zukunft des Obersten und seiner Gattin. Ein belgisches Handelshaus, auf welchem Delmares geschäftliche Existenz beruhte, hatte plötzlich Bankerott gemacht und der Oberst mußte, kaum hergestellt, schleunigst nach Antwerpen abreisen.



Da er noch schwach und leidend war, wollte Indiana ihn begleiten; aber Herr Delmare, der mit völligem Ruin bedroht und entschlossen war, allen seinen Verbindlichkeiten nachzukommen, fürchtete, seine Reise möchte den Anschein einer Flucht bekommen, und gleichsam als Garantie seiner Rückkehr wollte er seine Frau in Lagny lassen. Er weigerte sich sogar, Sir Ralph mitzunehmen, sondern bat ihn, zu Indianas Schutz zurückzubleiben, im Fall sie von ängstlichen Gläubigern gedrängt werden sollte.

 



Mitten unter diesen trüben Verhältnissen quälte Indiana nur die Möglichkeit, Lagny verlassen und sich von Raymon trennen zu müssen; doch er beruhigte sie, indem er versicherte, daß der Oberst in diesem Falle ohne Zweifel nach Paris ziehen würde. Er schwor ihr übrigens, ihr überall hin zu folgen, unter welchem Vorwande es auch sei, und die leichtgläubige Frau pries das ihren Gatten betroffene Unglück als ein Glück, da es ihr Gelegenheit gab, Raymons Liebe auf die Probe zu stellen. Er dagegen dachte nur an das Glück, seit sechs Monaten zum erstenmal wieder Gelegenheit zu haben, mit Indiana allein zu sein. In dieser Erwartung fand er sich jedoch ein wenig getäuscht, denn Ralph, der es mit der Stellvertretung des Obersten sehr gewissenhaft nahm, hielt sich vom Morgen an in Lagny auf und kehrte erst am Abend nach Bellerive zurück. Da er und Raymon eine Strecke den gleichen Weg hatten, so trieb Ralph seine Höflichkeit so weit, sich abends beim Aufbruch stets nach Raymon zu richten. Dieser Zwang wurde Raymon bald verhaßt und Indiana glaubte darin nicht allein ein beleidigendes Mißtrauen gegen sich, sondern auch die Absicht zu erblicken, sich eine despotische Macht über ihre Freiheit anzumaßen.



Acht Tage waren bereits seit der Abreise des Obersten verstrichen; er konnte bald zurück sein. Raymon mußte die Gelegenheit benützen; sich für besiegt von Sir Ralph zu erkennen, war eine Schmach für ihn. Eines Morgens ließ er folgenden Brief in Frau Delmares Hand gleiten:



»Indiana! Ich bin unglücklich und Sie sehen es nicht. Ich bin über Ihre Zukunft, nicht über die meinige, traurig und unruhig, denn wo Sie auch sein mögen, werde ich leben und sterben. Aber, wie sollten Sie, schwach und hinfällig, wie Sie sind, Entbehrungen ertragen? Sie haben einen reichen und freigebigen Cousin, Ihr Gatte wird vielleicht von seiner Hand annehmen, was er von der meinigen ausschlägt, und ich, ich kann nichts für Sie tun.



Durch ein unbegreifliches Mißgeschick ist mir während der Tage, welche ich frei zu Ihren Füßen zuzubringen hoffte, ein peinlicher Zwang auferlegt worden.



Sprechen Sie nur ein Wort, Indiana, damit wir wenigstens eine Stunde allein sein und ich Ihnen alles sagen könne, was mich quält.



Und dann, Indiana, habe ich eine kindische Laune, die Laune eines Verliebten: ich möchte an der Stelle, wo ich Sie so zornig gegen mich sehen mußte, mich vor Ihnen niederwerfen und Dich bitten, Deine Hand auf mein Herz zu legen, und es von seinem Verbrechen zu reinigen und ihm all Dein Vertrauen zu schenken, wenn Du mich Deiner würdig findest. Ach ja! ich möchte Dir beweisen, daß ich Dir eine reinere, heiligere Verehrung weihe, als je ein junges Mädchen ihrer Madonna weihte! An Deine Brust gelehnt, möchte ich eine Stunde lang das Leben der Engel genießen. Indiana, nur eine Stunde, die erste, vielleicht die letzte! Ich werde unserem Vertrage treu bleiben, das schwöre ich Dir. Grausame, willst Du mir nichts gewähren? Hast Du denn Furcht vor mir?«



Frau Delmare ging in ihr Zimmer hinauf, um diesen Brief zu lesen, beantwortete ihn sogleich und steckte Herrn von Ramière die Antwort mit einem Parkschlüssel zu, den er nur zu wohl kannte.



»Ich Dich fürchten, Raymon! O nein, jetzt nicht. Ich weiß zu gut, wie Du mich liebst, wenn ich Dich weniger liebte, würde ich vielleicht weniger ruhig sein; aber ich liebe Dich, wie Du es selbst nicht weißt … Geh bei guter Zeit von mir weg, um Ralph jedes Mißtrauen zu benehmen. Komm um Mitternacht wieder; hier ist der Schlüssel zur kleinen Pforte, schließe sie hinter Dir wieder ab.«



Vierzehntes Kapitel

An diesem Abend war Ralph wahrhaft unerträglich; nie war er schwerfälliger, kälter, langweiliger. Der Abend rückte immer weiter vor, ohne daß er sich anschickte, fortzugehen. Frau Delmare begann unruhig zu werden, sie sah nach der Uhr, welche bereits die elfte Stunde zeigte. Ralph war ein Mann, dem nichts entging, weil er alles kalt beobachtete. Raymons scheinbarer Weggang hatte ihn nicht getäuscht. Er bemerkte Indianas Unruhe. »Ich muß an jenen Abend denken,« sagte er plötzlich, »wo wir ebenfalls an diesem Kamin saßen, wie jetzt; das Wetter war trüb und feucht, wie heute … Du warst kränklich und gabst dich düsteren Gedanken hin. Du hattest ein ahnungsvolles Gefühl, als ob eine Gefahr drohe, die dein ganzes Schicksal umgestalten werde.



»Damals war ich krank,« antwortete Indiana, welche plötzlich so bleich geworden war wie an jenem Abend, von dem Ralph sprach, »Jetzt, wo ich mich gesund fühle, glaube ich nicht mehr an Ahnungen.«



»Ich aber glaube daran,« erwiderte Ralph, »denn an jenem Abend warst du eine Prophetin, Indiana, eine große Gefahr war wirklich im Anzuge, ein unheilvoller Einfluß bemächtigte sich dieser friedlichen Häuslichkeit.«



»Mein Gott, ich verstehe dich nicht.«



»Du wirst mich gleich verstehen, arme Freundin. An jenem Abend wurde Raymon von Ramière zu uns gebracht …«



Ralph wartete einige Augenblicke, ohne zu wagen, seine Augen auf seine Cousine zu richten; da sie nichts antwortete, fuhr er fort:



»Ich rettete dem Verwundeten das Leben, aus Menschlichkeit und auf dein Bitten, Indiana, aber wehe mir, daß ich es tat. Wahrlich, ich allein bin schuld an dem Unglück.«



»Ich weiß nicht, von welchem Unglück du sprichst,« antwortete Indiana kurz.



»Ich spreche von dem Tode jener Unglücklichen,« sagte Ralph. »Ohne jenen Menschen würde sie noch leben; ohne seiner verhängnisvollen Liebe wäre jenes schöne und gute Mädchen noch bei dir.«



Jetzt erst begann Indiana ihren Vetter zu verstehen. Sie fühlte sich im Innersten ihres Herzens empört über diese seltsame Wendung, welche darauf abzielte, ihr ihre Neigung für Herrn von Ramière vorzuwerfen.



»Es ist genug,« sagte sie aufstehend.



Ralph schien darauf nicht zu achten.



»Was mich immer gewundert hat,« fuhr er fort, »ist, daß du den wahren Grund, weshalb Herr von Ramière über unsere Mauern kletterte, nicht erraten hast.«



Ein plötzlicher Verdacht stieg in Indiana auf, ihre Knie zitterten; sie setzte sich nieder.



Ralph hatte das Messer in ihr Herz gestoßen und eine furchtbare Wunde geschlagen. Kaum gewahrte er die Wirkung, so bereute er auch schon seine Worte aufs bitterste und dachte nur an den Schmerz, den er dem Wesen zufügte, welches er vor allem auf der Welt liebte; sein Herz wollte brechen.



»In deiner Abneigung gegen Herrn von Ramière,« sagte sie mit Bitterkeit, »sehe ich dich zu Mitteln greifen, die deiner unwürdig sind; wie du dich aber von deiner Rachsucht gegen ihn so weit fortreißen lassen kannst, das Gedächtnis einer Person zu beflecken, die durch ihr Unglück uns heilig sein sollte, das ist mir unbegreiflich. Ich habe Sie nichts gefragt, Sir Ralph, und weiß nicht, wovon Sie sprechen. Ich will nichts weiter hören.«



Sie stand auf und verließ Herrn Brown betäubt und schmerzlich ergriffen.



Er hatte vorausgesehen, daß er seiner Cousine nur auf seine eigenen Kosten würde die Augen öffnen können; sein Gewissen hatte ihm gesagt, er müsse sprechen, und er hatte es getan, mit all dem Ungeschick, dessen er fähig war.



Verzweifelt verließ er Lagny und irrte wie wahnsinnig im Walde umher.



Es war Mitternacht. Raymon war an der Parkpforte. Er öffnete sie. Aber beim Eintreten schauerte er zusammen. Denn wenn man sich erinnert, unter welch anderen Verhältnissen er sich ehedem durch diese Alleen und diesen Garten geschlichen hatte, so begreift man, daß ein hoher Grad von Mut dazu gehörte, um auf demselben Wege und mit solchen Erinnerungen ein neues Abenteuer aufzusuchen.



Diese Nacht war eben so düster und neblig, wie jene Nächte im vergangenen Frühjahr. Als Raymon an dem Kiosk vorbeikam und einen Blick auf die Tür warf, klopfte sein Herz wider seinen Willen bei dem Gedanken, daß sie sich öffnen und eine in einen Pelz gehüllte weibliche Gestalt heraustreten werde. Um in den eigentlichen Garten zu gelangen, mußte er den Fluß und eine kleine hölzerne Brücke überschreiten. Beim Flusse verdichtete sich der Nebel noch mehr, und um nicht in das am Ufer wachsende Schilfrohr zu geraten, hielt sich Raymon am Brückengeländer fest. Der Mond erhob sich jetzt und warf, indem er die Dünste zu durchbrechen suchte, ungewisse Streiflichter auf die im Wasser schwankenden Pflanzen. Der Wind, welcher durch die Blätter rauschte und die trockenen Äste aneinander schlug, pfiff klagend vorüber und glich einem abgebrochenen menschlichen Hilferuf. Raymons Zähne schlugen aufeinander, er war dem Umsinken nahe. Doch sah er das Törichte seiner Furcht ein und überschritt die Brücke.



Er hatte die Mitte derselben erreicht, als eine kaum sichtbare menschliche Gestalt am Ende des Geländers erschien, als wenn sie ihn hier erwartet hätte. Raymons Gedanken verwirrten sich, entsetzt kehrte er um und verbarg sich unter dem Schatten der Bäume, mit starrem Blicke jene Erscheinung betrachtend, welche im Nebel des Flusses, im zitternden Strahle des Mon des hin und her schwankte und dann plötzlich auf ihn zukam.



Hätten in diesem Augenblick seine Füße ihm nicht völlig den Dienst versagt, so würde er feig davongelaufen sein. Aber er fühlte sich gelähmt und umfaßte, um sich zu halten, den Stamm einer Weide, sich hinter derselben verbergend. Da ging Sir Ralph, eingehüllt in einen hellfarbigen Mantel, der ihm in der Entfernung ein gespensterhaftes Ansehen gab, an ihm vorüber und verschwand auf dem Wege, den Raymon gekommen war.



»Ungeschickter Spion!« lachte Raymon, indem er sah, wie jener die Spur seiner Schritte aufsuchte, »du bist auf dem falschen Wege.«



Die Schrecken waren verschwunden. Raymon überschritt die Brücke.



Das vom Grauen in seinen Adern erstarrte Blut drängte jetzt mit Heftigkeit nach seinem Kopfe. Die bleichen Schrecken des Todes waren der stürmischen Wirklichkeit der Liebe, des Lebens gewichen. Raymon fühlte sich wieder kühn.



»Armer Ralph!« dachte er, indem er die versteckte Treppe mit leichtem Schritte erstieg, »du hast es nicht anders gewollt!«



Fünfzehntes Kapitel

Frau Delmare hatte sich, nachdem sie ihren Vetter verlassen, in ihr Zimmer eingeschlossen und tausend stürmische Gedanken waren in ihrer Seele erwacht. Nicht zum erstenmal warf ein unbestimmter Verdacht sein düsteres Acht auf das schwache Gebäude ihres Glückes. Einige Zeit vor Nouns Tode hatte Indiana einen kostbaren Ring an ihrem Finger bemerkt. Diesen Ring, den Noun gefunden haben wollte, trug Indiana nun als heiliges Andenken an die unglückliche Freundin, und oft hatte sie Raymon erbleichen sehen, wenn er ihre Hand ergriff, um sie an seine Lippen zu drücken. Einmal hatte er sie gebeten, nie mit ihm von Noun zu sprechen, weil er sich als die Ursache ihres Todes betrachtete, und als sie ihm diesen Gedanken auszureden suchte, indem sie sich selbst die Schuldige nannte, hatte er ihr geantwortet: »Nein, arme Indiana, klage dich nicht an, du weißt nicht, wie sehr ich strafbar bin.«



Dieses in einem bitteren Tone gesprochene Wort hatte Indiana erschreckt. Sie hatte nicht gewagt, mit Fragen in ihn zu dringen, und jetzt fehlte es ihr an Mut, darüber nachzudenken und eine Folgerung daraus zu ziehen. Als sie sich erinnerte, daß Raymon kommen sollte, als sie an all das Glück dachte, welches sie sich von dieser Stunde versprochen hatte, da verwünschte sie Ralph und wollte lieber ihn anklagen, als einen Verdacht gegen Raymon aufkommen zu lassen.



Plötzlich kam sie auf einen jener seltsamen, unklaren Einfälle, wie sie sich in unglücklichen Stimmungen und bei heftigen nervösen Aufregungen nicht selten einzufinden pflegen. Sie wollte Herrn von Ramière auf eine eigentümliche Probe stellen, auf die er nicht gefaßt sein konnte. Kaum hatte sie ihre Vorbereitungen hiezu getroffen, als sie Raymons Schritte auf der geheimen Treppe hörte. Sie eilte, ihm zu öffnen und setzte sich dann rasch wieder nieder, wie in allen wichtigen Krisen ihres Lebens, bewahrte sie sich auch jetzt ihre volle Geistesgegenwart, so groß auch ihre innere Bewegung war.



Raymon war noch atemlos, als er die Tür aufstieß. Indiana hatte ihm den Rücken zugewandt und war in einen Pelz gehüllt. Zufällig war es derselbe, welchen Noun in jener verhängnisvollen Nacht getragen hatte, um Raymon im Park entgegenzugehen. Jetzt, wo er dieselbe Erscheinung, traurig über einen Stuhl gebeugt, plötzlich wieder erblickte, bei dem bleichen, ungewissen Lichte einer Lampe, in demselben Zimmer, welches so verhängnisvolle Erinnerungen in ihm wachrufen mußte, trat er unwillkürlich einen Schritt zurück, seinen entsetzten Blick auf diese unbewegliche Gestalt gerichtet und wie ein Feigling zitternd, daß er, wenn sie sich umwandte, in die totenbleichen Züge der Ertrunkenen blicken könne.

 



Frau Delmare ahnte von dem Eindruck nichts, den sie auf Raymon hervorbrachte. Sie hatte um ihren Kopf ein indisches seidenes Tuch geschlagen, nach Art der Kreolinnen: es war Nouns gewöhnliche Kopfbedeckung gewesen. Von Furcht überwältigt, war Raymon dem Umsinken nahe, aber als er Indiana erkannte, hatte er seinen Schrecken schnell überwunden und eilte auf sie zu. Ihr Gesicht trug den Ausdruck ernsten Nachdenkens; sie sah ihn fest an, doch mehr forschend, als zärtlich. Raymon schrieb diesen unerwarteten Empfang der zarten Zurückhaltung eines jungen, weiblichen Herzens zu.



»Meine Vielgeliebte,« flüsterte er, sich vor ihr auf die Knie werfend, »fürchtest du mich denn?«



Aber sogleich bemerkte er, daß Indiana etwas in der Hand hielt, das sie mit einer gewissen schalkhaften Wichtigkeit vor ihm ausbreitete. Es war eine Masse schwarzer Haare von ungleicher Länge, die in der Eile abgeschnitten zu sein schienen und die Indiana mit ihren Händen glattstrich.



»Erkennst du sie?« sagte sie, indem sie einen durchdringenden, seltsamen Blick auf ihn heftete.



Raymon warf seinen Blick auf das seidene Tuch, das ihren Kopf verhüllte. »Böses Kind,« rief er, die Haare aus ihrer Hand nehmend, »warum hast du sie dir abgeschnitten? Ich hatte immer meine Freude daran! Gieb sie mir, damit ich sie immer bei mir haben und sie täglich küssen kann.«



Aber als er diesen reichen Haarschmuck, von dem einige Flechten bis zur «Erde reichten, in die Hand nahm, fand er, daß sie sich rauh anfühlten und daß ihnen die duftige Feuchtigkeit der Lebenswärme fehle, als wenn sie schon seit langer Zeit abgeschnitten wären. Sein Auge suchte vergeblich jenen blauen Widerschein, der Indianas Haaren Ähnlichkeit mit dem azurnen Gefieder des Raben gab. Sie waren negerschwarz und schwer wie die von einem Toten.



Indianas klarer Blick haftete sich durchdringend auf Raymon.



»Das sind nicht die deinigen!« sagte er und lüftete das seidene Tuch, unter welchem sich Indianas Haar barg. Da waren ihre Haare in ihrer ganzen unberührten Fülle und sanken in all ihrer Pracht auf ihre Schultern herab. Aber sie stieß ihn zurück und hielt ihm immer die abgeschnittenen Haare hin.



»«Erkennst du sie nicht?« fragte sie, »hast du sie nie bewundert, nie geliebkost? Hast du keine Träne für die, welche diesen Ring trug?«



Raymon war eine sehr reizbare Natur. Sein Blut kreiste schnell, seinen Nerven fehlte jede Widerstandskraft gegen starke und plötzliche Eindrücke. Er zitterte von Kopf bis zu den Füßen und fiel ohnmächtig auf den Boden.



Als er wieder zu sich kam, lag Indiana auf den Knien neben ihm, benetzte ihn mit ihren Tränen und bat ihn um Verzeihung. Aber Raymon liebte sie nicht mehr.



»Sie haben mir furchtbar weh getan,« sagte er, »Sie haben mir einen Schmerz bereitet, den wieder gut zu machen nicht in Ihrer Kraft steht. Ich fühle es, nie werden Sie mir das Vertrauen zu Ihrem Herzen wiedergeben, das ebensoviel Rachsucht wie Grausamkeit in sich schließt. Arme Noun, armes, unglückliches Mädchen! ihr tat ich Unrecht, nicht Ihnen! Sie wäre zur Rache an mir berechtigt gewesen, statt dessen opferte sie ihr Leben, um mir meine Zukunft zu lassen. Sie aber hätten das nicht getan! … Geben Sie mir diese Haare, sie sind das einzige, was mir von der Frau übrig bleibt, die allein mich wahrhaft geliebt hat. Unglückliche Noun! Du warst einer anderen Liebe wert! Und Sie, Indiana, Sie werfen mir ihren Tod vor, Sie, die ich so sehr geliebt habe, daß ich jene vergaß und den furchtbaren Qualen des Gewissens Trotz bot! Und da Sie sehen, mit welcher wahnsinnigen Leidenschaft ich Sie liebe, schlagen Sie Ihre Nägel in mein Herz. O, als ich eine aufopfernde Liebe wegwarf, um mich einer so wilden Leidenschaft hinzugeben, war ich ebenso töricht als strafbar.«



Frau Delmare antwortete nichts. Unbeweglich, bleich, mit gelöstem Haar und starrem Blick erregte sie Raymons Mitleid. Er ergriff ihre Hand und sagte:



»Und dennoch ist meine Liebe zu dir so blind, daß ich die Vergangenheit und die Gegenwart, das Verbrechen, welches mein Leben befleckt, und die Grausamkeit, die du eben an mir begangen hast, vergessen kann. Liebe mich nur und ich verzeihe dir.«



Als er sah, wie sie fürchtete, seine Liebe zu verlieren, wie sie so demütig vor ihm stand, als wolle sie ihr Unrecht sühnen, heuchelte er einige Augenblicke lang eine tiefe Trauer. Er beachtete kaum Indianas Tränen und Liebkosungen; er wartete, bis sie all ihre Kraft in dem herzzerreißenden Schmerz, von ihm verstoßen zu sein,