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Zweiundzwanzigstes Kapitel

Brief der Frau Delmare an Herrn von Ramière. Insel Bourbon, 3. Juni 18..

»Ich hatte mir vorgenommen, Sie nicht mehr mit der Erinnerung an mich zu belästigen, aber als ich hier ankam und den Brief las, den Sie mir am Tage vor meiner Abreise von Paris einhändigen ließen, fühlte ich das Bedürfnis, darauf zu antworten; denn in dem Augenblicke eines furchtbaren Schmerzes bin ich zu weit gegangen; ich habe mich Ihretwegen verachtet und bin Ihnen eine Ehrenerklärung schuldig, nicht dem Liebhaber, sondern dem Menschen.

»Verzeihen Sie mir, Raymon, ich habe Sie in jenem entsetzlichsten Augenblicke meines Lebens für ein Ungeheuer gehalten. Ein einziges Wort, ein einziger Blick von Ihnen hat alles Vertrauen, alle Hoffnung für immer aus meiner Seele verscheucht. Ich weiß, daß ich nicht mehr glücklich werden kann, aber wenn ich Sie verachten müßte, so wäre dies für mich der Todesstoß.

»Ja, ich habe Sie verabscheut, ich habe bedauert, daß Bourbon nicht weit genug war, um vor Ihnen zu fliehen, und dieser Unwille gab mir Kraft, das Leben bis auf seine bitterste Hefe zu kosten.

»Aber seit ich Ihren Brief gelesen habe, denke ich besser von Ihnen. Ich vermisse Sie nicht, aber ich hasse Sie auch nicht mehr und will Ihnen nicht den Vorwurf anheften, mein Leben vernichtet zu haben. Nein, Sie sind nicht strafbar; Ihr Herz war nicht gefühllos, aber es war mir verschlossen. Sie haben mich nicht belogen, ich nur habe mich getäuscht. Sie waren weder treubrüchig noch gefühllos, Sie liebten mich nur nicht.

»Doch ich will nicht mehr klagen; ich schreibe Ihnen nicht, um mit fluchbeladenen Erinnerungen die Ruhe Ihres jetzigen Lebens zu vergiften; ich will auch nicht Ihr Mitleid für die Leiden wachzurufen suchen, die allein zu tragen ich Kraft genug habe.

»Ich will mir nicht die Mühe geben, Ihren Brief zu widerlegen, das wäre zu leicht. Sie hätten nicht nötig gehabt, mir zu sagen, daß die Verachtung der Menschen der Lohn meines Fehltrittes geworden wäre; ich wußte es sehr wohl. Nur hatte ich nicht vorausgesehen, daß Sie mein Opfer zurückweisen könnten, nachdem ich es Ihnen bereits gebracht hatte. Nein, gewiß, ich hätte niemals geglaubt, daß Sie mich den Folgen eines so gefährlichen Entschlusses preisgeben und mich die bitteren Folgen allein tragen lassen würden, anstatt mir in Ihrer Liebe Schutz zu gewähren.

»Wie würde ich den Lästerzungen der Welt getrotzt haben, die mir nicht schaden konnten! Wie hätte ich, stark durch Ihre Liebe, der Verachtung der Menschen gespottet! Ein Wort von Ihnen, ein Blick, ein Kuß hätte hingereicht, mich freizusprechen, wo die Gesetze der Gesellschaft mich verurteilten. Ich war töricht. Ich hatte, wie Sie mir vorwarfen, das Leben nur in Romanen kennen gelernt, aus jenen heiteren und kindischen Dichtungen, die das Herz durch die Phantasiegebilde unmöglicher Glückseligkeit erfreuen. Aber derselbe Vorwurf trifft auch Sie, Raymon. Wie kommt es, daß Ihnen die Vernunft erst angesichts der Gefahr wiederkehrte? Ich glaubte, die Gefahr mache uns blind, steigere den Mut, ersticke die Furcht, und dennoch haben Sie im Augenblick der Krisis gezittert!

»Vielleicht glich Ihr Traum nicht dem meinigen; mein Mut lag in der Liebe. Sie haben sich eingebildet, mich zu lieben, und in der Stunde, wo ich vertrauensvoll zu Ihnen kam, erwachten Sie aus Ihrem Irrtum.

»Warum sollte ich Ihnen jetzt Vorwürfe machen? Vielleicht habe ich Sie zu sehr geliebt, vielleicht war Ihnen, dem Manne, der die Unabhängigkeit liebt, meine Zärtlichkeit lästig und ermüdend.

»Freuen Sie sich denn dieser Freiheit, die Sie auf Kosten meines ganzen Lebens wiedererkauft haben, und seien Sie glücklich, das ist der letzte Wunsch, der in meinem gebrochenen Herzen noch Raum hat. Sprechen Sie mir aber nie von Gott. Mein Gott ist ein anderer als der Ihrige, oder vielmehr lassen Sie mich wiederholen, was Ihnen Ralph eines Tages in Lagny sagte: »Sie glauben an gar nichts. Ihre Erziehung hat Sie ohne Prüfung den Glauben Ihrer Väter annehmen lassen; aber die Überzeugung vom Dasein Gottes ist Ihnen nicht ins Herz gedrungen; Sie haben vielleicht nie gebetet.

»Leben Sie wohl, Raymon, mögen Sie glücklich ohne mich leben, ich verzeihe Ihnen, daß Sie mich unglücklich gemacht haben. Sprechen Sie zuweilen von mir mit Ihrer Mutter, der besten Frau, die ich kennen gelernt habe. Seien Sie überzeugt, daß weder Unmut noch Rachsucht gegen Sie in meinem Herzen lebt; mein Schmerz ist der Liebe würdig, die ich für Sie empfand.

Indiana.«

Die unglückliche Indiana! Dieser tiefe und ruhige Schmerz war nur das Gefühl ihrer eigenen Würde, während sie an Raymon schrieb; aber in Wahrheit überließ sie sich der ganzen Heftigkeit ihrer Verzweiflung. Vielleicht verlor sie das Vertrauen auf Raymons Liebe nie ganz, ungeachtet der schmerzlichen Erfahrungen, die sie mit ihm gemacht hatte. Wenn sie an die nackte Wahrheit hätte glauben wollen, so würde sie das Leben nicht mehr ertragen haben.

Die Frau ist schwach von Natur; um der großen Überlegenheit, die ihre zarte Natur ihr über die Männer gibt, ein Gegengewicht zu verleihen, scheint der Himmel absichtlich eine blinde Eitelkeit und törichte Leichtgläubigkeit in ihr Herz gelegt zu haben. Um sich dieses zarten, beweglichen und scharf beobachtenden Wesens zu bemächtigen, bedarf es vielleicht nur der Kunst, sich der Schmeichelei geschickt zu bedienen und die Eigenliebe zu reizen. Wehe dem Manne, der sich von Offenheit und Freimut Erfolge in der Liebe verspricht! Er wird Ralphs Schicksal teilen, wer sich über die grenzenlose Schwäche und Verblendung wundern wollte, von der Indiana sich Raymon gegenüber beherrschen ließ, den frage ich, ob man je eine Frau gefunden hat, die zehn Jahre lang in der Tiefe ihres Herzens das Geheimnis einer Hoffnung zu verschließen wußte, um sie leichtsinnig in einem Augenblicke der Leidenschaft aufs Spiel zu setzen, und die nicht in den Armen eines Mannes eben so kindisch schwach wurde, als sie unüberwindlich stark in den Armen eines andern war.

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Das häusliche Leben Indianas hatte sich friedlicher gestaltet. Sie war fast immer allein. Ihr Haus lag in den Bergen über der Stadt. Delmare, der einen Handel nach Indien und Frankreich betrieb, hielt sich den ganzen Tag am Hafen auf, wo er eine Warenniederlage hatte. Sir Ralph wohnte mit dem Ehepaare im gleichen Hause und widmete sich dem Studium der Naturgeschichte, oder beaufsichtigte die Arbeiten in der Pflanzung. Indiana, die wieder die kreolische Gewohnheit des Nichtstuns angenommen hatte, brachte die heißesten Stunden des Tages in ihrer Hängematte und die langen Abende in der Einsamkeit der Gebirge zu.

Bourbon ist, genau genommen, nur ein ungeheurer Bergkegel, dessen Basis einen Umfang von ungefähr vierzig Stunden hat und dessen gigantische, mit ewigem Schnee bedeckte Spitzen sich zu einer Höhe von 4800 Fuß erheben. Fast von allen Punkten dieser gewaltigen Gebirgsmasse entdeckt das Auge in der Ferne hinter den schroff abgespitzten Felsen, den engen Tälern und dichten Wäldern den Horizont, den das Meer mit seinem blauen Gürtel umgibt, von den Fenstern ihres Zimmers konnte Indiana, zwischen zwei Felsspitzen hindurch, die weißen Segel der Schiffe sehen, welche den Indischen Ozean befuhren. Dennoch gab der herrliche Anblick ihren Träumen keinen poetischen Reiz, sondern stimmte sie nur bitterer. Dann ließ sie ihre Vorhänge herab und floh das Tageslicht, um brennende, schmerzliche Tränen zu vergießen.

Aber wenn sich am Abend vom Meere her der Wind erhob und ihr den Duft der blühenden Reisfelder zuführte, schweifte sie in die Wildnis und ließ Delmare und Ralph unter der Varanga den würzigen Trank des Faham allein schlürfen und gemächlich ihre Zigarren dabei rauchen. Dann erklomm sie einen zugänglichen Berggipfel, den erloschenen Krater eines alten Vulkans, und betrachtete die untergehende Sonne, die den Duft der Atmosphäre in Flammen zu setzen und über die flüsternden Wipfel des Zuckerrohrs und die schroffen Wände der Klippen Gold- und Rubinenstaub auszuschütten schien. Der Anblick des Meeres, wie weh er ihr auch tat, bezauberte sie dennoch. Sie glaubte in nebelhaften Fernen die Fata morgana eines anderen Landes, das Bild einer ungeheuren Stadt zu erblicken und fühlte ihr Herz vor Freude schlagen, indem sie sich vorstellte, dies sei Paris, wo sie doch in Wirklichkeit die glücklichsten Tage ihres Lebens verbracht hatte. Dann bemächtigte sich ihrer ein seltsamer Schwindel. Vor ihren Augen verschwanden die Schluchten, welche sie vom Ozean trennten; sie glaubte über diesen dahinzufliegen und jenem Truggebilde entgegenzueilen. Das waren die einzigen glücklichen Augenblicke, auf die sich Indiana während des Tages freute. Bei ihr vereinigte sich alles in einer glühenden Sehnsucht nach einem Ziele, das weder Erinnerung noch Erwartung, weder Hoffnung noch Schmerz, sondern nur das Verlangen in all seiner verzehrenden Macht war.

Dagegen fühlte sich Ralph auf seinen Spaziergängen von den düsteren, versteckten Orten angezogen, wo der Hauch der Seeluft ihn nicht erreichen konnte; denn der Anblick des Ozeans war ihm ebenso verhaßt geworden, als der Gedanke, ihn noch einmal zu überschiffen. Frankreich war in seiner Erinnerung nur ein Ort des Fluches. Er suchte es mit aller Kraft zu vergessen und vermied sorgfältig jedes Wort, das an die Zeit seines dortigen Aufenthaltes erinnern konnte. Was hätte er nicht darum gegeben, diese entsetzliche Erinnerung auch aus Indianas Gedächtnis tilgen zu können! Aber er fühlte sich so unfähig dazu, so wenig geschickt und beredt, daß er Indiana lieber floh, als sie zu zerstreuen suchte. In dem Übermaß seiner zartsinnigen Zurückhaltung gab er sich nach wie vor den Anschein der Kälte und des Egoismus. Wer ihn mit allem Eifer durch Wälder und Gebirge streifen sah, um Vögel und Insekten zu fangen, der hätte nimmer geglaubt, daß dies nur die Maske war, hinter welcher er seine schwermütigen Träumereien verbarg.

 

Diese kegelförmige Insel ist vielfach gespalten und enthält tiefe Schluchten, in denen die Flüsse ihre klaren, schäumenden Wasser dahinrollen. Eine dieser Schluchten heißt Bernica. Es ist ein schmales, tiefes Tal, von zwei senkrechten Felswänden eingeschlossen, deren Oberfläche hie und da mit Felsgestrüpp und Heidekraut bewachsen ist.

Ein Bach rieselt in der Rinne, welche die beiden Felswände bei ihrem Zusammentreffen bilden, und da, wo das Geleise aufhört, stürzt er sich in eine furchtbare Tiefe herab und bildet unten einen kleinen See, umgeben von Schilfrohr und stets von feuchtem Nebel umhüllt. An seinen Ufern und am Rande einer Wasserrinne, welche durch das Überströmen des Beckens entstanden ist, wachsen Bananen- und Orangenbäume, deren dunkles Grün das Innere der Schlucht schmückt. Das war Ralphs Lieblingsaufenthalt. Hier vergoß er ungesehene Tränen, wenn die so lange verborgenen grausamen Qualen der Verkennung ihm unerträglich wurden. Hier hatte er sich schon in den Tagen seiner Jugend gegen die Ungerechtigkeit gestählt, die ihm von seiner Familie widerfuhr, hier hatte er Kraft gegen die Tücken seines Geschickes gesammelt und sich jene Ergebung in das Unabänderliche angeeignet, die ihm zur zweiten Natur geworden war. Hieher auch hatte er als Knabe die kleine Indiana getragen und sie auf das Gras des Ufers gelegt, während er in dem klaren Wasser angelte oder die Felswände zu ersteigen suchte, um Mövennester zu entdecken.

Diese Erinnerungen drängten sich jetzt in Ralphs Geist zusammen, aber sie hatten einen bitteren Beigeschmack, denn die Zeiten hatten sich sehr geändert und das kleine Mädchen, das seine Gefährtin gewesen war, hatte aufgehört, seine Freundin zu sein, oder war es wenigstens nicht mehr, wie sonst, in der ganzen Fülle ihres Herzens. Zwischen beide hatte sich ein Etwas, eine Erinnerung geschlichen, um die sich alle Regungen ihres Gemütes bewegten, und Ralph fühlte, daß er diesen Punkt nie wieder antasten dürfe.

Er schwieg also und vermied Indiana sogar. Obgleich unter demselben Dache lebend, sah er sie fast nur zu den Zeiten der gemeinsamen Mahlzeit. Dennoch wachte er über sie gleich einer unsichtbaren Vorsehung. Des Abends, wenn sie ausgegangen war, wartete er auf sie am Fuße der Felsen, auf denen sie gewöhnlich zu sitzen pflegte. Hier blieb er ganze Stunden, sah zuweilen durch die vom Mond beleuchteten Zweige zu ihr auf und wagte nicht, sie in ihren Träumereien zu stören. Wenn sie in das Tal hinabstieg, bot er ihr seinen Arm und führte sie nach Hause zurück, ohne ein Wort an sie zu richten, wenn sie nicht selbst ein Gespräch begann. Nachdem er ihr Gutenacht gewünscht, zog er sich in sein Zimmer zurück. Er wachte unablässig über Indianas Ruhe und wußte sie zu schützen, wenn ihr Gatte, dessen Handelsgeschäfte nicht nach Wunsch gingen, seine üble Laune an ihr auslassen wollte. Durch die dünnen Wände des leicht gebauten Hauses vernahm Ralph jedes zornige Wort des Obersten. Dann wußte er sich, ohne seine eigentliche Absicht merken zu lassen, zwischen Indiana und ihren Gatten zu stellen, und der alte Herr besaß hinreichendes Ehrgefühl, um sich vor diesem Zeugen, dessen Wachsamkeit nie schlummerte, im Zaume zu halten.

Vierundzwanzigstes Kapitel

In der inneren Politik Frankreichs bereiteten sich wichtige Veränderungen vor, welche einer Revolution entgegensteuerten. Die herrschende Gesellschaft hatte sich überlebt, die Partei, der Herr von Ramière angehörte und für die er eine bedeutende publizistische Tätigkeit entfaltet hatte, verlor Macht und Einfluß.

Wenn auch nicht erwünscht, aber unter den obwaltenden Verhältnissen zu gelegener Zeit stellte sich bei Raymon ein heftiges rheumatisches Leiden ein, welches ihn nötigte, sich aus dem ebenso hitzigen als unerquicklichen Streite der Meinungen mit seiner Mutter auf das Land zurückzuziehen.

In dieser Einsamkeit litt er außerordentlich. Die stechenden Schmerzen der Krankheit, die Langweile und das Fieber gaben seiner Ideenwelt unmerklich eine andere Richtung.

Seine Mutter pflegte ihn aufs sorgfältigste, erkrankte aber selbst höchst bedenklich. Darüber vergaß er seine eigenen Leiden. Er wachte an ihrem Lager, doch reichten seine Kräfte nicht aus und er erlag physisch der Last der Anstrengung. Bezahlte Leute waren jetzt seine Pfleger, nur selten besuchte ihn ein Freund. Unwillkürlich mußte er an Indiana denken, die ihm jetzt eine willkommene Hilfe gewesen wäre. Er erinnerte sich an die hingebende Pflege, die sie vor seinen Augen ihrem alten, mürrischen Gatten gewidmet hatte, und vergegenwärtigte sich die wohltuende Anmut, mit der sie ihren Geliebten würde zu umgeben wissen.

»Wenn ich ihr Opfer angenommen hätte,« sagte er sich, »so wäre sie entehrt; aber was würde es mich kümmern in meiner jetzigen Lage? Verlassen von einer frivolen und selbstsüchtigen Welt, stünde ich nicht allein; die, welche alle mit Verachtung zurückgestoßen hätten, wäre liebevoll um mich, sie würde meine Leiden beweinen und sie zu mildern wissen. Warum habe ich dieses Weib verstoßen? Sie liebte mich so sehr, daß das Glück, mein häusliches Leben zu verschönen, sie über die Anfeindungen der Menschen getröstet haben würde.«

Er beschloß, sich zu verheiraten, sobald er wieder hergestellt wäre, und vergegenwärtigte sich alle die reizenden Frauengestalten, die ihn in den Salons der Gesellschaft am meisten interessiert hatten. Dann aber mußte er sich doch fragen, ob ihre rosigen Lippen ein anderes Lächeln hätten, als das der Koketterie, ob ihre zarten Händchen Wunden zu heilen wüßten, ob ihr feiner, glänzender Geist geeignet sei, die Langweile der Krankheit zu zerstreuen? Raymon mißtraute mehr als ein anderer der Koketterie der Frauen; mehr als ein anderer haßte er den Egoismus, weil er wußte, daß sein Glück nichts von ihm gewinnen könne. Er gehörte einer hohen, strengen Familie an, die eine Mißheirat nicht geduldet haben würde, und doch waren die großen Vermögen mit Sicherheit nur noch bei der Bourgeoisie zu finden, voraussichtlich würde diese Klasse sich auf den Trümmern der anderen erheben, und um sich in dem Sturme der Bewegung oben zu erhalten, mußte man der Schwiegersohn eines Fabrikanten oder eines Bankiers sein. Raymon hielt es daher für klug, erst abzuwarten, von welcher Seite der Wind herkommen würde, ehe er einen Schritt tat, der über seine ganze Zukunft entscheiden sollte. Indessen konnte seine Krankheit lange währen, und die Hoffnung auf bessere Tage erstickt die Heftigkeit gegenwärtiger Schmerzen nicht. Er dachte von neuem an jene unbegreifliche Verblendung, da er sich geweigert hatte, Frau Delmare zu entführen, und verwünschte sich, seine wahren Interessen so schlecht verstanden zu haben.

Um diese Zeit erhielt er den Brief, welchen Indiana ihm von der Insel Bourbon schrieb. Die unbeugsame Energie, welche sie mitten in dem Unglück bewahrte, das ihre Lebenskraft hätte brechen müssen, erregte Raymons lebhafte Bewunderung.

»Ich habe sie falsch beurteilt,« gestand er sich, »sie liebt mich wirklich, sie liebt mich noch, und noch jetzt dürfte ich vielleicht nur ein Wort sagen, um, wie ein mächtiger Magnet, sie von einem Ende der Welt an das andere zu mir zu ziehen, wenn nicht sechs bis acht Monate darüber vergehen müßten, um zu diesem Ziele zu gelangen, so möchte ich es wohl versuchen.«

Mit diesen Gedanken schlief er ein. Doch bald weckte ihn ein ungewöhnliches Geräusch im anstoßenden Zimmer wieder auf. Er erhob sich mühsam, warf seinen Schlafrock über und schleppte sich in das Gemach seiner Mutter. Ihr Zustand war beunruhigender als je.

Gegen Morgen fand sie die Kraft wieder, sich mit ihm zu unterhalten; doch täuschte sie sich nicht über die Spanne Zeit, die ihr noch zu leben blieb, und beschäftigte sich mit der Zukunft ihres Sohnes.

»Du verlierst in mir deine beste Freundin,« sagte sie zu ihm, »möge der Himmel mich durch eine deiner würdige Gefährtin ersetzen! Aber sei klug, Raymon, und wage die Ruhe deines ganzen Lebens nicht für einen Traum des Ehrgeizes. Ach, ich kannte nur eine Frau, welche ich hätte meine Tochter nennen mögen. Höre mich, lieber Sohn! Herr Delmare ist alt und gebrechlich; wer weiß, ob jene weite, anstrengende Reise nicht den letzten Rest seiner Kräfte erschöpft hat. Achte die Ehre seiner Frau, so lange er lebt, aber wenn er, wie ich es glaube, mir bald nachfolgen wird, so erinnere dich, daß noch eine Frau auf der Welt lebt, welche dich fast ebenso liebt, wie deine Mutter dich geliebt hat.«

Am Abend starb Frau von Ramière in den Armen ihres Sohnes. Raymons Schmerz war tief und herb; seine Mutter war ihm wirklich unentbehrlich gewesen, mit ihr verlor er den ganzen moralischen Halt seines Lebens. Er vergoß heiße, verzweifelnde Tränen, er klagte den Himmel an, er fluchte seinem Geschick, er beweinte auch Indiana.

Als er etwas hergestellt war, warf er einen Blick auf die Lage Frankreichs. Die politischen Wetterwolken ballten sich immer drohender zusammen, und da er keine Lust verspürte, sich von neuem in den Streit zu mischen, zog er sich nach Cercy zurück mit dem traurigen Andenken an seine Mutter und an Frau Delmare. Er machte sich mehr und mehr mit dem Gedanken vertraut, daß Indiana für ihn nicht verloren sei, wenn er sich die Mühe geben wollte, sie zurückzurufen. In diesem Entschluß sah er manches Bedenkliche, aber noch weit mehr Vorteile. So lange zu warten, bis sie Witwe sei, um sie zu heiraten, wie Frau von Ramière es gewollt hatte, fand er nicht in seinem Interesse. Delmare konnte noch zwanzig Jahre leben und Raymon wollte nicht für immer der Aussicht auf eine glänzende Heirat entsagen. Seine Phantasie malte ihm ein schöneres Glück. Wenn er sich ein wenig Mühe gab, konnte er über Indiana eine unbeschränkte Macht ausüben und an Geschick und Leichtsinn fehlte es ihm nicht, um aus dieser heißblütigen Frau eine ergebene Geliebte zu machen. Die öffentliche Meinung brauchte er nicht zu fürchten, er konnte ja Indiana in tiefer Einsamkeit wie einen Schatz verbergen. Dort sollte sie ihm an Tagen der Einsamkeit das Glück einer reinen und edlen Neigung gewähren. Indianas Gatte verursachte ihm keine Skrupel: er würde wohl seine Frau nicht dreitausend Stunden weit verfolgen, zumal ihn seine Geschäfte auf der Insel Bourbon zurückhielten. Indiana war nicht die Frau, welche Wert auf gesellschaftliche Zerstreuungen legte; sie wollte nur geliebt sein, und Raymon fühlte, er würde sie schon aus Dankbarkeit lieben, sobald sie ihm nützlich wäre. Er nahm sich vor, sich seine Freiheit zu bewahren, ohne daß sie sich darüber beklagen könnte, er schmeichelte sich, so viel Macht über sie gewinnen zu können, um sie in alles willigen zu sehen, selbst in seine Heirat mit einer andern.

»Übrigens,« sagte er sich, »hat diese Frau dann für mich ein Opfer gebracht, das sie nicht mehr zurücknehmen kann. Meinetwegen ist sie über den Ozean gekommen, und dadurch ist ihr jede Möglichkeit abgeschnitten, bei ihrem Gatten Verzeihung zu finden. Die Welt ist nur gegen kleine, gemeine Fehler unbeugsam, eine seltene Kühnheit setzt sie in Erstaunen. Man wird mich nicht verurteilen, wenn ich Indiana nach einem so hohen Beweise ihrer Liebe aufnehme und beschütze. Die Gesellschaft will zuweilen, daß man ihr trotze, sie gewährt denjenigen nicht ihre Bewunderung, welche den breitgetretenen Weg verfolgen. In unserer Zeit muß man die öffentliche Meinung mit Peitschenschlägen regieren.«

Unter dem Einfluß solcher Gedanken schrieb er an Frau Delmare. Sein Brief atmete Liebe, Schmerz und vor allem Wahrheit. Ach, welch ein bewegliches Rohr ist die Wahrheit, daß sie sich unter jedem Hauche beugt!

Raymon hatte jedoch die Klugheit, sich den Schein zu geben, als wenn er Indianas Rückkehr als ein ungehofftes Glück betrachte. Er schrieb ihr die letzten Worte seiner Mutter, schilderte ihr die Verzweiflung, in die ihn dieser Verlust gestürzt hätte, die Pein der Einsamkeit. Er entwarf ein düsteres Bild von der Revolution, welche an Frankreichs Horizont aufzog, tat zwar, als ob es ihn tröste, die kommenden Schläge allein tragen zu müssen, gab aber Indiana zu verstehen, daß der Augenblick für sie erschienen sei, jene begeisterte Treue, jene aufopfernde Hingebung, deren sie sich gerühmt hätte, durch die Tat zu beweisen. Raymon beklagte sein Geschick und sagte, er habe einst das Glück in seiner Hand gehalten und dennoch die Selbstverleugnung besessen, sich zu einer ewigen Einsamkeit zu verdammen. »Sage mir nicht mehr,« fügte er hinzu, »daß Du mich geliebt hast, denn ich wäre dann schwach genug, meinen Mut zu verwünschen. Sage mir, daß Du glücklich bist und mich vergissest, damit ich nicht in Versuchung komme, Dich den Banden zu entreißen, die uns trennen.«

Mit einem Worte, er nannte sich unglücklich, und das bedeutete nicht mehr und nicht weniger, als ob er Indiana gesagt hätte, daß er sie erwarte.