Die ersten drei Jahre Christentum

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Geschichtlicher Wert

Petrus hat diese Rede nicht gehalten; ihr Inhalt entspricht lukanischer Theologie. Die Nachwahl des Matthias fand nicht statt, denn sie basiert auf Lukas’ Konzept der zwölf Apostel. Überdies gilt, a) dass Judas kein Verräter war und b) dass der Bericht über seinen Tod eine Legende ist – es gab also keinen Platz zu besetzen.

Zu a): Alle vier Evangelien des Neuen Testaments erzählen, Judas Iskarioth habe Jesus an die jüdische Führung ausgeliefert.39 Oft wird übersehen, dass die älteste Version von der Auslieferung Jesu sich in einem Brief des Paulus findet. Sie ist Teil einer Überlieferung, die Paulus selbst empfangen und bei der Gründung der Gemeinde an die Korinther weitergegeben hat, 1Kor 11,23–25: (23a) »Ich habe vom Herrn empfangen, was ich euch auch überliefert habe: (23b) Der Herr Jesus, in der Nacht, in der er ausgeliefert wurde, nahm Brot (24) und dankte, brach es und sagte: ›Dies ist mein Leib für euch; dies tut zur Erinnerung an mich.‹ (25) Ebenso auch den Becher nach dem Mahl und sagte: ›Dieser Becher ist der neue Bund in meinem Blut, dies tut, sooft ihr trinkt, zur Erinnerung an mich‹.«40

Die Theologen, die diese Überlieferung formulierten, dachten nicht an Judas als Auslieferer, sondern daran, was sie im Buch Jesaja über den »Gottesknecht« lasen: »Und der Herr (Gott) lieferte ihn für unsere Sünden aus. … Er selber nahm die Sünden vieler auf sich und um ihrer Sünden willen wurde er ausgeliefert.«41 Die Träger der Tradition von 1Kor 11,23–25 identifizierten demnach »Gottesknecht« und Jesus und bearbeiteten das Herrenmahlsritual entsprechend. »Ausliefern« steht nun in einer engen Verbindung zur Sühneaussage des Brotwortes in V. 24 und drückt – so die ältesten Christen – eine durch den »Gottesknecht« Jesus bewirkte Sühne »für unsere Sünden« aus. Die theologische Spitzenthese lautet: Gott hat Jesus »ausgeliefert«, oder Jesus hat sich selbst »ausgeliefert«. Beide Aussagen finden sich auch sonst bei Paulus42 und ergeben inhaltlich keinen Unterschied. Mit dem Tun eines verräterischen Schurken hat die Auslieferung in diesem Stadium der Überlieferungsgeschichte nichts zu tun.

Teil der Tradition von der Auslieferung Jesu, die Paulus empfangen hatte, war eine Erwähnung des Judas also nicht. Er gehörte vielmehr zum Kreis der Zwölf, zu den Ersten also, denen »Jesus« nach der Kreuzigung erschienen war.43 Spätere Zeugen korrigieren und lassen diese Ersterscheinung harmonisierend nur vor elf Aposteln geschehen sein.44

Gehören Judas und seine Tat nicht zur ältesten Tradition der Passion Jesu, bleibt zu klären, wie denn überhaupt ein Mitglied des Zwölferkreises mit einer so schwerwiegenden Tat belastet werden konnte und warum es gerade Judas war.

Eine Generation nach Paulus war die Welt immer noch nicht an ihr Ende gekommen. Darauf aber hatten die Christen von Anfang an gewartet. So musste sich auch ihr Denken verändern: Bisher hatten sie die Passion Jesu rein theologisch gedeutet, jetzt trat eine historische Darstellung immer mehr in den Vordergrund. Jetzt fragten sie nach dem, der Jesus damals »ausgeliefert« hatte; der musste doch zu identifizieren sein. Die Glaubensformel, dass der »Herr« von Gott zum Heil »ausgeliefert« worden sei, ließ nach dem Ausführer dieser Tat fragen. Man verfiel auf den Jesusjünger Judas aus Karioth im südlichen Juda, denn das jüdische Volk, das die Christen von Beginn an als schuldig an Jesu Tod angesehen45 und sogar als dessen Mörder angeklagt haben46, konnte keiner besser symbolisieren als er (Judas/​Juda/​Juden). Die Auslieferung erhielt zusätzlich eine unheilvolle Seite, denn man legte Jesus auch noch folgendes Wort in den Mund: »Weh aber jenem Menschen, durch den der Menschensohn ausgeliefert wird.«47 Dieser Spruch brandmarkt Judas und die Juden dauerhaft als verfluchte Menschen.48

Zu b): Die Erzählung vom Tod des Judas in der Petrusrede geht auf Überlieferung zurück.

Die Matthäus-Fassung49 berichtet von der Reue des Judas; er gibt deshalb das Geld zurück und begeht Selbstmord.50 Demgegenüber schildern Lukas in der Rede des Petrus Apg 1,18–20 und Papias51 seinen grässlichen Tod (Lukas: Aufplatzen des Leibes, Papias: unermessliches Anschwellen des Leibes, des Kopfes und der Augenlider52). Allen drei Fassungen ist die Verbindung des Judas mit einem Grundstück gemeinsam, wobei Matthäus und die Apostelgeschichte das Grundstück »Blutacker« nennen. Papias erzählt, wie Judas auf grausame Art auf seinem eigenen Grundstück stirbt und dass von dort der Gestank seines verfaulenden Leichnams sich überall hin ausbreitet.

Die drei Berichte über den Tod des Judas sind miteinander verwandt. Doch lässt sich keine traditionsgeschichtliche Entwicklung zeichnen. Es ergeben sich nur drei feste Größen: schrecklicher Tod, ein Feld – genannt »Blutacker«– als Ort des Todes, Verweis auf Psalmen.

Für Selbstmord durch Erhängen53 spricht die Nüchternheit der Notiz, doch stammt ihr Inhalt aus dem Alten Testament.54 Außerdem weiß die Paralleltradition vom Tod des Judas in der Apostelgeschichte nichts von einem Selbstmord. Ferner muss der Name »Blutacker« ursprünglich nichts mit Judas zu tun haben. Judas hat daher keine der genannten Todesarten erlitten und ist damals wohl gar nicht gestorben. Man brauchte aber einen Bericht über seinen Tod, um von der Bestrafung des (erfundenen) Verräters erzählen zu können.

b) Apg 2,1–47: Das Kommen des heiligen Geistes am Pfingsttag und Petruspredigt

1 Und als sich der Pfingsttag erfüllte, waren alle an einem Ort beisammen.

2 Und plötzlich kam vom Himmel ein Geräusch, wie (das) eines daherfahrenden starken Windes, und durchdrang das ganze Haus, wo sie saßen.

3 Und es erschienen ihnen ZUNGEN, die sich zerteilten, wie von Feuer, und es setzte sich auf jeden einzelnen von ihnen.

4 Und sie wurden alle mit heiligem Geist erfüllt, und sie fingen an, in anderen ZUNGEN zu reden, wie der Geist ihnen zu sprechen gab.

5 Es wohnten ABER in Jerusalem JUDEN, fromme Männer aus jedem Volk unter dem Himmel. 6 Als ABER dieses Tosen geschah, kam die Menge zusammen und wurde verwirrt, denn jeder einzelne hörte sie in seiner eigenen Sprache reden. 7 Sie ENTSETZTEN SICH ABER und wunderten sich und sagten: Siehe, sind nicht diese alle, die da reden, Galiläer? 8 Und wieso HÖREN WIR SIE, ein jeder in unserer eigenen Sprache, in der wir geboren sind?

9 Parther

und Meder

und Elamiter

und die Bewohner

von Mesopotamien

und Judäa

und Kappadozien,

Pontus

und Asien

10 Phrygien

und Pamphylien,

Ägypten

und den Gebieten Libyens, das gegen Kyrene hin (liegt),

und die sich hier aufhaltenden Römer,

11 JUDEN und Proselyten,

Kreter und Araber –

WIR HÖREN SIE in unseren ZUNGEN von den großen Taten GOTTES reden.

12 SIE ENTSETZTEN SICH ABER alle und waren unsicher und sagten einer zum anderen: Was soll das bedeuten?

13 Andere ABER spotteten und sagten: Sie sind voll von Most.

14 Petrus aber stand auf mit den Elf, erhob seine Stimme und redete zu ihnen:

Männer, ihr JUDEN und alle Einwohner Jerusalems, dies sei euch bekannt, und nehmt meine Worte zu Gehör! 15 Denn diese sind nicht, wie ihr annehmt, betrunken; denn es ist die dritte Stunde des Tages.

16 Sondern das ist, was durch den Propheten Joel gesagt ist:

17a Und es wird sein in den letzten Tagen, sagt GOTT,

17b da werde ich von meinem Geist ausgießen auf alles Fleisch,

17c und eure Söhne und eure Töchter werden prophezeien,

17d und eure jungen Männer werden Visionen sehen,

17e und eure Ältesten werden Träume träumen;

18 und sogar auf meine Sklaven und auf meine Sklavinnen werde ich in jenen Tagen

von meinem Geist ausgießen, und sie werden prophezeien.

19 Und ich werde WUNDER geben oben am Himmel und ZEICHEN unten auf der Erde,

Blut und Feuer und rauchigen Dunst;

20 die Sonne wird sich in Finsternis verwandeln und der Mond in Blut,

ehe der große und herrliche Tag des HERRN kommt.

21 Und es wird geschehen:

 

jeder, der den NAMEN des HERRN anruft, wird gerettet werden.

[vgl. Jo 3,1–5a LXX]

22a Israelitische Männer, hört diese Worte: Jesus, den Nazoräer, einen Mann, 22b der von GOTT bei euch beglaubigt worden ist durch Machttaten und WUNDER und ZEICHEN, die GOTT durch ihn mitten unter euch tat, wie ihr selbst wisst, 23a diesen – preisgegeben nach dem bestimmten Ratschluss und Vorauswissen GOTTES – 23b habt ihr durch die Hand Gesetzloser (ans Kreuz) geheftet und umgebracht; 24 den LIESS GOTT AUFERSTEHEN, nachdem er die Wehen des Todes aufgelöst hatte, wie es denn nicht möglich war, dass er von ihm festgehalten wurde. 25 Denn David sagt über ihn:

Ich sah den HERRN stets vor mir;

denn er ist zu meiner Rechten, damit ich nicht wanke.

26 Darum freute sich mein Herz, und meine Zunge jubelte;

es wird auch noch mein Fleisch hoffnungsvoll wohnen;

27 denn du wirst meine Seele nicht im HADES lassen,

noch geben, dass dein Frommer VERWESUNG sieht.

28 Du hast mir Wege des Lebens bekannt gemacht;

du wirst mich mit Freude erfüllen vor deinem Angesicht.

[Ps 15,8–11 LXX]

29 Männer, Brüder, ich darf mit Freimut zu euch über den Stammvater David reden, dass er starb und begraben wurde, und sein Grab ist bis auf diesen Tag bei uns. 30 Da er nun ein Prophet war und wusste, dass GOTT ihm mit einem Eid geschworen hatte, (einen) von seinen leiblichen Nachkommen auf seinen Thron zu setzen, 31 hat er voraussehend von der AUFERSTEHUNG des Christus geredet, dass er weder im HADES gelassen wurde, noch sein Fleisch VERWESUNG sah. 32 Diesen Jesus LIESS GOTT AUFERSTEHEN, wofür wir alle Zeugen sind. 33 Nachdem er nun zur Rechten GOTTES erhöht worden ist und die Verheißung des heiligen Geistes vom Vater empfangen hat, goss er dies aus, was ihr seht und hört. 34 Denn nicht David stieg in die Himmel hinauf; er sagt aber selbst:

Der HERR sagte meinem HERRN:

Setz dich zu meiner Rechten,

35 bis ich deine Feinde zum Schemel deiner Füße mache.

[Ps 109,1 LXX]

36a Mit Gewissheit nun soll das ganze Haus Israel erkennen, 36b dass GOTT ihn sowohl zum HERRN als auch zum Christus gemacht hat, 36c diesen Jesus, den ihr gekreuzigt habt.

37 Als sie es aber hörten, ging ihnen ein Stich durchs Herz, und sie sagten zu Petrus und den übrigen Aposteln: Was sollen wir tun, Männer, Brüder?

38 Petrus aber (sagte) zu ihnen: Kehrt um, und jeder von euch soll sich TAUFEN lassen auf den NAMEN Jesu Christi zur Vergebung eurer Sünden, und ihr werdet das Geschenk des heiligen Geistes empfangen. 39a Denn euch gilt die Verheißung und euren Kindern 39b und allen in der Ferne, so viele der HERR, unser GOTT, herbeirufen wird.

40 Und mit anderen Worten mehr beschwor und ermahnte er sie und sagte: Lasst euch retten, weg von dieser verkehrten Generation!

41 Die nun, die sein Wort annahmen, wurden GETAUFT; und an jenem Tag wurden etwa dreitausend Seelen hinzugetan.

42 Sie verharrten aber bei der Lehre der Apostel und der Gemeinschaft, dem BROTBRECHEN und den GEBETEN.

43 Es war aber Furcht in jeder Seele, und viele WUNDER und ZEICHEN geschahen durch die Apostel.

44 Alle Glaubenden aber waren an einem Ort beisammen und hatten alles gemeinsam. 45 Und sie verkauften die Güter und den Besitz und verteilten sie an alle, je nachdem einer Bedarf hatte.

46 Und täglich verharrten sie einmütig im Heiligtum und BRACHEN in ihren Häusern BROT, nahmen Speise zu sich mit Jubel und einfältigem Herzen, 47 LOBTEN GOTT und fanden Anerkennung beim ganzen Volk.

Der HERR aber tat täglich die, die gerettet wurden, hinzu.

ANALYSE

2,1–13: Geistausgießung und Sprachenwunder

Das jüdische Pfingstfest wurde am fünfzigsten Tag nach dem Passahfest zur Erinnerung an die Gesetzgebung am Sinai gefeiert. In Apg 20,16 dient es Lukas als Motiv für die Eile des Paulus, der bis zum Pfingsttag in Jerusalem sein will. Auch in Apg 2,1 dürfte Lukas das Datum des Pfingsttages eingefügt haben, denn die damit gegebene Zeitangabe schließt sich an die in Apg 1,3 genannten vierzig Tage an.

Zwei weitere Beobachtungen zu Lukas’ Bearbeitung des vorliegenden Abschnitts:

a) V. 2 und V. 3 sind fast völlig parallel aufgebaut:

2 Und plötzlich kam vom Himmel ein Geräusch,

wie (das) eines daherfahrenden starken Windes, und durchdrang das ganze Haus, wo sie saßen.

3 Und es erschienen ihnen Zungen, die sich zerteilten

wie von Feuer

und es setzte sich auf jeden einzelnen von ihnen.

b) Lukas hat die Ausdrucksweise von Apg 2,2–3 den Schilderungen der Gotteserscheinung auf dem Berg Sinai angeglichen55 und ahmt ebenfalls in V. 3–4 alttestamentliche Sprache nach.56 Der Text läuft auf den Satz in V. 4 hinaus: »Und sie fingen an, in anderen Zungen zu reden, wie der Geist ihnen zu sprechen gab.« Die Wendung »andere Zungen« bedeutet im Kontext, dass die Anwesenden die vom Geist erfüllten Jünger verstehen können; vgl. V. 11: »Wir hören sie in unseren Zungen von den großen Taten Gottes reden.« V. 4 drückt also ein Sprachenwunder aus, das die folgenden Verse ausmalen.

Der Abschnitt Apg 2,5–13 ist mit der vorigen Einheit verknüpft. Apg 2,6 bezieht sich auf V. 2 zurück, wobei das Wort »Tosen« das inhaltlich ähnliche Wort »Geräusch« aufnimmt. Die Verse 6 und 8 und 11 nehmen auf V. 4 Bezug und deuten an, dass es sich um ein Sprachenwunder handelt. Zweimaliges »wir hören« in V. 8 und V. 11 umrahmt innerhalb der Einheit V. 5–13 die Aufzählung der verschiedenen Völker. Die in V. 12–13 unterschiedlich gezeichnete Reaktion der Zuhörer entspricht lukanischem Erzählstil.57

Mit dem Bericht vom Geistempfang der Jünger erfüllt sich die Verheißung Jesu aus Lk 24,49 und Apg 1,8a. Die anschließende Rede des Petrus setzt in V. 17–18 bei dem in der Schrift prophezeiten Empfang des Geistes ein. Dies geschieht – wie sich aus dem Fortgang der Erzählung ergibt – durch die Taufe und ist quasi Ersatz für die zurückliegende »Realpräsenz« Jesu, der sich jetzt im Himmel befindet.58

Die Theologie des Lukas zeigt sich außerdem darin, dass er das Pfingstgeschehen als Sprachenwunder beschreibt. Wenn bereits am Stiftungstag der christlichen Religion der heilige Geist die Mitglieder der neuen Bewegung mit den Sprachen aller anderen Völker ausrüstet, kommt zum Ausdruck: Der christliche Glaube ist für alle Menschen bestimmt. Indes setzt Lukas die universale Evangeliumspredigt an dieser Stelle noch nicht mit der Heidenmission gleich, denn der Text redet von den Zuhörern als von Diasporajuden. Diese repräsentieren die Völker aus aller Welt.

Die Einzeluntersuchung hat die inhaltliche Geschlossenheit des Textes erwiesen. Trotzdem enthält er literarische Brüche. Sie legen es nahe, nach Traditionen zu fragen.

a) Das Apg 2,1–4 geschilderte Geschehen spielt sich V. 2 zufolge in einem Haus ab, das nachfolgende, wie Apg 2,5–13 zeigt, offenbar im Freien.

b) Apg 2,9–11 enthält eine Völkerliste. Sie »soll zeigen, wie viele Sprachen eigentlich gebraucht wurden. Die Liste geht geographisch Ost-Nordwest-Südwest vor und nennt Gegenden, wo Juden wohnten.«59 Lukas nennt viele Länder und ihre Bewohner, um die Aussage von V. 5 zu belegen, dass Jerusalem Heimat von Juden aus allen Völkern war.

Dass Apg 2,5–13 eine andere Herkunft als Apg 2,1–4 hat, zeigt das Folgende: V. 4 spricht davon, dass die Jünger in »anderen Zungen« redeten. Sieht man »anderen« als redaktionell an, so wird aus einem Sprachenwunder ein Reden in Zungen, unverständliches ekstatisches Reden, nämlich Glossolalie, wie wir sie aus den Paulusbriefen kennen.60 Wäre es so, berichtete die Apg 2,1–4 (und Apg 2,13?) erhaltene Tradition von einem ekstatischen Erlebnis in einem Haus im kleinen Jüngerkreis, und erst Lukas hätte diese Tradition im Sinne eines Sprachenwunders interpretiert.

Geschichtlicher Wert

Die Komposition der Gesamtszene geht auf Lukas zurück; sie hat keinen Anspruch auf Historizität. Das Pfingstgeschehen »ist so, wie es erzählt wird, gar nicht vorstellbar. … Einmal befinden sich die Gläubigen in einem Haus, einmal in der Öffentlichkeit. Einerseits hat man den Eindruck einer Massenekstase, vor der die Zuschauer hilflos nach einer Erklärung tasten. Andererseits verstehen sie in wunderbarer Weise, jeder in seiner Sprache, was die Geisterfüllten reden.«61 Lukas beschreibt die Gründung der Kirche als Folge eines übernatürlichen Wirkens. Denn so hat es der »Auferstandene« im Evangelium verheißen: »Ihr sollt in der Stadt bleiben, bis ihr ausgerüstet seid mit Kraft aus der Höhe.«62

Eine Frage verlangt noch nach einer Antwort: Fand am Pfingstfest im Jahr der Kreuzigung Jesu in Jerusalem eine »Geistesausgießung« statt, die sich durch Glossolalie auszeichnete? Auf keinen Fall! Denn das Datum »Pfingsten« stammt von Lukas und Zungenreden wäre in Jerusalem nicht als Geistausgießung, sondern eher als Trunkenheit63 gewertet worden.64

Paulus bezeugt das Phänomen glossolalischer Rede und versteht es als Wirkung des Geistes. Er behauptet in 1Kor 14,18 von sich, mehr in Zungen zu reden als alle Korinther. Seine Aufforderung in 1Thess 5,19: »Den Geist löscht nicht aus!« ermuntert die Neubekehrten in Thessalonich offenbar zu glossolalischer Rede. Lukas beschreibt dreimal Glossolalie: a) in der Pfingsterzählung, wo er sie als Reden in fremden Sprachen interpretiert, b) in der Korneliusgeschichte, wo er sie in Apg 10,46 als Preisen Gottes versteht, c) in der Schilderung der Johannesjünger in Ephesus, wo er sie in Apg 19,6 als Prophezeien deutet. Lukas wählt also Sprachformen, die zur Glossolalie in Spannung stehen. Als Phänomen ist diese ihm fremd.65 Er kennt aber aus den hellenistischen Gemeinden im Umkreis des Paulus den Konnex zwischen Glossolalie und Geistbegabung und verwendet ihn bei der Komposition der Pfingsterzählung.

2,14–36: Petrusrede

In den Ausführungen der Petrusrede fällt auf, dass die drei alttestamentlichen Zitate jeweils durch eine Zitatformel und durch eine erneute Anrede eingerahmt werden66: V. 16/​22; V. 25/​29; V. 34/​36. Das erste Zitat der Rede, V. 17–21, erläutert in V. 17–18 das Pfingstwunder und bereitet in seinem zweiten Teil, V. 19–21, den christologischen Abschnitt, V. 22–23, vor.

Verse 14–15: Einleitend weist Petrus die Annahme (V. 13) zurück, die vom Geist Ergriffenen seien betrunken: Es ist erst die dritte Stunde, d. h. 9 Uhr morgens.

Verse 16–21: Das Joelzitat (3,1–5a) entspricht weitgehend der Fassung der LXX. Drei wichtige Abweichungen sind:

a) V. 17 liest »in den letzten Tagen« statt »nach diesen Dingen«. Damit interpretiert Lukas die Ausgießung des Geistes nur scheinbar als Anbruch der Endzeit, denn der Geist ist vorläufiger »Ersatz für den Besitz des endgültigen Heils; er ermöglicht die Existenz der Gläubigen in der fortdauernden Welt, in der Verfolgung; er schenkt die Kraft zur Mission und zum Durchhalten.«67

b) V. 18 fügt dem Joelzitat hinzu »und sie werden prophezeien«. An dieser Aussage liegt Lukas viel; sie findet sich auch im Joeltext selbst (zitiert in V. 17c). Damit deutet er das Pfingstgeschehen als Befähigung zur Prophetie.68

 

c) Lukas lässt den auf das Zitat folgenden Halbvers Joel 3,5b (LXX) aus: » … denn auf dem Berge Zion und in Jerusalem wird er gerettet werden, wie der Herr spricht, und es werden die frohe Botschaft hören, die der Herr berufen hat.« Damit stellt Lukas klar, dass alle Menschen das Heil empfangen können.

V. 17–18: Die Kirche ist Lukas zufolge durch den Geist bestimmt. Ihn beschreibt das Zitat aus Joel als Fähigkeit zur Prophetie. Im Kontext der Apostelgeschichte bewirkt der Geist »sofort die wunderbare Kraft der Bekehrungspredigt. … Der Geist schafft in der Gemeinde die ideale Liebesgemeinschaft, die sich im Gottesdienst, in der Einheit der Lehre und in der Gemeinschaft des Besitzes darstellt. … Er wacht über die Reinheit der Kirche: Unheiliges wird ausgemerzt.«69

V. 19–21: Nach einem Ausblick in die Zukunft erreicht V. 21, der wieder die Gegenwart einschließt, die Pointe des Zitats: »Jeder, der den Namen des Herrn (nämlich Jesus) anruft, wird gerettet werden.« Das Heilsangebot ist also universal. Der Zukunftsteil des Joel-Zitats leitet auf den Abschnitt Apg 2,22b–24 über, der Christus und der Verkündigung gewidmet ist. Die Ausdrücke »Zeichen«– das Wort fehlt im LXX-Text–und »Wunder« werden in V. 22b aufgenommen.

Vers 22a: Der Versteil ist nach V. 14 die zweite Anrede.

Vers 22b: Die Nennung der Machttaten, Wunder und Zeichen bezieht sich auf das Lukasevangelium zurück. Dort gelten die Wunder des Propheten Jesus als Beweis für seine Christuswürde.70 Jesu Taten sind das Zeichen für die Heilszeit und demonstrieren die Erfüllung der Schrift.71

Vers 23: Die Passion Jesu erfolgt, lukanischer Theologie gemäß, nach Gottes Plan.

Vers 24: Gott hat die Macht des Todes über Jesus beseitigt. Auf diese Weise kommt Gottes Heilsplan, den die sich anschließenden Verse näher beschreiben, zur Erfüllung.

Verse 25–31: Das Zitat in V. 25–28 entspricht genau der Psalmfassung der LXX. V. 31 nimmt V. 27 auf. Der Sinn: David – der als Verfasser der Psalmen galt und ja gestorben und verwest war – redete nicht von sich, sondern vom zukünftigen Messias Jesus. Wenn Gott David zugesichert hatte, weder werde dessen Seele im Hades bleiben noch sein Fleisch verwesen, hat Gott das nicht eigentlich David versprochen, sondern dem kommenden Messias, nämlich Jesus, einem Nachkommen Davids.72 Damit ist der »Schriftbeweis« für V. 24 erbracht.

Verse 32–33: Daher erweckte Gott ihn von den Toten, wofür die Apostel Zeugen sind, und erhöhte ihn zu seiner Rechten. Von hier aus hat Jesus vom Vater–Gott – die Verheißung des heiligen Geistes empfangen und diesen ausgegossen, wie die Zuhörer des Petrus selbst sehen und hören können. Damit lenkt Lukas zurück zu Apg 1,4–5. Dort hat Jesus den Jüngern befohlen, auf die Erfüllung der Verheißung des Vaters zu warten; das werde die Ausgießung des heiligen Geistes sein. Das Pfingstgeschehen ist nun diese Erfüllung.

Verse 34–35: Die Verse nehmen im gleichen Schema wie bereits V. 25–31 den »Schriftbeweis« auf. Das Schema lautet: Bei David ist die Voraussage nicht erfüllt worden, also ist ein anderer gemeint, die Schrift meint in Wahrheit »Christus«, denn bei ihm erfüllt sich die Voraussage.

Vers 36: Der auf die Hörer bezogene Vers schließt die Rede scheinbar ab, um die Zwischenfrage in V. 37 zu ermöglichen.

Drei Traditionselemente waren Lukas vorgegeben:

Erstens: Die Verwendung von Joel 3,5 (vgl. Apg 2,21). Denn Paulus verwendet dieselbe Stelle in Röm 10,13 und kann die Christen allgemein solche nennen, »die den Namen unseres Herrn Jesus Christus anrufen« (1Kor 1,2). Wie die selbstverständliche Benutzung jenes Ausdrucks für Christen an der zuletzt genannten Stelle zeigt, setzt Paulus Jo 3,5 in 1Kor 1,2 voraus.

Zweitens: Der Gebrauch von Ps 110 (vgl. Apg 2,34–35), um die Würdestellung Jesu zu begründen.73

Drittens: V. 36 enthält ebenso wie Röm 1,3–474 eine »Adoptionschristologie«; Jesus ist erst seit der Auferstehung Herr und Christus, nicht während seiner Erdenzeit wie sonst bei Lukas.75

Geschichtlicher Wert

Der Text Apg 2,14–36 hat keinen historischen Wert. Lukas hat »Rahmen und Inhalt der ersten Rede des Petrus in Jerusalem mehr oder weniger frei gestaltet.«76

Die ersten beiden traditionellen Redenelemente sind, wie die LXX-Benutzung zeigt, in einem griechischsprachigen Christentum zu Hause. Da Paulus sie voraussetzt, entstammen sie wohl der griechischsprachigen Gemeinde von Damaskus. Das dritte Traditionselement gehört in die Jerusalemer Urgemeinde.77

2,37–41: Reaktion auf die Pfingstpredigt des Petrus

Vers 37: Der Vers benutzt eine Unterbrechung der Petrusrede als literarisches Kunstmittel. Die Frage: »Was sollen wir tun?« steht wie Lk 3,10. 12. 14 im Zusammenhang mit »Buße«.

Vers 38: Die Antwort des Petrus sagt, wie man Lukas zufolge Christ wird, nämlich durch Buße, Taufe auf den Namen Jesu zur Vergebung der Sünden und Empfang des heiligen Geistes.

Vers 39: Der zweite Versteil spielt indirekt auf den in der Rede ausgelassenen Vers Jo 3,5b (LXX) an. »Alle in der Ferne« (vgl. Jes 57,19) bezieht sich wohl auf Juden, die in fernen Ländern leben. Der erneute Rückgriff auf Jo 3 verbindet den Vers mit der Pfingstpredigt des Petrus.

Vers 40: Der Schlussappell: »Lasst euch retten, weg von dieser verkehrten Generation!« knüpft mit dem Verb »retten« an das letzte Wort des Joelzitates in V. 21 an.

Vers 41: Die Zahl »dreitausend« hat Lukas eingesetzt, um die Großartigkeit des Vorgangs zu veranschaulichen. Gegenüber der Angabe in Apg 1,15 (»etwa 120«) ist die Zahl der Christen ungemein angestiegen.

Geschichtlicher Wert

Lukas hat den Abschnitt Apg 2,37–41 weitgehend ohne Traditionsbasis verfasst. Deshalb trägt der Text für den historischen Ablauf nichts aus und darf auch nicht als Beleg für »auffallende Missionserfolge« der Jerusalemer Urgemeinde angesehen werden.78 Überdies hatten nach neueren soziologischen Analysen die christlichen Gemeinden im Jahre 40 n. Chr. insgesamt nur ca. eintausend Mitglieder.79

Allerdings könnte die Aussage des Petrus in Apg 2,38 über die Taufe auf den Namen Jesu Christi zuverlässiger Tradition entstammen. Paulus fragt 1Kor 1,13 ironisch, ob er für die Korinther gekreuzigt wurde und ob sie auf seinen Namen getauft worden seien. Dies setzt zwingend den Taufritus auf den Namen Jesu voraus.

2,42–47: Das Leben der Gemeinde

Die Verse sind ein lukanischer Sammelbericht, der eine Entsprechung in Apg 4,32–35 und 5,11–16 hat.

Am ehesten könnte V. 42 auf Tradition zurückgehen. Der Begriff »Gemeinschaft« erscheint sonst nicht im lukanischen Doppelwerk. Der Inhalt von V. 42 wird teilweise in V. 46 wieder aufgenommen. Eine solche thematische Verdoppelung innerhalb des Sammelberichts ist ungewöhnlich und kommt in den anderen Sammelberichten nicht vor. Lukas verarbeitet demnach eine traditionelle Notiz, die von Gemeinschaft und Gebet der ersten Christen berichtete. Ihre Herkunft ist nicht in Jerusalem zu suchen, sondern in Traditionen aus dem paulinischen Missionsgebiet80, die Lukas auf die Jerusalemer Gemeinde übertrug.

Den Jubel in V. 46 hat Lukas eingezeichnet.81 Er hat nichts mit der »Stimmung eschatologischer Freude«82 in der Jerusalemer Urgemeinde zu tun.

Die Angabe in V. 47, dass die Gemeinde Anerkennung beim ganzen Volk gefunden habe83, ist Schönfärberei.

Geschichtlicher Wert

Der Sammelbericht ist von lukanischer Theologie geprägt und von Traditionen aus dem paulinischen Missionsgebiet. Für die historische Frage wirft er nichts ab. Zudem schildert Lukas den urchristlichen »Kommunismus« nicht einheitlich. So stellt er die Besitzgemeinschaft als allgemeinen Eigentumsverzicht dar84, berichtet dann aber von der besonderen Tat eines Einzelnen, Barnabas, der einen Acker zugunsten der Gemeinde verkaufte.85 »Es ist deutlich: Das Gemälde ist idealisiert. Jene völlige Besitzgemeinschaft gab es so nicht.«86