Weltreligion versus Sexualität

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In seinem Buch „Erinnerung und Identität“ geißelt Johannes Paul II. mit harschen Worten den Versuch europäischer Parlamente, „homosexuelle Verbindungen anzuerkennen als eine alternative Form der Familie“. Es sei zulässig und „sogar geboten“, fügt der katholische Oberhirte apodiktisch an, „sich zu fragen, ob nicht hier wieder eine neue Ideologie des Bösen am Werk ist“. Homosexuelle Paare als Inkarnation des Teufels – was ist an solch unbarmherziger Theologie noch christlich?

Lang ist die Liste der katholischen Oberbefehlshaber, der Heiligen und Kirchenväter, die den Leib und die Liebe hasste. Aber mit dem Thema Sexualität ist die Kirche schon immer bigott umgegangen. Ihre allgemein repressive, unzeitgemäße Sexualmoral, ihr Kontrollzwang, ihre Lustfeindlichkeit (ist Lust nicht etwas natürliches, fragte sich vielleicht Papst Alexander vor 500 Jahren). Der Widerstand gegen Sinnenfreuden, einer unterdrückten Sexualität sowie eine anmaßende Irrationalität gegenüber einer vorgeblich sexbesessenen Gesellschaft, wirken archaisch und nehmen oftmals krankhafte Züge an. Beispiel: Der vormalige Kölner Kardinal Joachim Meisner, der in einem beispiellosegoistischen Willensakt der Kurie auf den Kölner Thron gehievt wurde, ein bedingungsloser Gefolgsmann der Päpste und Hüter der reinen Lehre, was ihn nach eigener Einschätzung zum „Widerstandskämpfer Gottes“ und „Wachhund der Kirche“ werden ließ, geißelte einst die Sexgier der Deutschen mit den Worten: „Nackte Sexualität ist die moderne Gottheit von heute geworden“. Diese Ungeheuerlichkeit aus der Feder eines Geistlichen, der eigentlich Barmherzigkeit und Güte predigen sollte, entspricht der Strategie und dem Selbstverständnis der katholischen Kirche. Bei den pseudo-biblischen Ewiggestrigen mutiert Glaube, gepaart mit prüder Leibesfeindlichkeit, zu einem moralischen Kompass.

Zahlreiche Gläubige gehorchen unbewusst der kirchlichen Wertung aller Fleischlichkeit als Sünde. Wer andere Menschen als Sünder und gar Ungläubige bezeichnet, entmenschlicht sie. Wer davon ausgeht, dass Sünder in der Hölle schmoren werden, hält sie nicht für Menschen, die die gleichen Rechte haben wie er, sondern entzieht ihnen die Existenzberechtigung. Im Übrigen belügt er sie, denn die Geburt der Hölle entspringt der archischen Religionsform des Zoroastrismus, der über frühpersiche Anwandlungen nach Ägypten gewandert ist und dann über die griechischrömische Gedankenwelt zum Spuk des Christentums wurde. Das Traumszenario im Vatikan ist illusionär.

Im Johannes-Evangelium erfahren wir von der Ehebrecherin, die die Pharisäer vor Jesus geschleppt hatten, um ihn vor ein Dilemma zu stellen. Wenn er sagte, dass die Frau nicht für Ihr Verbrechen gesteinigt werden sollte, verstieß Jesus gegen das Gebot Moses (3. Buch). Stellte er sich hingegen auf Moses’ Seite, geriet er in Konflikt mit den Römern, denen Blutgerichtsbarkeit allein oblag. Sollte er sich also mit Moses anlegen oder mit den Römern? Die Pharisäer rieben sich schon die Hände, weil sie glaubten, den Rabbi in die Enge getrieben zu haben. Doch Jesus war eben Jesus, und nach einer gewissen Bedenkzeit sagte er: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.“ (Johannes 8, 1-11) Damit hatte er nicht nur den Konflikt mit Moses und den Römern vermieden, sondern auch den mit den Pharisäern.

Jesus sah keinerlei Unterschied zwischen rein und unrein, vielmehr suchte er den Kontakt zu den Geächteten der Gesellschaft. In den frommen, historisch sicherlich oftmals ungesicherten Überlieferungen der Bibel, wird Jesus als eine Person dargestellt, die sich mit „Randthemen“ beschäftigt, denn er geht dort hin, wo sich das Establishment nicht blicken lässt, er besucht gerade jene Menschen, die vom System ausgeschlossen und an den „Rand“ gedrängt werden: Arme, Kranke, Ausgestoßene, sogar zum Tode verurteilte, und kehrt in Häuser ein, die man für gemeinhin als verrucht abstempelt. Er holt die Kinder zu sich, die von vielen Erwachsenen weggedrängt werden, diskutiert mit Frauen und hört ihnen genau zu. Er hat sich mit Randthemen beschäftigt, weil diese Leute keine Lobby, keine Stimme hatten. Allerdings wackelt auch dieses Konstrukt, denn keiner weiß wirklich, was Jesus dachte, tat und wollte. Dass sogenannte Johannesevangelium weicht nachweislich drastisch von den Vorläufern ab und ist auch erst viel später entstanden. Hier haben die Theologen ein Mauseloch gefunden, denn sie wiederholen gebetsmühlenartig „Evangelium nach“ (…) Niemand weiß, wer die Evangelisten waren, ob sie sich kannten und wenn – ob sie voneinander abgeschrieben haben. Unterstellt man diesen – nicht zu widerlegenden Ansatzpunkt – ist die Bibel ein Märchenbuch, wie jüngst der Hamburger Kirchenkritiker Walter Witt getitelt hat.

Würde Jesus heute den scheinheiligen Machtapparat Vatikan betrachten, würde er zweifellos zum Buddhismus konvertieren, denn die meisten kirchlichen Regeln hat nicht er, sondern haben Christen in Jahrhunderten erfunden und aufgestellt.

Noch nie zählten die Vorzüge eines glücklichen Sexuallebens zu den Lieblingsthemen vieler Religionen, obwohl die Ehe ein sexuelles Sakrament ist; mit zweifellos stärkstem Ausdruck im Geschlechtsverkehr. Außereheliche Liebe beispielsweise bedeutet bei fast allen religiösen Traditionalisten etwas Teuflisches und Gottwidriges, eine Häresie des Fleisches, in denen Menschen systematisch ihr Grundrecht zu leben und offen zu lieben abgesprochen wird. Denn nicht so sehr die Liebe als vielmehr die Erotik wird als Feind betrachtet, sowohl innerhalb wie außerhalb der Ehe. Doch über das einstige gesellschaftliche Tabu von außerehelichem Gesetz setzen sich immer mehr junge Menschen hinweg. Man kann einem Gläubigen keine Tugend mit dem erhobenen Zeigefinger einimpfen.

Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkriegs war in der Bundesrepublik Deutschland außereheliche Sexualität immer noch auffallend verpönt. Es gab den berüchtigten „Kuppelparagraphen“, wonach unverheiratete Paare nicht einmal zusammen wohnen durften. Diejenigen, die verwurzelt waren im rheinischen Katholizismus der Bonner Republik, haben hinter vorgehaltener Hand auch Willy Brandt verschmäht. Schließlich war dieser nicht nur als Nazi-Gegner nach Norwegen emigriert, sondern auch als uneheliches Kind geboren. Und nicht nur die Kirche provozierte Brandt, vielmehr auch der damalige erzkonservativkatholische Bundeskanzler Konrad Adenauer, der mehr als einmal „Willy Brandt alias Herbert Frahm“ titulierte.

In den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts, in denen Sex von den christlichen Kirchen noch verteufelt wurde, wurden an die hundert fromme Broschüren in millionenfacher Auflage an Jugendliche beiderlei Geschlechts verteilt. In nahezu sämtlichen Publikationen, beispielsweise mit den Titeln: „Ehe nach Gottes Ordnung”, „Sie tun es ja alle” „Liebe contra Sex” oder „Du und Dein Mädel”, wurde die Bezeichnung Geschlechtsverkehr durch Vokabeln wie: „einander gehören, Einswerden, sich hingeben, dem Trieb nachgeben, der Stimme der Natur folgen, sich schenken, verschmelzen” ersetzt. Von Ausnahmen abgesehen, verschwieg in den Traktaten die evangelische und katholische Aufklärungsliteratur planvoll alle Erkenntnisse der Sexualwissenschaft. Der Jesuiten-Pater Clemente Pereira, (1911-1990) riet in seiner Broschüre „Wer sagt uns die Wahrheit” den männlichen Jugendlichen folgendes: „Gib nicht der Lust nach und vergeude keine Kräfte, die der Körper viel besser für seinen Aufbau brauchen könnte. Der Arzt sagt dir nämlich, dass ein Teil der aufgestauten Samenzellen vom Körper als Aufbaukraft für sein Wachstum benutzt wird”. Sein Rat für den Tag: Ablenken. Seine Empfehlung für die Nacht: „Stell Dir vor du stehst auf einem Fabrikschornstein, Zweihundert Sprossen führen von außen herunter. Du steigst hinab und fängst an zu zählen: 199, 198, 197, 196 – und ehe du bei 100 bist, bist du hoffentlich eingeschlafen”. Dem Jesuiten-Pater hätte man dem Gang zum Psychotherapeuten empfehlen sollen.

Der Religionspädagoge Klemens Tilmann (1904-1984) riet Jungen, die eine Erektion haben: „Hände weg! Das Wachstum der Natur darf man nicht zerstören!“ Zur gleichen Zeit etwa gab der Autor Daniel Aloysius Lord ein Gegenmittel gegen Begehrlichkeit in seiner Broschüre: „Lust oder Liebe”: „In dem Augenblick, als der bebende Körper eines gedankenlosen oder gewissenlosen Mädchens in einem frechen Kleid dich anzog, hättest du nur daran zu denken brauchen, dass dieser Mädchenleib wie der Leib der Gottesmutter oder deiner eigenen Mutter gebildet ist.”

Vor allem katholische Traktat-Verfasser taten sich schwer mit der Be- und Umschreibung des Koitus. Auf die rein biologische Frage, wie die Samenfäden zur Eizelle im Schoss der Mutter gelangen, vermochte sich der Autor Robert Odenwald („Der wunderbare Lauf des Lebens”) denn auch nur die katholische Exklusiv-Möglichkeit: „Das geschieht durch die Liebe zwischen verheirateten Menschen” vorzustellen. In einem speziell nicht nur kirchlichen Klima wurden Jugendliche von der Gesellschaft bis weit in die 80er Jahre allgemein dazu erzogen, wegen der Gefahr einer Rückenmarkschwindsucht nicht zu onanieren. Dabei ist Selbstbefriedigung ein Teil einer ganz normalen Entwicklung. Im Laufe der Pubertät nimmt Selbstbefriedigung für die meisten Jugendlichen eine wichtige Rolle ein. Sie können ihre sexuellen Bedürfnisse in privaten Fantasien ausleben und lernen ihren Körper besser kennen. Selbstbefriedigung hilft Jugendlichen aber auch, herauszufinden, was ihnen Lust verschafft und was nicht. In einer Partnerschaft fällt es ihnen dadurch oftmals leichter, offen über sexuelle Wünsche zu sprechen. Dass Selbstbefriedigung körperliche Schäden hervorrufen soll, ist glücklicherweise nur noch als Schreckgeschichte bekannt. Dennoch zeigen sich religiöse Jugendliche beim Thema Selbstbefriedigung oftmals verunsichert, weil die Kirche diese Verrichtung immer noch als Sünde predigt.

 

Gerade bei jungen Leuten führt die Wahrnehmung kirchlicher Verbote und deren Sexualethik weitgehend auf Unverständnis und Ablehnung. Das führt oftmals dazu, dass diese Menschen grundsätzlich ihr Interesse am Glauben verlieren und sich gegenüber Religion und Kirche generell verschließen.

Unlängst diagnostizierte die Geschäftsführerin des Instituts für Demoskopie Allensbach, Renate Köcher, dass sich die Kirche durch ihre restriktive Sexual- und Familienlehre bei den Menschen seelsorgerlich faktisch disqualifiziert. Die Kirche werde „von den meisten deutschen Katholiken nicht als Anwalt einer verantwortungsbewussten Partnerschaft und Sexualität wahrgenommen, sondern als eine Institution, die diesem Bereich misstrauisch bis feindlich gegenüber steht.“ Die Verbotsfixierung der Kirche brüskiert demnach just jene Katholiken, denen durchaus an einem glaubensgemäßen Ehe- und Familienleben gelegen ist.

Viele Religionen haben stets menschliche Natur negiert, obwohl Sexualität ein menschliches Grundbedürfnis ist. Doch allem Anschein nach ist in den Köpfen einiger moralischer Instanzen und sexualfeindlich Verblendeter eine „gesunde“ Sinnlichkeit nicht vorstellbar. Für sie ist Sexualität nur in Ordnung, wenn sie in der Ehe auf Fortpflanzung ausgelegt ist. „Seid fruchtbar und mehret Euch“. (1. Mose 1, 22). Aber Sexualität dient nicht allein der Zeugung von Kindern, sondern ist für zwei Menschen wichtig unter dem Gesichtspunkt der Freude, des Vertrauens, der Lust. All das hat sein eigenes Recht. Sexualität wird nicht erst legitimiert durch Nachkommenschaft. Ohne die traditionelle Ehe abwerten zu wollen, aber Religionen müssen allmählich auf veränderte Lebensverhältnisse reagieren. Unzählige Menschen leben heute in Patchwork-Familien, in Ein-Eltern-Familien, in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften. Anstatt Wertschätzung für neue familiäre Formen auszudrücken und sozialpolitische Konsequenzen in den Blick zu nehmen, werden diese von den Kirchen und zahllosen Sekten immer noch ignoriert. Und dagegen steht auch ein Aufheulen der fanatischen Kirchengläubigen, die alles wollen, nur keine Veränderung. Viele fortschrittsfeindlich und zahlreiche zerstörerisch Veranlagte predigen den Lusthass, den Leibhass und den Sexualhass.

Bei der Loveparade am 24. Juli 2010 in Duisburg kam es im Zugangsbereich zur Veranstaltung bei einem unfassbaren Gedränge unter den Besuchern zu einer Massenpanik, in dessen Folge über 20 Menschen unter tragischer Weise ums Leben kamen und weit mehr als 500 Personen zum Teil schwer verletzt wurden. Anschließend missbilligte der römisch-katholische Weihbischof der Erzdiözese Salzburg Dr. Andreas Laun im ultrakonservativen Internetportal kath.net das „abstoßende Erscheinungsbild“ des Techno-Spektakels und nannte es „eine Art Aufstand gegen die Schöpfung und gegen die Ordnung Gottes“. Und: „Man weigert sich anzuerkennen, dass die Loveparade, abgesehen von ihrem krankhaften Erscheinungsbild, auch mit Sünde zu tun haben könnte und darum, folgerichtig, auch mit dem richtenden und strafenden Gott“! Weiter bemerkte er: „Die Loveparade ist kein harmloses Feiern. Wenn Gott straft, tut er dies mit der Absicht, den Menschen zurückzuholen. Gott straft aus Liebe!“ Eine gottgewollte Ausrottung sozusagen. Wer den Namen Gottes in Verbindung mit Rache, Gewalt und Tod konnotiert, hat die Botschaft Jesu Christi nicht verstanden. Dem durch 2000 Jahre Kirchentradition geprägtem „Gottesmann“ empfehle man einen Blick in die Bibel unter der Rubrik Matthäus 7.2. Dort steht geschrieben: „Denn mit welcherlei Gericht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden; und mit welcherlei Maß ihr messet, wird euch gemessen werden“.

Wenn es ums Polemisieren geht, ist dieser österreichische Diener des katholischen Gemeindewesens kein unbeschriebenes Blatt. Er nennt AIDS und Hepatits eine Schwulenkrankheit, prognostiziert eine „Homosexualisierung der Gesellschaft“, richtet sich gegen eine Weihe von abstinenten Homosexuellen zu Priestern und ist der Ansicht, dass die Streichung der Homosexualität aus der internationalen Klassifikation psychischer Störungen der Weltgesundheitsorganisation eine gesellschaftspolitische, jedoch keine wissenschaftliche Entscheidung gewesen sei. Indessen wich er in einer Talk-Show der ARD im März 2010 der Frage aus, ab wann Missbrauchs-Verdachtsfälle in kirchlichen Einrichtungen kirchenintern als kriminell eingestuft und hierdurch die staatliche Strafverfolgung eingeschaltet werden soll.

Der Mensch wurde nicht geboren, um monogam zu leben. Nicht jeder widersteht dem Ansturm der Leidenschaften. Nachweislich werden sogar unzählige Beziehungen durch den Zwang der Monogamie zerstört, weil sie mit engherzigen und realitätsfernen Ermahnungen zur Keuschheit und damit zur Monogamie gedrängt werden. Andererseits fällt es vielen Mitgliedern religiöser Gemeinschaften nicht schwer, das Prinzip der Askese, der Abkehr vom weltlichen, zu leben. Bereits in den frühchristlichen Kirchen wurde das Ideal der Enthaltsamkeit gepredigt. Durch die Unterdrückung von Wünschen und Begierden hoffte man zur religiösen Vollkommenheit zu gelangen.

In einigen Religionen fällt es vielen Gläubigen heute noch schwer, offen über Sexualität zu sprechen. Verursacht durch zwei Jahrtausende christlicher Sozialisation, in der Sex etwas Schlimmeres als Gewalt darstellt, können heute viele Menschen immer noch nicht verantwortungsvoll mit der Sexualität umgehen, geschweige denn eigene Grenzen kommunizieren. Erzkonservative Religionen, oftmals ein Wurzelwerk von Vergewaltigung und Pädophilie, generieren nur mehr sexuell verklemmte und verstörte Menschen. Ist es nicht bestürzend, dass Kinder schon im Vorabendprogramm des Fernsehens Mord und Totschlag sowie zerfetzte Leichen in Spielfilmen oder bürgerkriegs-ähnlichen Auseinandersetzungen im Nahen Osten (Beispiel Syrien und Irak) mitbekommen dürfen, aber ein in der Schule im Aufklärungsunterricht gezeigtes onanierendes Strichmännchen Aufschrei erzeugt?

Die Weltkirchen vertreten mit ihrer Lehre Thesen, die weit in die Vergangenheit gehören, jedoch nicht in die Neuzeit. Dialogunfähige Kirchenvorstände, die geistig noch im Mittelalter leben, die gottgleich bestimmen, was gut und schlecht ist, denen körperliche Hinfälligkeit und nicht selten Jenseitigkeit anhaftet, können naturgemäß nicht offen sein für die Anliegen einer Reformation oder Moderne. Sie werden sich weiterhin jedem Wandel widersetzen. Doch nur wenn sich die Kirche reformiert, kann sie weiterhin ihre führende Rolle in der Gesellschaft behalten. Jedoch haben wir es im Moment mit Religionen und fundamental-christlichen Sekten zu tun, die eine dumpfe, sexual-feindliche Moral vertreten, selbst jedoch unmoralisch sind.

Hier sei ein Blick in die realitätsfernen, oft hinter Klostermauern abgeschotteten Priesterseminare gestattet. Nach dem römischkatholischen Universitätsprofessor Hubertus Mynarek, Dekan der theologisch-katholischen Universität zu Wien, ist dies eine Brutstätte von Selbstbefriedigung und Homosexualität. Nach seiner Version sind etwa 25 % aller Priester (zwangsweise) homosexuell veranlagt, was nicht bedeutet, dass sie krank sind. Als Mynarek 1972 das Buch „Herren und Knechte der Kirche“ schrieb, wurde er innerhalb einer Woche „gefeuert“, und das nur, weil er Recht hatte. Er hat beim Münchner Amtsgericht 14 Prozesse auf einmal verloren, man strich seine Pension und drängte ihn in eine persönliche Katastrophe. Kirchenmacht im 20. Jahrhundert. Vielleicht war es aber auch ungeschickt, damals in Wien mit seiner Sekretärin – seine spätere Ehefrau – und der Amtskette um den christlichen Hals, zum Opernball zu gehen.

Sex ist ein Geschenk Gottes und es ist wichtig, richtig damit umzugehen. Es gibt Formen des Sex, die uns zerstören und es gibt Formen des Sex, die uns aufbauen. Dennoch behaupten zahlreiche, augenscheinlich sexuell enthaltsame, bibelschwingende Gläubige, dass Sexualität der menschlichen Unvernunft entspringe. Dazu bemerkte einst der irische Schriftsteller Oscar Wilde: „Die verhängnisvollen Irrtümer des Lebens entspringen nicht der menschlichen Unvernunft; ein unvernünftiger Augenblick kann der schönste Augenblick unseres Lebens sein. Sie entspringen der menschlichen Logik“.

Keine andere Emotion bewegt und berührt so sehr wie die Liebe. Sie ist das Urthema der Literatur, der Kunst und Religion. Das große Gefühl, auf dem unsere intimen Beziehungen ruhen. Die Macht, die das Leben verzaubern soll. Liebe hat unendlich viele Gesichter, ist erfüllend, fordernd, unerreichbar und manchmal verletzend. Aber was ist das schönste Gefühl der Welt eigentlich? Chemische Reaktion oder doch nur ein Wort? Was ereignet sich im Leben, wenn wir es mit der Liebe zu tun bekommen? Jedenfalls geschieht mehr, als die Biologie, die Psychologie und die Soziologie wahrnehmen. Im Lieben spüren wir jene Kraft, von der der Glaube sagt, dass uns in ihr Gott berührt. Hingegen brauchen viele Religionen den Hass um die Anhänger zusammenzuhalten, vergiften extrem Konservative mit ihrer presbyterianisch geprägten Prüderie und Doppelmoral das Klima.

Christliche Missionierung hat mittels puritanischer Strenge und einer von christlichen Predigern geschürte Prüderie in den letzten Jahrhunderten in vielen Teilen der Welt tiefe Spuren hinterlassen. Dem Laster und der satanischen Versuchung erlegene Eingeborene, in einem Umfeld erotischer Unbefangenheit und sexueller Ausschweifung lebend, wussten vorher gar nicht was Sünde war. Sie vergingen sich gegen sämtliche christlichen Gebote, ohne überhaupt zu ahnen, dass sie Schuld auf sich luden.

Schon im hohen Mittelalter wuchs die Kritik an den Auswüchsen des Papsttums. Beispiele sind die Wirksamkeiten der Kirchenkritiker John Wyclif in England und Jan Hus in Prag. Somit zeichnete sich der moralische Zusammenbruch der Klerisei schon lange vor Luther ab, z.B. um die Mitte des 15. Jahrhunderts durch die Realisierung einzeln ausgießbarer Buchstaben (Lettern), mit denen es unter Zuhilfenahme einer eigens dazu konstruierten Buchdruckerpresse gelang, „gegossene“ Buchstaben zu Wörtern, Sätzen und Buchseiten zusammenzustellen, bzw. sie nach Gebrauch wieder auseinanderzunehmen. Das war ein Quantensprung der Menschheit; initiiert von Johannes Gutenberg in Mainz. Diese Erfindung legte den Grundstein zur Reformation und Aufklärung.

Der Wittenberger Martin Luther, dem zweifelnden Theologen, war das verlotterte Papsttum mit seinem Sünden- und Imponiergehabe ein Dorn im Auge. In die Zeit des Papstes Leo X., also frühes 16. Jahrhundert, fällt der Zenit einer breit verlangten Reformbewegung, die nur noch des Züngleins an der Waage bedurfte, um das Glaubensfass zum Überlauf zu bringen. Allgemein, aber nicht ganz korrekt, wird das bis heute als das ausnahmslose Verdienst Martin Luthers deklariert, doch jener bildete nur die Spitze des Eisbergs.

Zu jener Zeit war der einstige Petersdom in Rom ruinös und verkommen. Hier wurde Markt gehalten und hier trieben sich unzählige Prostituierte herum. Dem Augustinermönch muss beim ersten Besuch im Jahre 1511 die Ewige Stadt wie ein Sündenbabel vorgekommen sein. „Das soll der heiligste Ort der Christensein sein, das Herz der Kirche?“ Soll er sich damals gefragt haben. Die unchristlichen Verhältnisse am Papsthof erschienen ihm skandalös und schaudererregend.

Etwa zur gleichen Zeit begannen die Arbeiten an einer wahrhaft gigantischen Konstruktion, den Bau eines „neuen“ Petersdomes just an der Stelle, von der orthodoxe Theologen bis heute annehmen, er stehe direkt über dem Grab des Apostelfürsten Petrus (der sich allerdings nach neuzeitlichen Erkenntnissen niemals in Rom aufgehalten haben soll), ausgeführt von den besten Architekten und Künstlern der Epoche; bezahlt von der Einfalt und dem Opferwillen Christgläubiger, denn das Problem war die Finanzierung in einer noch geldarmen Zeit. Niemals hätte die Kirche dieses Projekt alleine stemmen können.

Folgerichtig wurde das System des Sündenablasses ausgebaut und man begann damit, Illusionen zu verkaufen. Wer zahlt wird sündenfrei und wer nicht zahlt, muss mit Höllenstrafen rechnen. Sündenerlass und Seelenheil waren käuflich und das Geld der Leichtgläubigen füllte die päpstlichen Schatullen. Ablassprediger machten sich im (un)christlichen Abendland auf die beschwerliche Reise als Geldbeschaffer für ein (be)trügerisches Vorhaben und füllten die Kassen des Vatikans mit Geld. In Norddeutschland warb der aus dem Orden der Dominikaner stammende Johannes Tetzel für seine Aktion mit dem Wahlspruch: „Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Fegefeuer in den Himmel springt“.

 

Dieser Aspekt bewog den Mönch Martin Luther, dem Kirchenvolk seine 95 Thesen mitzuteilen und so schlug er diese am 31. Oktober 1517 an das Hauptportal der Schlosskirche zu Wittenberg an. Jene Glaubensverkündung löste eine geistige Revolution aus, erschütterte die längst marode abendländische Weltordnung des ausklingenden Mittelalters und wird heute als eigentlicher Beginn der Reformation betrachtet. An den innerkirchlichen Missständen und am Ablasshandel änderte Papst Leo X. allerdings nichts. Für die Kurie war es das Aufbegehren „eines vermessenen Mönchs zu Wittenberg“, durch den das unverständige Volk irregeleitet, d.h. vom „rechten“ Glauben abgehalten werden sollte. Folglich exkommunizierte er Luther am 3. Januar 1521.

Und doch steht Luther nicht allein im Raum der konfessionellen Turbulenzen im frühen 16. Jahrhundert. Es bildeten sich bissige Gegnerschaften, wie mit Zwingli in der Schweiz, mit dem französischen erzkonservativen Glaubens- und Sittenfanatiker Jean Calvin (1509-1564) in Genf. Seine Vision war ein strenges Regime der Gottgefälligkeit und ein Leben in Keuschheit. Er rief einen religiösen „Tugendrat” ins Leben, der über das Verhalten aller Einwohner der Stadt wachen sollte. Er beschäftigte sich ausnehmend mit dem moralischen Verhalten der Genfer, ermittelte wegen Ehebruch, Prostitution und Homosexualität und war der Ansicht, dass die Menschen nach dem Sündenfall Adams und Evas verdorben seien und drohte für ihre allumfassende Schlechtigkeit mit ewiger Verdammnis und dem Fegefeuer. Vor der Todesstrafe in Glaubens- und Sittenfragen schreckte er keinesfalls zurück.

Von der französischen Glaubens(abfall)variante spalteten sich kurz danach die Hugenotten in Frankreich ab und von hier sprang der revolutionäre Funke über den Kanal nach England, wo Heinrich VIII. das Zepter führte. Seine sexuellen Eskapaden und seine vielen Ehen erzürnten den Papst im fernen Rom. Heinrich wischte sie vom Tisch des Herrn und schuf die anglikanische Hochkirche. Damit war die Macht des Katholizismus im christlichen Abendland gebrochen. Rom musste etwa 50 % des Glaubenskuchens an religiöse Konkurrenten abgeben. Kurz danach entstand der Orden der Jesuiten mit Ignatius Loyola; die Schlacht des „alleinigen“ Glaubens war für immer verloren.

Nahezu vierhundertfünfzig Jahre später, mithin in einem aufgeklärteren Jahrhundert, legte der polnische Papst Johannes Paul II. höchstselbst in seiner Enzyklika „Glanz der Wahrheit”, die an alle Bischöfe gerichtet und ebenso wie der Katechismus für alle Katholiken verpflichtend ist, wortreich wie noch keiner seiner Vorgänger dar, welche Moral die katholische Kirche „im Namen und mit der Autorität Jesu Christi“ lehrt und fordert. Anstatt die Menschen mit starren Geboten und Verboten zu überfordern und ihnen zu helfen, sich von ihren Ängsten und Nöten zu befreien, zitierte der unfürchtige Gottesdiener den Apostel Paulus: „Unzüchtige, Götzendiener, Ehebrecher, Lustknaben, Knabenschänder, Diebe, Habgierige, Trinker, Lästerer und Räuber“ hätten im Reich Gottes nichts zu suchen. (Ziffer 2353 des Katechismus). Die körperliche Vereinigung zwischen einem Mann und einer Frau, die nicht miteinander verheiratet sind, bezeichnet er als schwere Unzucht. Ein Verbot wird auch für homosexuelle Beziehungen, Ehebruch und Ehescheidung, sogar Masturbation ausgesprochen. Was über Abtreibung im Katechismus und in der Enzyklika fixiert ist, ist eine Beleidigung für alle Frauen, die in einer hoffnungslosen und tragischen Situation keinen anderen Ausweg mehr wissen als einen Schwangerschaftsabbruch. Die Abtreibung wird im Katechismus mit ziemlich den gleichen Worten verboten wie der Mord. Dann wird differenziert, aber nur unter dem Stichwort Mord, nicht hinsichtlich der Abtreibung.

Wer diesem Papst und diesem Katechismus folgen will, muss den Abbruch einer Schwangerschaft auch dann ablehnen, wenn zu erwarten ist, dass die Frau bei der Geburt stirbt oder wenn sie vergewaltigt wurde – wie Tausende bosnischer Frauen und wie in einem weltweit erörterten Fall ein 14jähriges irisches Mädchen vom Vater seiner besten Freundin. Schon eine einzige Nacht im falschen Bett kann in die Hölle führen. Denn einer Todsünde wird schuldig und der „ewigen Seligkeit“ geht verlustig, wer irgendetwas tut, „was in schwerwiegender Weise sittlich ungeordnet ist“. Und was wäre ungeordneter als Unzucht?

Unter Ziffer 1035 werden die Signale für die Höllenfahrt gestellt: „Die Seelen derer, die im Stand der Todsünde sterben, kommen sogleich nach dem Tod in die Unterwelt, wo sie die Qualen der Hölle erleiden.“ Ein Haufen dogmatischer Hokuspokus, den man glauben muss, weil man sonst der Sünde anheimfällt. Einige fürchten sich nicht davor, Sünder zu sein, und andere wiederum fürchten sich davor. Ungläubig zu sein galt beim Klerus immer als schweres, wenn nicht gar todbringendes Vergehen. Unmenschlichkeit dagegen wurde seltener gerügt. Verständlich, die Unerfüllbarkeit vieler katholischer Verhaltensmaßregeln ist unerlässlich, um die Gläubigen im Zustand der Sünde, also im Zustand des schlechten Gewissens zu halten. Die Klerisei bestraft die Gläubigen mit Sünden, die sie ihnen vorher aufgeschwatzt hat; sie droht mit Höllenstrafen obwohl es kein Indiz einer Hölle gibt. Wie viel klüger wäre es gewesen, sie von der Angst des Glaubens zu befreien und aktive Mitstreiter aus ihnen zu formen.

Die katholische Kirche maßt sich an ein Mitspracherecht zu besitzen in dem Punkt, wann Sex mit wem zu welchem Zweck erlaubt ist. Jahrhundertelang haben sich Päpste und Priester am Unterleib ihres Volkes abgearbeitet; genützt hat alles nichts: Die renommierte amerikanische Theologin Margaret Farley, seit 1959 Nonne der Barmherzigen Schwestern hat mit ihrem im Jahre 2014 erschienenen Buch „Verdammter Sex“ den Vatikan hochgradig erzürnt. Dabei fordert die Berufskatholikin lediglich eine neue christliche Sexualmoral sowie ein radikales Umdenken in Sachen Zölibat, Homosexualität, Verhütung und Ehescheidung.

Die vatikanische Glaubenskongregation, die die allgemein gültige Interpretation der Bibel innerhalb der katholischen Kirche festlegt, hat daraufhin die amerikanische Theologin und Ordensschwester an den Pranger gestellt, öffentlich „zu den vielen Irrtümern und Zweideutigkeiten“ des Buches Stellung bezogen und die Schrift als „unkatholisch“ eingestuft. Zahlreiche Aussagen seien mit „echt katholischer Theologie“ unvereinbar und stünden im Widerspruch zum Katechismus. Die Autorin offenbare ein falsches Verständnis der Natur und der natürlichen Moralgesetze. Das Buch stelle eine „große Gefahr für die Gläubigen“ dar. Die Glaubenskongregation verweist darauf, dass die Kirche laut dem katholischen Katechismus Menschen mit „homosexuellen Tendenzen“ mit „Achtung, Mitgefühl und Takt“ begegne. Gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften seien jedoch eine „schlimme Abirrung“ und verstießen gegen das „natürliche Gesetz“. Daher dürfe die Schwester homosexuelle Partnerschaften in keinem Fall gut heißen. Auch beim Thema Selbstbefriedigung sieht die Glaubenskongregation keinen Spielraum, da dies eine „schwere ordnungswidrige Handlung“ sei. Farley hatte dagegen argumentiert, dass Masturbation einer Beziehung „eher nützt als sie behindert“. Hingegen sieht die Glaubenskongregation jegliche Art von Selbstbefriedigung als „ernstlich gestörtes Verhalten“ an und spricht von schwerer Verderbtheit. Zur Ansicht Farleys, nicht alle Ehen könnten ein Leben lang halten, meint die Kirche, nur der Tod könne Ehen scheiden. Ohnehin sei generell „jede Bezugnahme auf Sexualität außerhalb der Ehe“ zu verurteilen. Farley, die früher jahrelang als Ethikprofessorin in Yale gelehrt hatte, wies die Kritik des Heiligen Stuhls nachdrücklich zurück. Sie habe die Sexualmoral nach neuen Gerechtigkeitskriterien untersucht: „Die Tatsache, dass Christen (und andere) neues Wissen und ein tieferes Verständnis der menschlichen Verkörperung und Sexualität erlangt haben, scheint es notwendig zu machen, zumindest darüber nachzudenken, die Sexualethik weiterzuentwickeln.“

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