Der Anfang vom Ende der Ewigkeit.

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Er stieg aus. Kündigte seinen Job. Vielleicht konnte er mit dem Geld aus Karins Lebensversicherung die Zeit überbrücken. Das sollte reichen, bis er als freier Autor Geld verdiente. Es kam anders. Die Bücher lagen wie Blei in den Läden. Wenn sie denn überhaupt in Läden lagen, weil sein Kleinverlag eher sparsam war, was Vertrieb und Marketing anbelangte. Allesamt Flops, kein Mensch kaufte das Zeug.

Vielleicht sollte er doch die Manuskripte aus Karins Nachlass veröffentlichen, den Erotikroman, das Kinderbuch ... einiges Material war ja in ihrem Nachttisch. Vielleicht reichte es für zwei dünne Bände. Und sie konnte schreiben, sogar sehr gut. Er hatte sie immer um ihr Talent beneidet. Posthume Veröffentlichungen aus dem Nachlass des Autors verkaufen sich doch recht gut. Und sie hatte sich ja zu Lebzeiten einen Namen gemacht in der Stuttgarter Fotografenszene, war eingeladen zu allen Events und Hochreiter gerne mit dabei, wenn rote Teppiche und Buffets bei irgendwelchen Vernissagen oder Musicaleröffnungen riefen. Wenn alle Nesenbachprominasen ebendiese in die Kameras hielten und am nächsten Tag im Arm des wie immer breit grinsenden Societyreporterstars Karsten Pfeil die Bildstrecken des Stuttgarter Blattes bebilderten, für das er selbst früher hochgelobte und manchmal sogar prämierte Reportagen geschrieben hatte.

Aber dann hatte er wieder Angst davor, sich zu sehr an Karin zu erinnern, an sie und den Unfall, ihren furchtbaren Tod, die seltsamen Umstände. Es blieb ihm nichts anderes übrig: Hochreiter ging notgedrungen auf das Angebot eines etwas schmierigen Bekannten aus seiner Zeitungszeit ein, ab und an in dessen Detektei Fälle zu übernehmen. Auf freier Basis, als Freelance-Mitarbeiter. Private Investigation. Es ging um Ehebruch, Unterhaltszahlungen, Erbschaftsermittlungen. Kleine Schnüffeleien in den Schweinereien im Leben anderer, nichts sonderlich aufregendes. Es brachte im Schnitt ein paar Hunderter im Monat. Sagenhaft. In einem Jahr vom gutdotierten Redakteur zum mies bezahlten Mini-Jobber, Glückwunsch zur Karriere, Hochreiter!

Zwanzigtausend Euro, die täten ihm jetzt sehr gut rein laufen. Dann könnte er seine verschlissenen Zelte endlich hier abbrechen oder besser einfach dalassen und irgendwo neu anfangen, wo das Leben günstiger – und lebenswerter war. Oder – vielleicht besser noch - sein Leben in Lust und Luxus in einem fernen, warmen Land zu Ende bringen. Das Lebensniveau hier in der Region war schon hoch, klar, aber nur für die, die einen gutbezahlten Job wie beim Daimler oder Bosch hatten. Und nur damit konnte man sich auf Dauer die hohen Mieten und die sonstigen Kosten leisten. Die Preise für Lebensmittel, Restaurantbesuche und Klamotten waren schon nahezu auf Schweizer Niveau. „Das kann man sich nur leisten, wenn man sich´s leisten kann“, war einer der sarkastischen Sprüche Hochreiters. Er konnte es bald nicht mehr. Die Reserven so gut wie aufgebraucht. Fast 1000 Euro gingen pro Monat schon für die Wohnung weg. Wäre erst in 15 Jahren ganz abbezahlt. Einkäufe machte er schon lange nur noch bei Aldi und Co. Die Zeiten, als er mit seiner Frau mehrmals die Woche und das ganze Jahr über abends gerne draußen oder drinnen beim Italiener saß und trank und aß, waren vorbei, lange schon.

Auch in die Gartenwirtschaft „Zum Strauß“ am Ortseingangskreisel von Plieningen zog es ihn nur noch selten. Gestern Abend aber war er dort nach einem Spaziergang vom Asemwald runter in den Hohenheimer Park, eingekehrt und - nun ja, so richtig versackt. Ein Auftraggeber hatte endlich die letzte Rate überwiesen. Unglaublich, da ließen sich die Leute wirklich Zeit, mit der Zahlung, wenn sie ihre Leistung erst mal hatten. In dem Fall war es ein Ehemann, der seine Frau beobachten ließ bei allerlei Aktivitäten. Der wollte sich scheiden lassen und benötigte Material, damit es billiger für ihn würde. Dieses dämliche SM-Schiff auf dem Bodensee, die durchgeknallte Sadomaso-Party, ein „Ship of Fools“ und mittendrin die fesche Gattin des Ludwigsburger Juweliers ... Eine rechte Drecksarbeit, aber bitte, man musste ja sehen, wo man bleibt.

Immerhin konnte er sich damit gestern ein Grillhähnchen mit etwas Wein, na ja mit wohl etwas viel Wein, dort unter den Kastanien leisten. Ein zu Lebzeiten und hoffentlich auch jetzt glückliches Biohähnchen. Äußerst lecker mariniert mit saftig schmackhaftem Fleisch und würzig knuspriger Hautkruste. Ein Gedicht, vor allem mit einer, na ja zwei Flaschen „Sensazzionell“ vom Weingut Raumle in Korb, toll, was der junge Winzer seit ein paar Jahren zauberte. Auch die Weine vom Rispe von den Hängen der Alb mochte er sehr, zum Beispiel den Silvaner „Alte Rebe“. Der passte wiederum vorzüglich zu einem Tafelspitz …

Er saß gerne hier unter alten Bäumen an Tischen und auf Bänken aus dicken Eichenbrettern vor der sonnengewärmten Naturmauer aus Kalkstein von der schwäbischen Alb. Besonders schön fand er das nach einem ausgiebigen Streifzug durch den botanischen Garten rund um das Schloss Hohenheim mit seinen herrlichen Baumriesen, saftigen Blumenwiesen und kleinen Seen. Aber das war die Ausnahme. Normalerweise aß er gleich auf einer Parkbank nahe am Discounter oder schlimmer, vor der Glotze ein paar Scheiben pappeartiges Billigbrot mit übel riechender Billigwurst. Hundefutter, nur anders verpackt und deshalb teurer. Wahrscheinlich würde er bald wirklich in der Tierfutterabteilung bei den Sonderangeboten zugreifen.

Gerade so konnte er das Auto – was heißt Auto – sein geliebter alter Benz, (er dachte und sagte immer Benz, daran merkte man schon, dass er kein Schwabe war, die denken und sagen nämlich Daimler beziehungsweise „Doimler“), ein 260er SL in wunderschönem dunkelblau! - gerade so konnte er diesen Blechtraum noch halten, fuhr aber wegen dessen immensen Spritverbrauchs meist mit Bus oder Bahn. Und auch das wurde teurer und teurer. Bald dürfte er aber sowieso nicht mehr mit dem Oldtimer fahren. Dem Feinstaubalarm sei Dank! Heißt ja jetzt Luftreinhaltetag, viel besser. Verpackung ist alles. Demnächst ist Smoggy City Stuttgart auch noch ein Luftkurort, halt der besonderen Art, nicht zum Aushalten das alles. Sein geliebtes heilig´s Blechle, das war doch sein letzter Schatz, der ihm geblieben war.

Und manchmal, wenn es sonnig war, dann fuhr er mit ihm hinaus aufs Land. Früher waren sie, Karin und er, gerne am Wochenende auf der Alb. Los ging´s recht bald am Samstagmorgen oder schon freitags nachmittags. Wandern und Einkehren und Übernachten in Landgasthöfen. Oft landeten sie im „Hirsch“ in Leiserheim, nahe Donnstetten und Römerstein, einem idealen Ausgangspunkt für ihre Touren.

Sie liebten die Alb zu jeder Jahreszeit. Die ersten blauen Enzianblüten im Frühjahr. Lustvolle Sommer auf sonnig warmen Wiesen und in schattig kühlen Wäldern. Die morbide Farbenpracht des Herbstes, ein letztes Feuerwerk des Lichts vor der Verwesung, der Duft des nassen modrigen Laubes und schließlich das weiße Leinen - Karin nannte es in ihrer respektlos schwarzhumorigen Art „Leichentuch“ - des Winters mit seinen Langlaufloipen …

Seit jenem Abend war er nicht mehr da oben, er konnte es nicht. Wenn jeder Ort eine gemeinsame Geschichte erzählen kann, schmerzt der Verlust bei jedem Blick. Und nun dieser verdammte Auftrag, ausgerechnet auf der Alb! Das konnte er doch nicht, das wollte er doch nicht, das schaffte er doch nicht! Das Angebot aber war zu verlockend. Und seine Situation zu verfahren. Er wollte, nein er musste das Geld kassieren und dann die Vergangenheit endgültig begraben, weggehen, irgendwo neu anfangen oder gut gepolstert seine Existenz genüsslich beenden.

Etwa eine Stunde würde er von hier aus maximal für die 60 Kilometer brauchen. Die Straßen waren um diese Zeit frei und auch durch die Dauerbaustelle kurz vor der Albausfahrt käme er gut durch. Er wollte auf die A8 fahren. Früher trödelten und gondelten sie ja gerne gemütlich auf der Landstraße über die Dörfer durch Nürtingen und Metzingen und dann hinter Bad Urach die Serpentinen hinauf. Eine schöne Strecke, aber die durfte er nicht nehmen. Er konnte es nicht mehr. Seit diesem Sommerabend vor sieben Jahren, als sein Herz erkaltete und sein Hirn Lochfraß bekam…

„20.000 Euro sagten Sie, habe ich das richtig verstanden? Ok, aber die erste Hälfte schon beim Antritt, und zwar alles bar und ohne Belege, damit mir uns verstande, ja Herr Bachel?“ Er war doch nicht blöd. Vielleicht hatte der Koch-Freund einfach nur irgendwo gefeiert und dann stand der Fernseh-Fuzzi mit ihm im Arm in der Tür, wenn er ankam und verlegen lächelnd flötete: „Dzsorry, dadzs idzst jetzdst echt blöd gelaufa, gell Schatzi?“

Ob der Koch überhaupt die zehn Riesen unter der Matratze hatte? Am Sonntag hatte ja keine Bank offen, Mist, er war doch noch nicht so richtig hell in der Rotwein-Birne. „Hat das vielleicht doch noch Zeit bis morgen, wegen der Bank und so?“ „Noi, Herr Hochreiter, net zmorga, es isch koi Problem, ich hab` dadzs Geld hier und kommet Dzsie dzsofort, biddä!“ Flehte Bachel. Klar, er hatte „dadzs“ Geld hier, äffte er den Koch in Gedanken nach. Logo, der Herr Fernsehkoch hat einfach „dzso“ zehn oder zwanzig Riesen daheim unterm Kopfkissen, die „Dire Straits“ fielen ihm ein mit ihrem Song „Money for nothing“ ...

Das Lied summend und Passagen des, wie er fand, recht passenden Textes – Knopfler sang da von viel Geld fürs Rumkaspern in der Glotze kassierenden Tunten - brummend stand Hochreiter unter der Dusche. Das lauwarme Wasser plätscherte auf seinen müden Kopf. Er musste daran denken, wie sie an jenem Tag auch an einem Sonntag in der Frühe spontan aufbrachen zu einem Ausflug in „die niedlichen Zwergenbergle“. So spottete seine Frau über das 800 bis über 1000 Meter hohe „Pladdohle“ zwischen Stuttgart und der Donau.

Aber auch seine eigenen Gedanken bezüglich der Alb waren recht despektierlich: ein vom Wasser angefressener Kalksteinschwamm mit großen Löchern und ein wenig Moos drauf. Wie ein dementer Schädel mit Alzheimer-Hirn. Eine Metapher wie aus dem Bilderbuch, Hochreiter, beglückwünschte sich der Ex-Reporter bissig. Die Kalkgebirge der Alb als steinernes Mahnmal an ein vergessenes Urmeer und dessen Lebewesen.

 

Unsere Schädel sind doch auch wie die Kalkformationen der Alb: Stein gewordene Erinnerung an unser Leben, an Urmeere und ihre seltsamen Kreaturen. Schichten über Schichten von Sedimenten, Erinnerungen, Bildern, über Millionen von Jahren verdichtet und verhärtet, ausgelaugt und ausgehöhlt durch den ewigen Kreislauf des Wassers.

Vor sieben Jahren ...

Es war ein herrlicher Morgen damals. Die Alb stand mit klaren dunklen Konturen im Süden der Landeshauptstadt wie Mörikes blaue Mauer vor dem Horizont. In der Mitte etwa die Burgruine Neuffen, weiter rechts vorgelagert der kleine Kegel der Achalm. Davor parallel zum Bergrücken die Autobahn und dahinter die Start- und Landebahnen des Flughafens, die Messehallen, alles gut zu sehen von seinem Hochhausturm aus. Ein wunderschöner Morgen eines ebenso wunderschönen Tages, der in einem bitterbösen Albtraum endete, der Wirklichkeit wurde ... und immer noch war und immer wieder kehrte. Die Mauer der Alb. Der Neuffen ...

Der Unfall. Hochreiter konnte sich noch immer nicht genau daran erinnern. Verdeckt durch sein posttraumatisches Syndrom, das sie ihm bescheinigt hatten, klingt halt besser als bekloppt, ganz ausgelöscht oder einfach nur unauffindbar, wie so vieles. Die Löcher im Gewebe der Gedächtnisfäden wurden zahlreicher und größer. Erinnerungsblasen stiegen aus den Tiefen seines Gehirns auf wie Faulgas vom Grunde eines sumpfigen Teiches.

Dort, wo im Schlamm die Leichen von Fischen, Muscheln, Kröten und Wasservögeln gemeinsam mit Algen und Blättern im Morast verwesen und als letzten Gruß stinkende Luft gen Himmel schickten. Durch die Einwirkungen des Zersetzungsprozesses während des langen Liegens im Schlick der versunkenen und vergessenen Gedanken kamen diese aber nicht mehr vollständig an der Bewusstseinsoberfläche an. Mit einem leisen „Blobb“ entließen sie nur aus dem Zusammenhang gerissene Fetzen der Vergangenheit. Die selbst verging, weil sie vergänglich war, sich in Verwesung befand und letzte schwache Signale sendete.

Wie die Wellen am Strand die Spuren der Füße auslöschen, die gerade noch darüber gegangen sind. Die Sandburgen zerstören, die mit ernstem Eifer und doch fröhlich gebaut und liebevoll mit Muschelschalen geschmückt wurden. Die Berge aushöhlen, abwaschen, zerkleinern, zermahlen, zu Sediment und schließlich in Staub verwandeln, der vom Winde verweht wird. In unseren Adern fließt das Blut der Dinosaurier, dachte Hochreiter.

Erinnerungen verschiedenster Art, konkrete Szenen und Sequenzen von Liebe und Lust, Langeweile und Leidenschaft, Hass und Gewalt ... waren die als zusammenhängendes Ereignis und damit komplett am Stück irgendwo gespeichert? Oder in ihre Bestandteile zerlegt an verschiedenen Lagerstätten in den Synapsen?

Namen von Personen lagen mit Sicherheit an anderer Stelle als die Informationen über den betreffenden Menschen. Die Namen waren ja immer zuerst weg. Wie die Dateien im Computer, zu denen es keine Pfade, keine Wege, keine Verbindungen mehr gibt, die also verwaist sind. Datenwaisen, die aller Zusammenhänge beraubt sinnlos Festplattenplatz blockieren. Die kann man mit einem „Klick“ im PC löschen, um wieder mehr Kapazität frei zu bekommen. Und was wäre, wenn das menschliche Denksystem sie selbständig löscht?

Wahrscheinlich lief das automatisch im Gehirn ab, vermutete Hochreiter. Das, was lange nicht gebraucht wird, taucht urplötzlich bei irgendeiner Gelegenheit, irgendeiner unbewusst vorhandenen Verknüpfung wieder auf im Bewusstsein. Und wird, wenn es nicht weiter beachtet wird, man sich also nicht damit beschäftigt, über die Situation oder den betreffenden Menschen nachdenkt, endgültig gelöscht. So will sich das Gedächtnis schlank halten, es wirft überflüssigen Ballast ab. Namen waren also seiner Ansicht nach nicht automatisch Ereignissen zugeordnet, sondern mit einer bestimmten Person verknüpft.

Wird an diese im Allgemeinen nicht mehr gedacht, wird sie in der Hierarchie der Erinnerungen unwichtig. Rutscht im Ranking weiter und weiter nach hinten und verliert dabei immer mehr Merkmale. Beginnend mit dem Namen, dann die Erinnerung an die Augenfarbe, die Stimme, das Gesicht verblasst wie ein Kassenbeleg, der auf Thermopapier gedruckt ist. Verschwimmt wie ein Profil hinter einer Milchglasscheibe und ist schließlich nur noch Umriss, ungefähre Form. Namen sind Schall und Rauch, das wussten ja schon die Großeltern, nickte Hochreiter. Was erstaunlich lange in Erinnerung bleibt, sind Gedichte, Musik und Düfte. Kinderlieder, die in den leeren Sälen mit leeren Stühlen um leere Tische in den greisen Köpfen plötzlich wieder erklingen, Gerüche von Menschen, Parfüm, Blumen, Speisen, Landschaften, Erde, Metall, Wasser, Meer ...

Hochreiter versuchte deshalb seit einiger Zeit sein Hirn mit einer Art Geruchsmemory zu trainieren. Er nutzte jede Gelegenheit zum Schnuppern, Schnüffeln, Riechen an Früchten, Gewürzen, Aromen, Blüten, Kräutern, Wein, Parfüms und Menschen. Menschen, die Düfte trugen oder keine und einfach nach Mensch rochen. Gewaschen oder nicht, frisch oder verschwitzt. Manchmal aufregend nach Lust und Liebe und manchmal abschreckend nach Frust, Angst und Hass, auf sich selbst und die anderen. Wenn er über einen Markt schlenderte, dann liebkoste er Aprikosen, streichelte samtene Pfirsiche, betastete die sinnlich-kühle Glätte einer Aubergine, schmiegte sie an seine Wange. War dicht mit seiner Nase an der Frucht, um sich den Duft einzuprägen, verknüpft mit der Form, dem Aussehen und dem Gefühl, wenn man sie berührt.

Dieser Schriftsteller, na, wie hieß er noch gleich, Proust beschrieb in seiner langatmigen „Suche nach der verlorenen Zeit“, die er nie zu Ende gelesen hatte, wie lange vergessen geglaubte Erinnerungen plötzlich wieder präsent sind. Einfach weil der Geruch einer banalen Tasse Lindenblütentee mit darin eingetauchten Madeleines der Schlüssel zu vergangenen Erlebnissen ist.

Wie ein Passwort öffnet ein Duft die Schachteln, Schatullen, Schubladen, Türen und Tore, die Kommoden, Schränke, Zimmer, Häuser und Städte, Regionen, Länder, Kontinente, Welten und Universen der Erinnerung, aus denen das Gedächtnis aufgebaut ist. Und beim Geschmack war es genauso, denn der ist ein Teil des Geruchssinns, beziehungsweise wird durch ihn erst ermöglicht. Die Papillen auf der Zunge sind simpel strukturiert. Sie unterscheiden quasi nur zwischen schwarz und weiß. Genauer gesagt, die an der Zungenspitze schmecken Süßes, an den Rändern sitzen Säurerezeptoren, Salziges erspürt die Zungenmitte und hinten, da wird auf Bitterstoffe gecheckt.

Wenn man in eine Zitrone beißt, mit Schale! Dann stellen Zunge und Gaumen fest, dass sie innen vor allem sauer, etwas süß und außen bitter schmeckt. Das feine Zitrusaroma, das die Zitrone aber so interessant macht, das steckt in den ätherischen Ölen. Die lösen sich im Mund aus ihren Zellen in der gelben Hülle. Sie verduften und schweben über einen „Geheimgang“ vom Rachen in die Nase dahin, wo die Spezialisten für Gerüche sitzen, die Dechiffrierer und Decodierer. Den Geruch und seinen bestimmten Wert geben sie an das Gehirn als Impuls weiter: „Ich hab hier eine Sieben-Fünf-Drei“ „753, roger, reife Zitrone, over“.

Und noch etwas hatte Hochreiter festgestellt, als er begann sich mit seinem Gedächtnis zu beschäftigen. Dass er nämlich Rhythmus und Reim, ob in der Sprache oder in der Musik, ebenfalls sehr gut behalten konnte. Beispielsweise Gedichte, die er in seiner Schulzeit gelernt hatte. Lieder, die er gesungen hatte, Musik, die er gehört hatte, Texte, die er zumindest im Refrain mitgesungen hatte. Alles, was rhythmisiert oder gereimt in sein Gedächtnis eingelagert war, ließ sich leicht rekonstruieren, als ob die Form ausreichte, um den Inhalt wiederzufinden. Form follows function – und umgekehrt.

Aber es war Arbeit, das Gebäude seines Gedächtnisses zu erhalten. Andauernde Restaurierungsarbeiten oder sogar die Neuanlage mancher Teile war notwendig. Und deswegen beschäftigte er sich, so viel er konnte, mit Gedichten, versuchte sogar, eigene zu schreiben. Er lernte Balladen seiner Kindheit wieder oder solche, die er noch nicht kannte. Und er bemerkte, dass es ihm immer schwerer fiel. Dass es immer mehr Mühe kostete, neue Texte zu behalten. Und das machte ihm Angst und es machte ihn wütend, weil er ahnte, nein wusste, was auf ihn zukam, welche leere Finsternis ihn erwartete.

Ja, Hochreiter ging es nicht besonders gut. Es ging ihm sogar richtig schlecht. So schlecht, dass er sich schon seit geraumer Zeit mit Selbstmordgedanken und -methoden beschäftigte. Er suchte nach einer Möglichkeit, sein Leben so zu beenden, dass es weder ihm noch anderen größere Unannehmlichkeiten bereiten würde. So rücksichtsvoll wollte er doch noch in seinem Elend bleiben.

Also, auf keinen Fall größere physikalische Gewalteinwirkung auf den Körper durch Züge, Brückenstürze oder Pistolen, Messer oder Strom. Und auf keinen Fall mit Anlauf und gar noch in einer Pirouette vor das Führerhausfenster eines durchfahrenden Zuges springen. Auch Verbrennen oder Erhängen, Strangulieren oder Ersticken unter einer Discountertüte kam nicht in Frage.

Tod durch Erfrieren fand er cool. Das hatte ganz interessante Effekte auf den Betroffenen, der sich sogar noch auszieht, weil ihm paradoxerweise zu warm wird. Aber bis dahin musste man ja wirklich frieren und das mochte er nicht, er war schon immer ein bekennender Warmduscher. Vielleicht ginge es in Kombination mit Cognac, der „wärmt“ ja so schön. Zumindest macht er die Blutgefäße weit und lässt den Körper schneller auskühlen. Aber es war ja gerade Sommer, wenn auch recht kalt und Zugang zu einem Kühlhaus hatte er nicht.

Ein Pulsaderlass bei Pommery und Puccini in der warmen, nach Rosen- oder Lavendelblüten duftenden Badewanne scheint in der Vorstellung stilvoll, kulturbeflissen und romantisch, war ihm aber vom Resultat her viel zu unästhetisch. Eine grau angelaufene, schrumpelige, alte Weißwurst in Blutsuppe schwimmend. Stellvertretend für die möglichen Auffinder des Leichnams wurde ihm bei der Vorstellung schlecht.

Nein, das war alles nichts. Blieb noch das gute alte „Abgrillen“: Einfach den noch glimmenden Holzkohlegrill vom Balkon - er grillte immer auf seinem Balkon, und natürlich richtig mit Feuer, Glut und Qualm, sollten die Nachbarn sich doch beschweren, die blöden Elektrolavasteingasdeppen – mit in die Wohnung rein nehmen, vorher natürlich reichlich bestes Steak - T-Bone, monatelang dry aged – genießen und ordentlich Alkohol – die letzten alten Bordeaux-Schätzchen seiner Frau oder vielleicht – um seinen Frieden mit Gott und der Kirche zu machen, ein mächtiger Schattonöffdüpapp. Das schwere Essen und der Wein machen unweigerlich müde und das Kohlenmonoxid bewirkt den Rest im Schlaf. Aufwachen nahezu ausgeschlossen und am besten wirksam auf dem Boden liegend, weil sich der nette Sauerstoffblockierer dort sammelt.

Besser jedenfalls, als das Kohlenmonoxid über den Umweg Verbrennungsmotor zu sich zu nehmen, wie bei den sogenannten „Garagenunfällen“: Der Motor schnurrt den Fahrer ins Nirwana, aber dabei stinkt das dermaßen nach Abgasen, das hält ja keiner aus. Außerdem könnte er sich nie von seinem „Schätzle“ umbringen lassen, diesem babyblauen Blechtraum. Kopf im Gasherd? Hatte er nicht, obwohl er immer einen wollte. So einen richtig großen mit viel Messing und Gusseisen und so. Tempi passati.

Schlaftabletten in Kombination mit Alkohol, das war ihm zu gewöhnlich und außerdem unsicher, aber eine Richtung, die ihm schon eher zusagte. Er suchte gewissermaßen nach seinem „Schierlingsbecher“. Zubereitet aber aus Pflanzen, die ihm den freundlichen Tod bringen konnten. Die ihn weder qualvoll bei vollem Bewusstsein durch Atemlähmung ersticken ließen, noch seine Organe in blutige Fetzen auflösten. Nach schneller und schneller galoppierendem Herzrasen bis zum finalen Stillstand verbunden mit Panikattacken und Wahnvorstellungen sehnte er sich für seinen Abgang auch nicht.

Er erinnerte sich an einen LSD-Trip, den er mit Anfang Zwanzig einmal mit Freunden eingeworfen hatte: Das war eine wunderschöne bunte Hölle, aus der es scheinbar keinen Ausweg gab und das kann einen wahnsinnig machen. Das schneeweiße Pferd am Ufer des Flusses, das plötzlich aus dem Nebel auftauchte, ihn mit seinen blutenden riesigen Augen ansah, schnaubte und wieder verschwand ... Einer seiner Freunde war damals nicht mehr ganz zurückgekommen. Ein Teil seines Unterbewusstseins war in diesem Inferno geblieben und sendete immer wieder unangemeldet grauenhafte Hieronymus-Bosch-Visionen aus dem Jenseits mitten hinein in seinen Alltag. Er landete schließlich in der Psychiatrie, nachdem er eines Abends mit zwei gefüllten Benzinkanistern in den Händen im Flur seines Hauses stand und immerzu schrie, dass er die Dämonen verbrennen müsse, die flügelschlagenden feuerspuckenden Drachen mit den furchtbaren Klauen und rasiermesserscharfen Haifischzähnen, die auf seinem Dach saßen und ihn holen wollten. „SIE WOLLEN MICH FRESSEN! SIE FRESSEN MICH AUF! SEHT IHR SIE NICHT?“ Er schrie so laut und so lange, bis es einen seiner Nachbarn dann doch beim Feierabend-Fernsehen störte und der die Polizei rief. Die Einweisung in die Klinik lief reibungslos. Und das alles geschah an einem ganz normalen Tag ohne größeren Stress über 30 Jahre nach seinem Trip, dem einzigen, den er je genommen hatte. Das Chemiezeugs war unberechenbar. Die Typen, die das wann auch immer mal eingeworfen hatten, waren gemeingefährliche Zeitbomben. Chrystal Meth, die wiederbelebte Todesdroge der Wehrmacht war dagegen harmlos. Die meisten User taten nur sich selbst extremst weh und meist final. „Ich kann fliegen, schau ...“

 

Modernes Power-Gras oder besser, weil noch viel stärker, Haschisch der Sorten „Schwarzer Afgahne“ oder „Roter Libanese“ bombten zwar schnell ins Traumland, der Rausch verlief aber selten tödlich. Der Kiffer schlief ein und wachte Stunden später mit einem Wahnsinnsappetit auf, plünderte die Süßigkeiten, trank einen oder zwei Liter O-Saft und legte sich hin zum Weiterpennen.

Mit natürlichen Opiaten und daraus gewonnenen Extrakte wie Heroin, den goldenen Schuss setzen? Hochreiter hasste Nadeln. Eine Atemlähmung durch codeinhaltige Hustenmittel? Da kam man ja nicht mehr ran, das waren noch Zeiten, als so was verschrieben wurde. Hochreiter erinnerte sich an eine Nacht, in der sie einen Freund gewaltsam wachhalten mussten. Der es hatte für eine „geile Idee“ gehalten, neben reichlich Alkohol und ein paar Joints die Codeintropfen aus dem Arzneischrank der Gastgebereltern einzunehmen. Seine zumindest noch halbwegs bei Verstand befindlichen Kumpel schütteten ihm bis zum Morgengrauen kaltes Wasser über den Kopf. Und verpassten ihm Ohrfeigen, damit er nicht einschlief. Das wäre sonst Harrys Abgang gewesen, mit gerade mal 20 Jahren. Und es wäre mit grauenvollem Ersticken zu Ende gegangen. Nicht sehr schön, daher kommen wohl die Vorstellungen von Hölle und Fegefeuer, die die Christen plagen. Weil sie Menschen in ihrem Todeskampf beobachtet hatten. Und sich die Qualen und Schmerzen nicht anders zu erklären wussten, als dass sie jetzt der Teufel hole und für ihre Sünden bestrafe. Und Sünden begeht ja wirklich zwangsläufig jeder, man muss sich nur mal spaßeshalber den katholischen Katalog der Vergehen anschauen, ohne Sünde kannst Du da nicht durchs Leben kommen. Ohne Sünde wäre das auch kein Leben.

Klar konnte er sich Drogen aller Art besorgen, nicht nur in Stuttgart, sondern auch oben auf der Alb in den kleinen Käffern. Da musste man allerdings jemanden kennen, der einen kennt, der einen empfiehlt. In der Landeshauptstadt war es anonym. Man ging in die Passage unterm Hauptbahnhof, suchte sich einen Trupp von jungen Leuten aus, die drogenaffin aussahen. Viele Hunde, Bierflaschen, seltsame Kleidung, Haarschnitte und Farben waren wie früher schon immer noch gute Indizien - und dann sagte man dem Anführer von denen, dass man etwas brauche. Klar wird man erst zu hören kriegen „Verpiss dich, Alter!“, aber wenn man dann diskret einen Schein, mindestens einen Fuffi, aus der Tasche zieht und kurz verdeckt zeigt, ist das Interesse des Gegenübers schnell geweckt. Die Übergabe findet meist in einer U-Bahn statt. Der per Handy angeforderte Kurier steigt zum Beispiel aus der U6 am Charlottenplatz gerade aus dem letzten Wagen und gibt dir die rechte Hand. In die legst Du die Scheine. Er reicht dir die andere Hand mit dem Päckchen und alles sieht aus wie eine harmlose kurze Begrüßung und Abschied unter Bekannten.

Dabei könnte man natürlich reinfallen. Die Jungs oder Mädels könnten einen reinlegen. Aber wenn man eine Story erzählt, vom Sohn oder Tochter, der oder die auf Droge sei und gerade dringend einen Schuss brauche und zu fertig sei, um selbst hierher zu kommen, siegt doch das Mitleid des Händlers über das Misstrauen und man versucht in der Not zu helfen. Wichtig ist natürlich die vorherige Lageklärung: Gibt es Polizisten in der Nähe? Wo stehen die Kameras? Wie reagieren die Drogisten auf eine vorbeikommende Streife? Und man will ja auch nicht gerade in die Hände von Zivilbullen laufen, die sich als Verkäufer tarnen.

Das alles kostet also Zeit und die wollte Hochreiter lieber in der Natur verbringen, als in den stinkenden Bahnhofshöhlen und Tunneln Stuttgarts. Deshalb musste er etwas anderes finden, das ihm einen sicheren und schönen Tod ermöglichte. Einen ohne Schmerzen. Und ohne das Risiko auch noch im Knast zu landen wegen „Beschaffung illegaler Drogen zum Zwecke eines Suizids“, das wäre ja wohl völlig bescheuert.

Er befasste sich darum seit geraumer Zeit mit der guten alten Hausapotheke der Mutter Natur. Und zwar sehr intensiv mit deren „schwarzer Seite“, also all den Mittelchen, die seit Jahrtausenden den Menschen halfen, Probleme zu lösen. Da gab es Kräuter, die nicht nur bei Verdauungsbeschwerden gut waren, sondern auch den Herzrhythmus „beruhigen“ konnten. Ohne vorher den Leib unter Schmerz und Qual zu zerfressen. Er war dabei auf die guten alten Giftpflanzen der Heimat gestoßen, Herbstzeitlose, Maiglöckchen, Eibe, Eisenhut … und hatte sich mit den Wirkungen beschäftigt. All das wuchs frei verfügbar vor der Haustür in den Hecken und Gärten oder ein paar Kilometer weiter auf der Alb, da musste man nicht lange suchen.

Im Herbst war es natürlich einfach, die krokusähnliche rosa „Teufelsblume“ – wie sie auf der Alb genannt wurde - zu finden. Aber die Wirkungen sind choleraähnliche Brechdurchfälle, aufsteigende zentrale Lähmung und das schlimmste: Das Bewusstsein der Vergifteten bleibt bis zum Tode erhalten. Man scheißt und kotzt sich also unter größten Schmerzen erstickend und wach in den Tod. Kein erstrebenswerter Abgang.

Hochreiter hatte wohl nicht mehr viel Zeit für seine Suche. Der schwarze Schatten griff schon nach seinen Gedanken. Immer mehr ließ in sein Gedächtnis im Stich. Alle seine Erinnerungen aus den Tiefen der Vergangenheit, die waren seltsamerweise noch sehr präsent. Manchmal zu präsent ... Aber die Anforderungen der Gegenwart, die Vorhaben der nächsten Minuten, das war immer öfter weg und musste mühsam wieder zurückgeholt, zwangserinnert werden. Wo hatte er den Wohnungsschlüssel hingelegt, was zum Teufel wollte er denn eigentlich nochmal im Keller? Er hatte Angst, furchtbare Angst vor einer dunklen Zukunft ohne Erinnerungen.

Wenn er an seine Mutter dachte, dann wusste er, was ihm bevorstand: der Verlust der letzten verbliebenen geistigen Fähigkeiten in nicht allzu ferner Zukunft. Entweder er schaffte vorher den kontrollierten Ausstieg oder ... er würde in einem nach Desinfektionsmitteln und Körperausscheidungen oder seien wir ehrlich, Sagrotan und scheiße stinkenden „Pflegeheim“ unter legal verordneten Tabletten dahindämmern. Überforderte, weil unqualifizierte und demotivierte, weil schlechtbezahlte, nicht der deutschen Sprache mächtigen Hilfspfleger würden ihn bestenfalls ignorieren oder aber auch schikanieren. Und er müsste das ganze Elend der anderen Insassen der benachbarten Todeszellen mitbekommen.