Der lange Arm meiner Mutter

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Der lange Arm meiner Mutter
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Gerhard Gröner

Der lange Arm meiner Mutter

Ich will nicht werden wie meine Eltern

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Persönliches Nachwort

11. Erläuterungen zur Terminologie

Impressum neobooks

Prolog

Lustlose Gleichgültigkeit langer Tage ohne fordernde Aufgabe hing prägend über diesem Abend. Der kleine Garten war längst angelegt, Beet für Beet akkurat eingeteilt und den Jahreszeiten zugeordnet. Das gelegentlich aufkommende Verlangen nach einer größeren Familie mit Kindern war Wunsch geblieben. Erlerntes berufliches Wissen, Routine und langjährige Berufserfahrung verhinderten jede Vorbereitung auf den nächsten Arbeitstag.

Vor der Tür, seit Stunden, ein alle Kleider durchdringender Nieselregen. Er unterband einen gemeinsamen Spaziergang.

Elvira und Frank Cramer saßen wie fast jeden Abend im Wohnzimmer. Nicht nebeneinander sondern mit weitem Abstand über Eck. Mitten auf dem Tisch, einer Mischung aus Esstisch und Couchtisch, lag in einer Edelstahlschale aufgereiht geschältes Gemüse. Daneben, links und rechts, muschelförmige Dipschalen aus weißem Porzellan.

Frank Cramer favorisierte Dip mit frisch gepresstem Knoblauch, dazu einem Hauch Chili. Seine Frau dippte in pure Joghurtsauce, schob ihre bunte Lesebrille zurecht und blätterte mit der linken Hand abwechselnd in Programmvorschau und Modejournal.

Links von Elvira Cramer stand in zartem japanischen Stil bemalt, ein klassisches Stövchen mit bauchiger Teekanne. In einer geflochtenen Bambusschale lag grober Kandiszucker aufgehäuft und davor duckte sich eine transparent wirkende Tasse im Stil der Kanne. Bedächtig rührte sie ihren schwarzen Tee in immergleichen Kreisen.

Der Schaum in Frank Cramer's Bierglas hatte sich bereits gesetzt.

Elvira Cramer beobachte aus den Augenwinkeln ihren Mann,

der sich in ein Magazin mit den neuesten Ergebnissen vom Sport vertieft hatte.

„Frank“, Elvira Cramer schaute über die Lesebrille und sagte fast belanglos, „du wackelst wieder mit dem Kopf. Bemerkst du das nicht? Dein Vater hatte gelegentlich auch so gesessen und mit dem Kopf gewackelt.“

Frank Cramer legte die Selleriestange zur Seite und klappte das Sportmagazin zu: „Mag sein. Elvira.“

Er sagte Elvira und nannte sie nicht wie üblich beim Kosenamen Elvi, „ich jedenfalls habe nichts bemerkt. Doch schau dich zuerst selbst an. Deine Mutter hatte immer und überall die Beine übereinander geschlagen. So sitzt nun auch du. Immer. Egal ob im Sessel, auf der Couch oder auf einem Stuhl, gleichgültig ob beim Lesen oder Essen.“

„Ist ja für andere Leute nicht wichtig, wie ich sitze. Für mich ist es eben bequem, so wie ich sitze.“

Frank Cramer legte nach: „Es ist nicht nur wie du sitzt, du hältst auch die Teetasse wie deine Mutter und spreizt genauso den kleinen Finger ab. Und deine Vorwürfe kommen genauso überfallartig wie die deiner Mutter, die ständig und überall deinen Vater rügte.“

„Frank“, Elvira Cramer schaute eine längere Kunstpause zur Decke und legte ihre Lesebrille auf den Tisch, „glaube mir, ich will dich nicht ärgern aber du wackelst wirklich mit dem Kopf. Ich möchte dir nur helfen. Wenn man etwas realisiert hat, kann man es leichter abstellen. Und nun reagierst auch du genau so grummelig wie dein Vater, wenn deine Mutter ihm helfen wollte.“

Missmutig schweigend schauten beide in ihre Leselektüren ohne diese zu lesen. Frank Cramer fragte sich kurz und ergebnislos, weshalb sie in den letzten Jahren oft über ähnliche Themen stritten.

Elvira Cramer legte die Programmzeitschrift zur Seite und vergrub ihre Händen in den Schoss. Sie dachte mit geschlossenen Augen an ihr über alle Ehejahre eisern gehütetes Geheimnis, der tief eingenisteten Angst, zu werden wie ihre Mutter.

Heimlich hatte sie im Internet recherchiert und sogar einen Namen für diese wohl weit verbreitete Angst von Frauen entdeckt: Matrophobie* nennen Wissenschaftler diesen aufgewühlten Seelenzustand.

Elvira Cramer nahm einen Schluck Tee und dachte, ich schaue in den Spiegel, entdecke meine Mutter darin und empfinde sogleich undefinierbare Schuld. Auch Traurigkeit, dass meine Augen, meine Haare, nein, mein ganzes Ich ihr ähnelt.

Gibt es denn Schuld, fragte sie sich weiter, wenn meine Gene über mich bestimmen? Mir vorgeben wie ich sitze, gehe, rede oder aussehe?

Frank Cramer unterbrach die Stille, ohne die gefährlich glitschige Schiene der Vorwürfe zu verlassen:

„Ich habe keine Lust, mit dir darüber zu debattieren, warum ich die Marotten meines Vaters annehme, wenn du mit zunehmenden Alter eine volle Breitseite der kuriosen Angewohnheiten deiner Mutter abbekommst.“

Dann stand er auf, schob die Hände in die Hosentaschen und schaute durchs Fenster in die Weite. Nach einer kleinen Ewigkeit sagte er in die Scheibe: „Findest du nicht, dass sich deine Vorwürfe unüberlegt und pauschal anhören?“

„Nein, mein lieber Schatz, das finde ich nicht. Es ist nun mal eine Tatsache, dass Menschen sich verändern, jeder Mensch. Und gerade du hast in jungen Jahren immer betont: Ich will niemals werden wie mein Vater. Frank, hör zu, ich will dir nur helfen.“

„Was ist daran Hilfe wenn du mich ständig kritisierst. Es ist ja nicht das erste Mal. Gestern erst waren meine Socken zu kurz und meine Schienbeine behaart wie die meines Vaters. Mir wäre Ruhe am Feierabend wesentlich lieber als unergiebige Diskussionen über Ähnlichkeit mit meinem Vater.“

„Frank, beruhige dich. Ich möchte dich nicht kritisieren. Doch es ist nun mal so, du wackelst mit zunehmendem Alter, wenn du dich unbeobachtet wähnst, mit dem Kopf. Fühle in dich selbst und überlege, ob ich in diesem Fall, nur in diesem Fall, nicht recht habe.“

Frank Cramer legte seine Stirn in tiefe Falten. Er sprach weiter ins Fenster: „Ich sage dir was, Elvira, wenn du nicht mit einem Mann zusammen leben kannst der mal mit dem Kopf wackelt, dann müssen wir uns eben trennen.“

Nun stand auch Elvira Cramer auf: „Das ist unfair, sehr unfair sogar. Hast du dir diesen Satz überhaupt überlegt? Du solltest nicht gleich mit Scheidung drohen.“

„Aber du fingst doch mit diesem Blödsinn an. Mitten in einen entspannten Abend hast du Gift gesprüht: Genau wie dein Vater wackelst du mit dem Kopf. Ich fasse es nicht“, schimpfte Frank Cramer laut. Er stapfte, wild mit den Armen rudernd, aus dem Wohnzimmer und schlug wütend die Tür hinter sich zu.

1. Kapitel

Rosarot pur, ohne jegliche Abwechslung, umrahmte die noch kleine Welt des vor zwei Wochen geborenen Babys. Rosarot, wie Erwachsene die Kinderwelt sehen.

Rosa lackiert glänzte die aus Weiden geflochtene Babywiege, darin ein mit rosa Blüten besticktes Kissen und dazu passend die rosa Zierdecke. Rosa Handschuhe mit Bändchen und Bommeln lagen bewegungslos auf der Zierdecke und das aus rosa Wolle gestrickte Mützchen spendete Ton in Ton wohlige Wärme.

In einer Farbmischung aus hellem Rosa und dunklerem Pink gehalten war auch der ausladende Wickeltisch. Er zeigte Status, mittig im frisch tapezierten Mädchenzimmer.

Die Auswahl der Tapeten aus drei dicken Tapetenbüchern war ebenfalls auf einen rosaroten Ton gefallen. An der breiten Fensterwand in dezentem Muster, flogen kreuz und quer aufgedruckte beige Clowns.

„Wie heißt nun eure Kleine endgültig? Ihr hattet doch lange genug Zeit, darüber nach zu denken. Habt ihr einen schönen Mädchennamen gefunden?“ Fast alle Gäste formulierten, kaum zur Tür herein und oberflächlich die Begrüßungsformel dahin gesagt, als ersten vollständigen Satz diese Frage.

„Tja, das war keine einfache Übung. Wir schrieben mit unzähligen Vornamen beinahe ein Merkheft voll. Doch ihr wisst selbst, je größer die Auswahl um so schwieriger wird die Entscheidung. Schlussendlich blieben wir bei Elvira“, sagte Anne Kestig und streichelte behutsam, mit tastenden Fingerspitzen, über die zarte Haut der Wangen, die vom üppigen Rosa ausgespart blieben.

„Wir wollten keinen dieser weit verbreiteten Modenamen, blieben etwas konservativ und hoffen nun, den richtigen Namen für unsere Kleine gefunden zu haben“, ergänzte der Vater, Herbert Kestig.

„Ihr habt es heute wesentlich leichter als wir früher“, sagte Elisabeth, die Mutter von Anne Kestig in leicht vorwurfsvoller Stimmlage, „ihr kennt das Geschlecht bereits vor der Geburt“, und schob den prallen Karton mit Windeln, in leuchtend rosa

 

Geschenkpapier verpackt, in der Flur. Sie zog ihren Mantel aus und sagte dann: „Allerdings, wir durften ein paar Tage länger im Krankenhaus bleiben, das brachte mehr Ruhe. Dich schickten sie bereits am nach dem dritten Tag nach Hause.“

„Ist gut, Mama“, antwortete Anne Kestig, „nicht die Ärzte schickten mich nach Hause, ich wollte mich keine Stunde länger in dieser sterilen Atmosphäre aufhalten. Ich wollte mit meinem Kind schnellst möglichst nach Hause.“

„Schön, dass du weiter Mama zu mir sagst, Anne. Ich bin ja stolz, nun Oma Elisabeth zu sein und eine Enkelin zu haben aber sag ruhig weiter Mama zu mir, ich bin ja nicht deine Oma“, stellte Annes Mutter klar und schaute dabei in den Spiegel im Flur, ob sie nicht doch eine tiefe “Omafalte“ auf ihrer Stirn oder um die Augen entdecken müsse.

Neben weiteren üppigen Geschenken in Rosa, von denen einige, weil zu kitschig, für immer in den Tiefen eines Schrankes verschwanden und nach einem entrückten Blick auf das Baby, taten alle Gäste ihre Meinung kund:

„Ganz die Mutter, ja, ich meine ganz die Mutter, besonders Augen und Lider.“

„Obwohl, mh“, Onkel Manfred wiegte gewichtig mit dem Kopf, „die Ohren könnten vom Vater sein. Ja, ich bin mir sogar ziemlich sicher, vom Vater.“

„Was ihr alles seht“, Vater Herbert Kestig zog erstaunt die Augenbrauen hoch.

„Doch, doch, die Grübchen auf den zarten Wangen sind bereits ausgeprägt wie bei Herbert“, legte Onkel Manfred nach und zeigte auf die babyrunden Wangen.

„Nein, Manfred, schau dir nur die blonden Haare an, die sind

unverkennbar von Mutter Anne. Doch, zugegeben, auch Tante Claudias Haare sind ähnlich. Vielleicht etwas mehr ins Aschblonde.“

„Du weißt ja wohl, dass sich Haare und Augenfarben verändern können“, das Stimmgewirr schwoll in Lautstärke und Tonlage kräftig an. Allein Elvira schlummerte einen ruhigen Schlaf.

„Und erst die Fingerchen, sind die nicht süß. Wem die wohl nachkommen?“

„Jetzt ist aber gut“, Mutter Anne Kestig unterbrach das eifrige Redegewitter das sich über dem unschuldigen Säugling Elvira entlud, „ist es nicht absolut unwichtig wem Elvira gleich sieht?! Ich freue mich, dass meine Kleine rundum gesund ist. Sie wird, so wünsche ich es mir, ihr ganzes Leben lang Ähnlichkeiten mit Herbert und mir aufweisen aber von eigenständigem Charakter geprägt sein.“

„Stimmt, Anne, Hauptsache ist und bleibt: Mutter und Kind sind gesund“, ein Freund aus Herbert Kestigs Kindheitstagen wollte nun auch noch seinen Senf zur allgemeinen Meinungssoße hinzu geben, „nun habt ihr beide mit Bravour die erste dicke Übung hinter euch gebracht, dann wird hoffentlich der kleine Bruder nicht lange auf sich warten lassen.“ Laut prustete er dabei „die erste dicke Übung“ heraus.

Ohne Unterbrechung legte er nach: „Ich habe gehört, Knaben werden bei Vollmond gezeugt. Oft mit dem Aussehen des Vaters. Und doch, es kommt wie es kommen muss, der Apfel fällt nicht weit vom Birnbaum, blonde Frauen gebären blonde Töchter.“

Alle sahen sich fragend an und der Kalauerfreund von Vater Herbert setzte noch einen obendrauf: „Wie wir alle wissen, bietet das Leben für alle, auch für eure Tochter, nicht nur Kindergeburtstage. Doch gesund ist gesund.“

Sechs Wochen später, am Tag der Taufe, zwischen einem gut gefüllten Glas Cognac nach dem Essen aber vor Kaffee und Kuchen, standen alle Verwandten wieder um die kleine Elvira, die nun bereits im Kinderwagen lag.

Herbert Kestigs Freund aus Kindheitstagen hatten sie wegen seiner platten Sprüche nicht mehr eingeladen. Anne Kestig begründete dies, bevor nach ihm gefragt wurde: „Die platten Witze von Herberts Kindergartenfreund wirken auf eine angenehme Stimmung wie Bitterkraut im Hals. Das könnt ihr doch nachempfinden.“

Taufpaten und Verwandte begannen auch ohne den Kalauerfreund erneut mit der Fragestellungen: „Wem sieht unsere süße Elvira nun gleich, Papa oder Mama?“

„Jedenfalls“, Taufpatin Julia hob den Zeigefinger als müsse sie, wie in lange zurückliegender Schulzeit, mit diesem Fingerzeig auf sich aufmerksam machen, um einen wichtigen Satz mit zu teilen, „jedenfalls hat sich Elviras Haarfarbe seit ihrer Geburt nicht verändert. Also, nun bestehen für mich keine Zweifel mehr, sie wird das Ebenbild ihrer Mutter.“

„Seht doch, die anfänglich dunkelblauen Augen sind heller geworden. Klein-Elvira blickt nun wie Onkel Heinz aus ihrem Bettchen.“

Eine Großtante blies vehement die Atemluft aus: „Hoffentlich wird sie nicht wie der. Dieser Opportunist sucht zunehmend nur noch seine Vorteile. Früher, ja früher...“

Nun sah Tante Ulrike die Notwendigkeit gekommen, das Baby einem Elternteil zu zuordnen. Sie holte mit einem lauten Seufzer tief Luft.

Herrgott hilf, Anne Kestig ahnte schlimmeres, auch das noch, Tante Ulrike, die gerne zitierte und zu jeder Gelegenheit mit spitzen Lippen sprach, als besäße Wort für Wort besondere

Wichtigkeit. Tante Ulrike, die niemand in der Verwandtschaft

jemals ohne Handtasche gesehen hatte und die sie ausnahmslos, versehen mit gefälschten Gucci- und Versace-Logos von nordafrikanischen Händlern als Original beim alljährlichen Urlaub am Lido-Strand von Rimini gekauft hatte. Ausgerechnet sie will nun mein Kind mit irgend einem Verwandten vergleichen. Bitte nicht auch noch Tante Ulrike.

Anne Kestig hob die Hand und unterbrach die Prozedur der mehr oder minder gut gemeinten Vergleiche:

„Nun ist aber gut. Ich möchte, dass ihr bei unserer Tochter den Gerüchtebrunnen mit seinem schalen Wasser verwandtschaftlicher Mutmaßungen völlig außen vor lasst. Nicht böse sein wenn ich das so hart formuliere. Elvira ist ausschließlich das Kind von Herbert und mir, nicht die von irgend Onkel oder Tante. Also unser beider Tochter. Und dennoch: Sie ist ein eigenständiger Mensch und benötigt keine Vergleiche.“

„War doch alles gut gemeint, Anne“, Herbert Kestig wollte die Schärfe aus der Argumentation seiner Frau herausnehmen, gerade am Tag der Taufe.

„Ich will vermeiden“, Anne Kestig sprach nun direkt ihren Mann an, „dass die Entwicklung unserer Tochter durch Vergleiche mit Vorfahren, auf stählerne Gleise gezwungen wird. Sie soll sich frei entfalten können! Sie soll nicht ständigen Vergleichen mit Verwandten ausgesetzt sein.“

Behutsam liebkoste sie die Wangen von Elvira, durch deren zarter Haut hellrote Stellen durchschimmerten. Elvira, so schien es Anne Kestig, schaute glücklich und zufrieden in die noch unbekannte Welt.

Und, Anne Kestig lehnte sich beruhigt zurück, in die Glaubensgemeinschaft ist sie ab heute auch noch aufgenommen worden.

Die Verwandten wussten nun, dass die seit jeher gestellte Frage, „wem kommt Eure Kleine nach?“ keinen elternfreundlichen Gesprächsboden befruchtete.

Elvira Kestig, der Mittelpunkt dieses Tages, verschlief die teils nasse Prozedur, die sich über die kleine Stirn und den ersten, zarten Haarflaum ergoss. Auch die folgenden Stunden der munteren Tauffeier erlebte sie zwischen beruhigender Mutterbrust und Tiefschlaf.

Jenseits des unter Verwandten weit verbreiteten, doch von den Eltern jäh unterbrochenen Rätselraten, „wem sieht sie nun ähnlich?“, entwickelte sich ein putzmunteres Kleinkind.

Der nächste Besuch der Kinderärztin bestätigte dies: „Ist ein liebes Mädchen und kerngesund. Ruhig lässt sie alle Untersuchungen über sich ergehen. Alles gut, Frau Kestig. Gegen Milchschorf auf Kopf und Wangen verschreibe ich eine lindernde Lotion.“

Sie schrieb ein Rezept aus und fragte: „Leidet jemand in ihrer Familie an Atopischem Ekzem oder Neurodermitis?“

Anne Kestig zuckte zusammen. Sie fühlte sich nackt, als hätte ihr jemand die Kleider vom Leib gerissen. „Ja“, stammelte sie, „bereits meine Mutter klagte immer über ihre, wie man früher landläufig sagte, „Krätze“ an den Gelenken und ich reibe mich auch mit Salben gegen Juckreiz ein. Oft bilden sich nässende Ekzeme. Vermuten sie, dass meine Tochter diese Hautirritation von mir vererbt bekam?“

„Könnte sein“, die Ärztin wollte die junge Mutter nicht schockieren, „wir müssen beobachten. Bei vielen Menschen verschwindet diese Ekzeme im Laufe des Lebens, ohne Rückstände, ohne Narben zu hinterlassen. Aber ansonsten, Frau Kestig, ist ihre Tochter kerngesund. Wie gesagt, Puls, Lunge, Hüfte, Beine, Reflexe alles prima, alles ideal. Herzlichen Glückwunsch.“

Anne Kestig musste den ersten Tag erleben, der nicht von purem Mutterglück getragen war. In ihr kamen Zweifel auf.

Als sie die Praxis verlassen hatte sagte sie Halblaut: „Alles gut, hatte die Kinderärztin in ihrer knappen aber treffenden Ansprache gesagt. Doch das nicht gerade erfreuliche Thema Neurodermitis quält mich. Hoffentlich vererbte ich diese unangenehme Hautkrankheit nicht meiner Tochter, die sich dann ein Leben lang damit herum quälen muss!“

„Was alles, an guten und weniger guten Dingen“, setzte sie nach, „habe ich meiner Tochter ins Leben mit gegeben?Hoffentlich überwiegen die positiven Erbmassen.“

Langsam, nachdenklich schob sie den Kinderwagen mit ihrer geliebten Elvira nach Hause.

„Mit wem kann ich offen über das Weitergeben von Hautirritationen an die nächsten Generationen reden?“ fragte sich Anne Kestig unsicher.

Nach dieser sich unaufhörlich aufdrängenden Frage gab sie sich gleich die Antwort. Mit meinem Mann? Nein, das möchte ich noch nicht. Ich will mir wegen meiner Gene keine Vorwürfe anhören müssen. Ich kann ja auch nichts dafür.

Ich wünsche mir, Anne Kestig lief nun wieder schneller, dass meine Kleine ansonsten gesund bleibt und eine intelligente Frau wird. Die paar Hautschrammen sind dann locker vernachlässigbar. Und die dermatologische Forschung wird hoffentlich bald eine Lösung finden.

Elvira Kestig, der neue Mittelpunkt der Familie, lies sich von juckenden Hautstellen nicht die kindliche Glückslaune verderben. Sie lernte, nach einer kurzen Krabbelphase, mit zwölf Monaten bereits gehen und sprach mit zwei Jahren zusammenhängende Sätze.

„Ganz meine Tochter. Ich konnte wohl auch bald sprechen, erzählte immer meine Mutter“, Herbert Kestig warf sich in die Brust.

Elvira lief bald flink jede Treppe hoch und jedes schöne Wochenende mit beiden Eltern auf flinken Beinen zum Spielplatz.

Sie sprang mit weiten Sätzen auf die Wippe, alles im vollen Vertrauen zum Vater: „Papa, Papa, noch höher“, schrie sie mit heller Stimme und am Karussell „Mama, dreh schneller, schneller, das ist lustig.“

Liebe und uneingeschränktes Vertrauen Elviras in ihre Eltern begleitete das Zusammenleben der kleinen Familie. Jederzeit aufrichtig, ohne argwöhnisch hinterfragende Gedanken.

Elvira und beide Elternteile genossen die familiäre Gefühlswärme.

Unsere innige Beziehung, freute sich Anne Kestig, wächst zur starken Bande heran. Ein starkes Netz, das in Zukunft jede Art von Belastung aushalten wird.

Und Elvira wusste instinktiv, dass kein Satz über die Lippen der Eltern gleiten würde, in dem auch nur ein Wort, auch nur ein Buchstabe unehrlich oder gar gelogen sein könnte.

Auch jedes kleine Malheur fand umgehend Trost. Als Elvira auf unebener Straße stolperte und sich das rechte Knie und den rechten Ellbogen aufrieb, stand, bevor die ersten Tränchen über die Wangen kullerten, mit schnellen Schritten Mama Anne liebevoll zur Seite.

Vorsichtig nahm sie Elvira auf den Schoss und streichelte ihr über den Kopf:

„Komm in meine Arme mein kleiner Engel. Mama hilft dir. Bald tut es nicht mehr weh. Zu Hause reibe ich deine Wunden mit einer feinen Heilcreme ein und klebe dir ein weiches Pflaster darauf. Deine Mami ist immer für dich da.“

Die zarten Streicheleinheiten, die Creme und das Pflaster reduzierten den Schmerz auf wenige Minuten und bald darauf spielte Elvira wieder hemmungslos. Sie schlüpfte in die viel zu großen Hausschuhe Ihrer Mutter und versuchte dann noch, Kleider von ihr an zu ziehen.

Herbert Kestig empfand dies als lustiges Spiel: „Du wirst doch kein Clown werden wollen? Oder doch?“

Anne Kestig dagegen erfüllte diese Umkleideaktionen mit mütterlicher Freude, ja Stolz, den sie kaum verbergen konnte. Sie mag meine Kleider, so zumindest empfinde ich, also mag sie auch mich und hat später vielleicht den gleichen Geschmack wie ich.

Sie lief rot an, weil sie in ihrem Mann nicht Eifersucht erwecken wollte. Jedoch spürte sie erhabene Zufriedenheit über ihre Tochter, die gerne Mutters Kleider trug.

 

Vorbei waren Zweifel durch die vererbte Neurodermitis.

Die Vielzahl der Glücksmomente ließen sie auch nicht darüber nachdenken ob Elvira von ihrem Mann oder seinen Verwandten, positive und weniger positive Gene vererbt bekommen hatte.

Ich will, sagte sie sich, nur erfreulichen Hoffnungen den Weg in mich ebnen. Keinesfalls negativen Gedanken den Einbruch in unser glückliches Leben gestatten.

Wenn Elvira dann über das Zuviel an Stoff von Unterrock und Kleid um ihre dünnen Beinen stürzte, griffen wieder die helfenden Hände zu und Mama rieb wieder mit fein duftender Heilcreme ein und sagte wieder: „Tut gleich nicht mehr weh, meine liebe Elvira. Wenn du möchtest, blase ich etwas kühlende Luft auf deine Wunde. Du weißt ja, Mama ist immer für dich da.“

Jahre später, in einer dunklen Stunde, die Anne Kestig sogleich aus ihrem Bewusstsein streichen wollte, reicherte sie den letzten Satz vorwurfsvoll mit den Worten „doch“ und „allein“ an:

„Ich war doch immer für dich allein da!“

Diese Jahre der Vorwürfe waren jedoch noch weit entfernt, allerdings nicht ganz soweit, wie die junge Mutter dachte.