Der lange Arm meiner Mutter

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2. Kapitel

Die ersten Lebensjahre ihrer Tochter, gekennzeichnet von unkritischem und unendlichem Vertrauen in die Eltern, rannten Anne und Herbert Kestig viel zu schnell durch die Finger.

„Sind diese wunderbaren Tage und Monate die schönste Zeit mit unserem Kind?“, fragte sich Anne Kestig ängstlich vor einer Zukunft, die wie jede kommende Zeit, viel ungewisses im glücklicherweise unbekannten Plan führte.

Sie gab sich entschlossen selbst die Antwort: „Was immer auch kommen sollte, ich werde diese beglückenden Augenblicke jetzt und heute genießen! Die gerne zitierte Glücksgöttin Fortuna wird mir zur Seite stehen. Nicht nur die ersten gemeinsamen Jahre werde ich tief in mich einsaugen. Ich gebe alles, keine Entwicklungsstufe mit meinem Kind auszulassen, nicht eine!“

Was immer die Eltern ihrer Tochter zeigten, mit ihr spielten, ihr empfahlen, ihr lehrten, alles war geprägt von unschuldig tiefer, ehrlichen Eltern-Kind-Liebe, frei von jeglichem Eigennutz. Elvira übernahm wie fast alle Kinder dieses Vertrauen ohne die geringste Form von Widerspruch. Kein Fingerzeig, keine Geste deutete auf einen späteren Abnabelungsprozess hin.

Elvira begleitete mit breitem, kindlichem Grinsen und zustimmendem Lachen, mit Stimme und rudernden Armen, alles was ihr besonders gut gefiel. Zu jeder Gelegenheit, beim Essen, Zöpfe flechten, Schmusen und besonders bei allen Spielen.

Bald wollte sie auch an den Spielen der Erwachsenen aktiv teilnehmen. Von „Mensch ärgere dich nicht“ bekam sie selbst in den späten Nachmittagsstunden nie genug. Obwohl es von Anne und Herbert Kestig zunächst als lockeres Spiel, höchstens als Lerneinstieg in die große Welt kleiner Zahlen gedacht war, ließ Elvira sich nicht abhalten.

Gerne nahm sie dabei dezente Hilfe an. Doch wenn der Würfel überschaubare ein, zwei oder drei Punkte anzeigte, wollte sie ihren Spielkegel, stets in ihrer Lieblingsfarbe Rot, alleine - und nur alleine - ins gemeinsam abgezählte Fach weiterschieben.

Wenn sie dann richtig gesetzt hatte, bekam sie einen dicken Schmatz auf den Mund, von Mama und Papa. Hochrote Wangen zeigten minutenlang ihren Stolz bereits zählen zu können, aber auch, dass sie sich ob der vielen Küsse genierte.

Papa streichelte ihr dann über den Kopf und sagte genüsslich: „Schön, wie klug du kleiner Fratz schon bist und gleichzeitig so natürlich, so niedlich.“

Anne Kestig sorgte sich heimlich: Hoffentlich habe ich ihr das Erröten nicht vererbt und sie muss, wie ich als Kind, jahrelang darunter leiden. Ich wünsche meiner Tochter, dass sie nur Gutes aus meiner Linie erbt.

Elvira schien sich für die Vertrautheit, zu ihren Eltern und besonders zu ihrer Mutter, jeden Tag aufs Neue zu bedanken.

„Meine Lieblingsschuhe, Mama, sind die rosa Turnschuhe mit den gelben Blümchen darauf. Die nächsten Lieblingsschuhe sind gleich deine braunen mit der grünen Sohle“, sagte Elvira und stöckelte wieder einmal stundenlang ungelenk in den viel zu großen Schuhen Anne Kestigs über den Teppich im Flur.

„Schau, Herbert“, sagte Anne Kestig begeistert, „unser Kleines ahmt mich nach. Will sie eine erwachsene Frau spielen oder sieht sie mich als Vorbild?“ Diesmal traute sie sich, ihre Empfindungen an ihren Mann weiterzugeben.

Herbert Kestig antwortete, wie immer wenn es nicht um ihn ging, sehr sachlich: „Hoffentlich bricht sich unsere Elvira nicht ihre dünnen Beine.“

„Sollten wir unser Elviraschätzchen etwas früher als üblich in die Grundschule anmelden, dann wäre sie ein Jahr eher fertig mit Schule oder Ausbildung. Oder, Herbert, wird es besser für sie sein, wenn sie möglichst lange ihre Kindheit ausleben darf?“ Anne Kestig wollte mir ihrem Mann über den Schulstart von Elvira diskutieren.

„Vielleicht fragen wir die Erzieherin im Kindergarten zu diesem Thema“, antwortete Herbert Kestig, „sie können ohne „Elternbrille“ neutraler bewerten.“

Christiane Gabler, die Leiterin des Kindergartens erklärte pädagogisch wertvoll die Vorteile beider Möglichkeiten. Dieser Exkurs durch bereits bekanntes Wissen half jedoch kaum, einen Entschluss zu fassen und so blieb es dabei, dass Elvira Kestig dem Stichtag entsprechend kurz vor dem siebten Lebensjahr eingeschult wurde.

„Darfst noch etwas länger bei mir bleiben, mein kleiner Schatz“, flüsterte Anne Kestig ihrer Tochter ins Ohr.

Als Elvira zunehmend mehr Fragen über Zahlen und Buchstaben stellte, fieberte Anne Kestig dann doch dem Schulstart entgegen. Sie fragte sich immer wieder ob Klugheit ausschließlich vererbbar sei oder das gesamte soziale Umfeld als wesentliche Faktoren eine Rolle spielen.

Gene, sagte sie sich, bestimmen die Größe eines Kindes, auch Hautfarbe oder überhaupt das Aussehen. Vielleicht auch Klugheit, Schlauheit oder Bildung? Und, die schwierigste Frage in der Realität lautet: Von welchen unserer Vorfahren genau stammen diese Gene? Vorfahren aus zwei doch sehr unterschiedlichen Familien.

Wie gibt sich ein Mensch im Alltag, wie redet er, isst oder trinkt er, wie läuft er? Ist Ehrgeiz erlernbar oder vorgegeben, genau wie aufreizende Faulheit? Wie verhält es sich mit dem berühmt-berüchtigten „Schwarzen Schaf“ das viele sogenannte rechtschaffene Familien am liebsten verschweigen?

Manche unruhige Stunde dachte Anne Kestig darüber nach, was wohl aus ihrem Kind werden wird.

Kann ich den Lebensweg von Elvira nachhaltig beeinflussen, in Bahnen lenken, fragte sie sich. Und wenn ich könnte, dann müsste ich mich fragen, wie ich diesen Werdegang zielsicher begleiten darf. Durch vorleben? Durch anleiten? Durch präzise Zielvorgaben? Durch ständiges wiederholen? Oder alles zusammen?

Was hilft meiner Tochter mehr, unnachgiebige Strenge, nachsichtige Liebe in jeder Situation?

Sollte ich die beste Mischung daraus suchen oder ist jeder Kompromiss in der Erziehung ein folgenreicher Weichspüler der ursprünglichen Idee?

Unentschlossen sagte sie: „Bin ich als leibliche Mutter nicht kraft Instinkt zur Erziehung prädestiniert? Weiß denn jede Mutter, was gut und richtig ist für ihr Kind, mehr als alle Psychologen und Soziologen dieser unruhigen Welt zusammen?“

Manche Nacht nahm Anne Kestig das gesamt Paket an Fragen zur Zukunft ihrer Tochter mit ins Bett:

Sicher prägen Gene alle Lebewesen, egal ob Mensch oder Tier. Das steht längst fest. Die Fragen jedoch lauten, wer bringt bei unserer Tochter die meisten Gene ein, meine Familie oder die meines Mannes. Stammen sie mehrheitlich von mir oder meinen Vorfahren?

Wird Elvira meine Schulnoten oder die meines Mannes nach Hause bringen? Er erzählt gerne in von Alkohol geschwängerten Runden von seinen tollen Klausuren. Als Sahnehäubchen folgt dann zumeist, „ich habe stets ohne große Mühen gelernt“. Offen gezeigt hat er mir in all den Jahren nicht ein einziges Zeugnis.

Doch, wie auch immer, unser soziales Umfeld und eine gründliche Schulbildung treiben Elviras Intelligenz voran. Ich denke, sie wird später einen adäquaten Studienplatz finden. Dessen bin ich mir bereits heute gewiss.

Allerdings plagt mich eine große Angst, dass diese unangenehme Neurodermitis, die ich ihr vererbt habe, in den nächsten Jahren stärker zur Geltung kommt, ständig juckt und nach außen sichtbar wird. Irgendwann muss doch Schluss sein mit der Weitergabe von Krankheiten. Hoffentlich in der nächsten Erbfolge.

Das tranceartige Mitzählen, der um Mitternacht weit vom Kirchturm herüber hörbaren zwölf Glockenschläge, verhalf ihr endlich zu tiefem Schlaf.

Zum Schulstart dann, diesem lange ersehnten, neuen Lebensabschnitt, erhielt Elvira von Mama und Papa eine in allen Regenbogenfarben glitzernde, prall gefüllte Schultüte. Obenauf drapiert feine Schoko-Leckereien, darunter viel nützliches, wie nach Farbtönen aufgereihte bunte Malstifte, eine Schreibmappe mit aufgedrucktem Vornamen und unterschiedliche Hefte, wie sie in der Kaufanleitung von der Schule beschrieben waren. Dazu legten Anne und Herbert Kestig eine Blockflöte mit Flötenschule in die Schultüte.

„Wir wollen für unser Kind kein einfaches Plastikinstrument“, sagten die fürsorglichen Eltern vor dem heimlichen Kauf. Sie ließen sich in einem renommierten Fachgeschäft beraten und wählten eine Flöte im oberen Preissegment, aus gleichmäßig gewachsenem Birnbaumholz.

„Birnbaum“, argumentiere der Verkäufer, „erzeugt einen besonders weichen Klang.“

Bereits am zweiten Schultag, nach Elviras überquellenden Erzählungen aus dem Unterricht, lag die Flöte wie zufällig auf dem Wohnzimmertisch.

„Elvira“, Mutter Anne legte ihre Finger auf die Tonlöcher des Instruments, „Flöte spielen hat mir immer sehr viel Freude bereitet. Das macht bestimmt auch dir Spaß. Und, Elvira, musizieren entspannt vom Lernen.“

„Danke, Mama, danke Papa. Die ist schön“, sagte Elvira, legte die Blockflöte vorsichtig auf das Sideboard und naschte Süßigkeiten aus der daneben stehenden Glasschatulle.

Gelegentlich, in unregelmäßigen Abständen, nahm sie die Flöte aus dem Etui, steckte sie zusammen, blies hinein und griff auf die Tonlöcher, wie es in den Grifftabellen der Flötenschule aufgezeichnet war. Nach drei Wochen jedoch legte sie das Instrument in ihre Spielkiste, zu Puppen, Puzzle und anderen ausgemusterten Spielsachen.

„Ich kaufe ihr einen Notenständer, dann muss Elvira nicht in gebückter Haltung üben“, sagte Herbert Kestig rücksichtsvoll und setzte die Idee gleich in die Tat um.

Aber auch dieses Hilfsmittel weckte keine Stürme der Begeisterung. Mutter Anne beobachtete, wie der Notenständer von Elvira gewissenhaft zusammen gefaltet, in das Stofffutteral gesteckt und in den Kleiderschrank des Kinderzimmers aufgeräumt wurde.

Ich muss, nahm sich Anne Kestig vor, unsere Elvira zum Thema Musizieren hinterfragen und eventuell, wenn gewünscht, ihr meine Hilfe anbieten:

 

„Elvira, möchtest du nicht die Blockflöte richtig probieren? In diesem Büchlein, der Flötenschule, sind Noten und Griffe leicht lernbar aufgezeigt. Ich unterstütze dich, helfe dir sehr gerne. Ich kann dir, so du möchtest, die Töne vorsingen.“

„Och nee, Mama, später vielleicht wenn ich groß bin. Ich muss fast jeden Tag für die Frau Lehrerin üben und ich fühle, Flöte liegt mir nicht so sehr.“

„Aber Elvira, ich könnte dir wirklich helfen. Mir brachte musizieren mit der Flöte immer sehr viel Freude. Und du bist

doch mein eigen Blut, müsstest also Musik von mir vererbt bekommen haben.“

„Ich will noch ein wenig malen“, sagte Elvira, verzog sich flink hinter ihren rosaroten Schreibpult und bewegte schwungvoll ihre Malstifte über ein Papier.

Flöte, Flötenschule und Notenständer blieben nach dieser Unterhaltung fein säuberlich aufgeräumt im unteren Regal des Kleiderschrankes, zugedeckt mit einem dicken Winteranorak.

Die Erwartungen ihrer Eltern erfüllte Elvira in der Schule nach den ersten Gewöhnungstagen mit großem Fleiß. Sie lernte bald leicht, ohne Leistungsdruck zu empfinden und entwickelte weder Ängste noch Hemmungen vor neuen Fächern und vor Zeugnissen.

Selbst für die gelegentliche Note „Befriedigend“ hatte Mutter Anne noch ein kleines Lob und so entwickelte sich Elvira zu einer bei allen Lehrerinnen gern gesehenen Schülerin.

Im letzten Jahr der Grundschule stockte der Lerneifer etwas. Eine unüberhörbare Mitschülerin, nicht die beste in der Klasse aber die mit den meisten „Freundinnen“ und die einzige, die bereits mit geschminkten Lippen zum Unterricht erschien, titulierte die „Streberin Elvira“ als “unterirdisch“.

Der Zufall half jedoch über diese nicht motivierende Situation hinweg. Der Vater der unangenehmen Mitschülerin wurde zum Jahresende in eine andere Stadt versetzt. Die „Giftspritze“, wie sie Elvira heimlich nannte, zog mit ihren Eltern weg.

Im folgenden Sommer wurde Elvira wieder von einem etwas unglückliches Erlebnis überrascht. Alle anderen Klassenkameradinnen verabredeten sich ins Freibad.

„Was, wenn die anderen meine Neurodermitis entdecken?“ sagte sie mehrmals leise vor sich hin.

Hatte „Klein-Elvira“ seither die schwieligen und manchmal nässenden Stellen an den Gelenken ignoriert und von Mutter Anne stets sorgfältig eincremen lassen, so trat ab ihrem zwölften Geburtstag die natürliche Eitelkeit in den Vordergrund.

Elvira Kestig bemühte sich vor ihren Mitschülerinnen aller erdenklicher Ausreden, nicht zum gemeinsamen Schwimmen zu gehen und ihre geröteten und rauen Hautstellen erklären zu müssen.

„Brauchst dich nicht zu schämen, Elvira“, versuchte ihre Mutter zu helfen, „ich habe diese Ekzeme auch bereits mein ganzes Leben lang. Vielleicht hilft die Sonne heilen.“

„Ja, Mama, rede nur, du gehst ohnehin nicht ins Freibad. Mir ist das peinlich“, zum ersten Mal begehrte Elvira ernsthaft auf, „diesen doofen Quatsch habe ich von dir geerbt. Ich will nicht die unschönen Dinge von dir haben. “

Zu ihrem dreizehnten Geburtstag schenkten die Eltern Elvira Kestig drei glitzernde Hula Hoop Reifen, einen Gutschein für eine Behandlung bei einer Kosmetikerin „wegen der Pickel, die dich so sehr stören“ und eine Eintrittskarte in den Zirkus Roncalli.

„Freust du dich, Elvilein?“ fragt Mutter Anne.

„Über die Eintrittskarte für Roncalli freue ich mich sehr, Mama. Noch wichtiger ist mir der Besuch im Kosmetikstudio“, antwortete Elvira, dann schaute sie lange ihrer Mutter ins Gesicht und sagte völlig unerwartet für ihre Eltern: „Ich wollte schon länger mit euch darüber reden. Habe aber nie den Einstieg gefunden. Vielleicht ist heute nicht die richtige Gelegenheit doch ich muss es mal sagen: Ich mag meinen Namen nicht besonders! Die anderen in der Klasse haben alle schönere Vornamen. Warum habe ich keinen zweiten Vornamen, dann könnte ich nun auf diesen als Rufnamen ausweichen?“

„Wie, zweiten Vornamen? Elvira klingt doch schön?“ Anne Kestig war sprachlos.

Herbert Kestig schüttelte verwundert den Kopf. Dann sagte er: „Allzu oft hörst du deinen Namen in unserer Gegend nicht. Ich kenne kein Mädchen hier, das diesen Namen trägt. Es gibt Modenamen, wenn den die Lehrerin ruft, steht die halbe Schulklasse auf. Lasst uns lieber deinen Geburtstag feiern als über deinen Vornamen zu diskutieren.“

Nach sprachlosen Minuten stellte Anne Kestig fest: „Wir hatten dir bewusst keinen zweiten Vornamen gegeben.“

Um die sich aufbauende Schlechtwetterzone des Gesprächs auszugleichen fragte sie dann nach: „Welchen Namen hättest du gerne gehabt?“

Ohne zu zögern antwortete Elvira Kestig: „Viola wäre schön, ja, Viola.“

„Dann könnten deine Schulkameradinnen dich foppen: He, Violette“, sagte Anne Kestig und Herbert Kestig packte mürrisch schauend noch einen aus der unteren Schublade drauf: „Und sie würden dich Fragen ob du ihre Geige werden möchtest.“

„Ihr redet doof. Mit euch kann man nicht vernünftig sprechen“, war die knappe Antwort von Elvira und, „ihr seid so was von peinlich, das geht gar nicht.“

„Wir können dich doch Elvi rufen“, Mutter Anne sucht immer noch nach einem positiven Ausgang des Gesprächs.

„Ist mir egal wie ihr den Namen dreht und wendet“, Elvira Kestig diskutierte wie eine Erwachsene, „er gefällt mir einfach nicht, nicht Elvira und schon gar nicht Elvi. Noch viel schlimmer hört sich Elvilein an!“

„Hat dich in der Schule oder auf der Straße jemand ausgelacht?“ fragte Mutter Anne besorgt.

„Nein, Mama, ich möchte nur einen anderen Vornamen. Einen echt coolen!“

Nun brachte sich Elviras Vater wieder ins Gespräch: „Kind, du solltest wissen, wir haben uns damals viele Tage Gedanken gemacht. Wir wollten keinen profanen Modenamen, keinen den man anrüchig verunstalten kann und natürlich einen der uns gefällt, in der Hoffnung, dass er auch dir gefällt.“

„Gefällt mir aber nicht, Papa. Lasst euch doch einen anderen einfallen oder ich frage meine Schulfreundinnen, wie die mich nennen wollen.“ Dieser Satz umhüllte die Geburtstagsfeier mit dunklen Wolken unglücklicher Stimmung und niemand versuchte zu erahnen, wie die nächsten „Feiern“ ausgehen könnten.

Abends, im Ehebett sprachen Elviras Eltern leise über den Geburtstag ihrer Tochter.

„Ehrlich, ich bin heftig gefrustet“, sagte Herbert Kestig und strich sich durch die mittlerweile grau melierten Haare, „die Hula Hoop Ringe ignorierte sie komplett und das komische Getue mit dem Namen finde ich pubertär und blöd. Die flippte ja richtig aus. Die kann mich mal. Zur nächsten Feier bekommt sie ganz platt einen Geldschein. Dann ist gut. Und das mit dem Vornamen, der ihr missfällt, vergesse ich Ihr auch nicht so schnell.“

„Nun sei nicht immer gleich so garstig. Vielleicht ist es der erste Versuch sich abzunabeln. Sie hat uns seither niemals ernsthaft widersprochen. Nimm dir diese Situation nicht zu Herzen. Sie muss ihre eigene Identität finden.“

„Hast ja wahrscheinlich recht. Lass uns jetzt schlafen“, sprach Herbert Kestig im Brustton des traditionellen Familienoberhauptes, der nachdrücklich seinen tief sitzenden Frust ausdrückte, ohne die Situation besprechen zu wollen.

„Einen Satz noch, Herbert“, Anne Kestig schaltete nochmal die Nachttischlampe an. Sie suchte nach einem

Rezept solche Gespräche bereits im Vorfeld zu steuern. „Wenn wir Pech haben, war dies erst der Anfang, Herbert. Seither hat Elvira uns bedenkenlos vertraut. Sie sah in uns, durch ihre Kinderaugen, unantastbare Vorbilder. Nun hinterfragt sie mit ihren dreizehn Jahren kritisch. Das kann, wenn wir nicht überlegt oder nicht ehrlich argumentieren, vor allem aber nicht ernsthaft auf sie eingehen, sehr schnell einen viel zu großen Abstand erzeugen.“

Der ungeliebte Vorname allein blieb nicht der einzige Aufreger in diesen emotional aufgeladenen Jahren.

„Meine Klassenkameradinnen haben mehr Geld für Klamotten“, protestierte Elvira Kestig nachdem sie ihre Schultasche abgelegt hatte, „ich muss alles von meinem bisschen Taschengeld begleichen, den anderen kaufen Eltern und Großeltern die Kleider, unabhängig vom Taschengeld.“

„Aber du kommst doch klar damit. Und wenn es bei dir knapp wird helfen wir dir immer. Ich hatte dir sogar heimlich Geld gegeben, nicht um Papa zu hintergehen, sondern dass er sich nicht aufregt“, versuchte Anne Kestig zu beschwichtigen und wollte ihre Tochter in den Arm nehmen.

„Lass das“, Elvira duckte sich weg, „geholfen, ja, geholfen habt ihr mir. Aber auch nur gegen Nachweis. Du vertraust mir nicht, wenn ich berichte, dass ich selbst ein tolles Sweetshirt kaufte. Keines von deinen geblümelten Oilily-Dingern. Wenn es dann 25 Euro gekostet hat, dann muss ich dir noch den Kassenzettel zeigen. Mein Taschengeld betrachte ich eher wie ein Almosen, nicht als die Möglichkeit selbstständig ein zu kaufen.“

„Mein Gott, Kind...Lass uns nun essen.“

„Nichts „mein Gott“, Mama. Nimm was ich sage endlich ernst. Ich habe sowieso keinen Hunger!“ Dies war der letzte Satz von Elvira Kestig und ihre Mutter wollte diesen Tag nicht mit weiteren Diskussionen aufheizen. Die Tür zum Kinderzimmer, so empfand es Anne Kestig, fiel zum ersten Mal lauter ins Schloss als notwendig.

„Mama, ehrlich,“ sagte Elvira Kestig anderntags laut und rotzig, „ich kann die vier Worte „Urlaub in den Bergen“ nicht mehr hören. Andere Familien fliegen in weit entfernte Kontinente und wir fahren mit dem Auto immer in das selbe blöde Tal. Jedes Jahr den verschwitzten Rucksack auf den Rücken und in dicken Socken in die Wanderschuhe und jeden Abend setzt ihr euch zu anderen Erwachsenen und trinkt Weizenbier.“

„Elvira, du wirst ungerecht!“ Mutter Anne klang frustriert. „Mach uns nicht ständig Vorwürfe. Wenn wir gelegentlich deine Hilfe bräuchten, hast du auch keine Zeit für uns. Außer einem guten Schulabschluss fordern wir jedoch nichts von dir und dies in deinem ureigenen Interesse. Wir mögen dich - aber bleibe fair.“

„Ja, ja, bleibe fair. Etwas besseres fällt dir auch nicht mehr ein. Alle meine Freundinnen dürfen Abends länger weg bleiben. Weißt du was ihr seid? Ihr seid die spießigsten Eltern die ich kenne“, maulte Elvira, verschränkte die Arme vor der Brust und marschierte wie ein Gockel, der einen Konkurrenten vertrieben hat, in ihr Mädchenzimmer.

Hoffentlich, dachte aufgewühlt Anne Kestig, ja, hoffentlich wird mein Kind in späteren Jahren keine ruppige Skandalnudel.

Halblaut, verzweifelt zur Decke schauend, flüsterte sie: „Wie bringe ich dieses Thema meinem Mann bei? Zeigt er für solche Vorwürfe Verständnis? Nimmt er sie ernst?“

Kaum war für Anne Kestig die unruhige Nacht vorbei, schlichen zum sonst stets ruhigen Frühstück, die nächsten Vorwürfe auf die familiäre Bühne.

Elvira Kestig schob mit einer provokanten Handbewegung das Honigbrot über den Tellerrand hinaus auf den Tisch und ließ den Teelöffel mit einem lauten Klirren in die Tasse fallen.

„Was ist los mit dir Elvira?“ fragte Mutter Anne, „ist dir nicht gut heute Morgen? Schreibt ihr heute eine Arbeit oder quälten Hausaufgaben als Alpträume deinen Schlaf?“

„Nichts ist los, meine Klassenkameradinnen bekommen zum Frühstück nicht jeden Tag dasselbe Honigbrot! Die bekommen leckere Müsli!“

„Mag sein Elvira. Aber auch du bekommst von mir ein abwechslungsreiches Frühstück, nicht immer nur Honig und Tee. Jeden Tag liegt eine Banane oder ein Apfel oder anderes frisches Obst auf deinem Teller und zweimal die Woche ein Frühstücksei und viele andere gesunde Dinge.“

Elvira Kestig ging nicht auf die Argumentation der Mutter ein sondern maulte nur: „Die in meiner Klasse nehmen auch kein Pausenbrot mehr mit zur Schule. Die bekommen feine Kindermilchschnitten und Geld um sich noch etwas anderes dazu zu kaufen.“

„Elvira, bitte argumentiere nicht ständig mit ungerechten Vorwürfen. Wir meinen es nur gut mit dir. Und heute morgen bin ich noch nicht auf solch unfaire Vorhaltungen eingestellt.“

„Boh, das darf doch alles nicht wahr sein“, erregte sich Anne Kestig als Elvira das Haus verlassen hatte, „vielleicht bin ich in dieser Minute etwas ungerecht, aber unser Kind ist zur Zeit mächtig gegen den Strich gebürstet! War ich zu meinen Eltern ebenfalls so garstig?“

Dann beruhigte sie sich wieder: „Jedenfalls“, sagte sie laut und schüttelte sich, „isst sie keine Leberwurst zum Frühstück wie mein Mann, Gott sei Dank! Sie mag es gerne süß. Das hat sie von mir, ich mag morgens auch keine Wurst und schon gar keine Leberwurst.“

 

Es folgten Monate, in denen sich Anne Kestig Abend für Abend in den Schlaf weinte. Heimlich, um nicht endlose, wenig hilfreiche Diskussionen mit ihrem Mann führen zu müssen. Aber auch aus Sorge, dass gegenseitige Schuldzuweisungen über Tisch oder Bettlaken geschleudert werden.

Mich beschäftigt nicht nur, sagte sie sich, dass ich kein Gefühl dafür entwickeln kann, wie das gemeinsame Leben mit unserer Tochter weiter geht. Schlimmer empfinde ich, dass ich mir nicht im Klaren bin, ob ich mit der Erziehung alles richtig gemacht habe. Kein Mensch ist fehlerfrei. Doch bewusst fehlgeleitet...

Ein erschöpfter, jedoch unruhiger Schlaf erlöste sie jede Nacht von weiteren Selbstzweifeln.

„Wie lange wird diese Phase wohl dauern“, flüsterte sie tagsüber vor sich hin, „wichtige Trotzphase, Aufbau einer eigenen Identität oder üblicher Prozess einer Abnabelung, sagen die Leute dazu.“

Anne Kestig stemmt ihre Hände gegen den Tisch. „Meist geben diese Schlaumeier unaufgefordert und wenig überlegt ihre Kommentare ab. Doch ich habe meine ganze Liebe in mein Kind investiert und derzeit bekomme ich nur Enttäuschung in Form unflätiger Widerworte zurück. Ist dieses Verhalten in einer normal funktionierenden Familie notwendig? Muss dieses Verhalten bei eigenem Fleisch und Blut sein? Sind Eltern in bestimmten Jahren dazu verdammt den verständigen Prellbock zu geben? Oder vergehe ich in Selbstmitleid?“

Und wieder folgte eine Nacht in der sie ihre Tränen am Schlafanzug trocknete.

Und dennoch, überlegte Anne Kestig, freue ich mich auf die Konfirmation. Unsere Elvira wird dabei auf die Stufe der erwachsenen Christen gehoben und bekommt hoffentlich viele Geschenke, das hebt die Stimmung. Und ich kann, wenn das Förmliche ins Lockere übergeht, gegen Ende der Feier, meine Lieblingslieder auflegen und endlich mal wieder das Tanzbein schwingen. Ist eng, im Wohnzimmer, doch wir kommen immer seltener aus dem Haus.

„Wen sollen wir zu deiner Konfirmation einladen?“ fragte Anne Kestig gut gelaunt ihre Tochter in der Küche beim Zubereiten des Abendbrotes.

Die antwortete abwesend: „Ehrlich, Mama, ich freue mich auf die Geschenke. Wen du einladen magst, ist mir egal.“

„Elvira“, Mutter Anne hob den Zeigefinger, „nage bitte nicht wieder an deinen Fingernägeln. Sie müssen zur Konfirmation gut aussehen! Oder nicht! Und wen wir einladen, das sollte dir nicht egal sein, nicht zu deiner eigenen Konfirmation. Deine Taufpaten jedenfalls sind Pflicht...“

Elvira Kestig unterbrach: „Mama, die Konfi interessiert mich nur geschenketechnisch. Mache halt du und Papa einen euch genehmen Verwandtschaftstreff daraus.“

„Ne, ne, ne, Elvira, du bist mir zur Zeit eine“, Anne Kestig war sprachlos.

Elvira Kestig hatte wohl mit ihren Schulkameradinnen bereits über die Feierlichkeiten gelästert. Sie stampfte wie ein zorniges Kleinkind auf den gefliesten Boden und maulte: „Wir Mädchen alle treffen uns am Sonntag der Konfi, nachmittags um Drei, auf dem Sportplatz, Fußball gucken. Ihr könnt dann mit den Verwandten in aller Ruhe feiern.“

„So geht das nicht, Elvira“, Anne Kestig wurde wütend, „du interessierst dich überhaupt nicht für Fußball. Du bleibst bei uns. Das bist du unseren, meinen und eben auch deinen Verwandten schuld. Punkt!“

„Ob ich mich dann überhaupt konfirmieren lasse? Musste bis jetzt nur Gedichte und Psalmen auswendig lernen.“ Elvira schaute störrisch ihrer Mutter ins Gesicht.

Mutter Anna verschlug es die Sprache. Sie schluckte mehrfach und ging leicht nach vorne gebeugt ins Wohnzimmer zu ihrem Mann, der in einer Zeitung blätterte.

Sie blieb mitten im Raum stehen. Nach einigen Schrecksekunden fand sie ihre Sprache wieder: „Herbert, du hast doch bestimmt zugehört. Sag doch du auch mal was!“ schimpfte sie ihre Mann.

Der schaut regungslos in eine Ecke als würde er denken,alles Weiberkram und sagte kein Wort, einfach nichts.

Anne Kestig stellt noch leise fest, „meine Mutter wurde konfirmiert und ich. Auch meine Tochter sollte vernünftig konfirmiert werden“, und lief aus dem Wohnzimmer. Sie wollte nicht weglaufen und musste dennoch raus. Im Gang zur Küche verbarg ihr Gesicht in den Händen. Sie hielt beide Ohren zu als wollte sie nichts mehr hören, nicht von ihrer ständig aufbrausenden Tochter und gleich gar nichts von der Konfirmation.

Elvira Kestig hatte sich zwischenzeitlich lautlos in ihr Kinderzimmer zurückgezogen und streifte sich voluminöse Ohrhörer über den Kopf.

Anne Kestig setzte sich auf den einfachen Küchenhocker und fragte sich: Welche ihrer Schulkameradinnen bringt diesen dümmlichen Gruppenzwang auf, die Konfirmationsfeier zu schwänzen?

Weshalb haben sie vereinbart, alle gemeinsam auf den Sportplatz zu gehen, Fußball zu schauen? Und dies am einem Sonntag, an dem alle wichtigen Verwandten zu ihrer persönlichen Feier anreisen. Ich kann das kaum glauben.

Alle Gäste bringen Geschenke mit. Dafür muss sie sich doch bedanken. Und überhaupt, war ich je so störrisch? War mein Mann ein solcher Anstandsmuffel?

Hoffentlich ist nicht meine Tochter die Anführerin zu dieser blödsinnigen Idee. Wie sie sich derzeit gibt, könnte ich ihr diese Unkorrektheit zutrauen.

An einem wolkenlosen Sonntag Ende April fand die Konfirmation dann doch statt. Ausnahmslos mit allen Konfirmandinnen und allen Konfirmanden.

Die gesamte eingeladene Gesellschaft der Familie Kestig traf sich gegen Neun. Auch hier keine Absage, die den minuziös geplanten Verlauf der Feier durcheinander gebracht hätte. Verwandte und Taufpaten waren bestens gelaunt.

Elvira Kestig, im halblangen, schwarzen Kleid, weißer Bluse mit Rüschen und einem schwarzen Bolero, stand von der ersten Minute an im Mittelpunkt. Noch war sie zu aufgeregt, um alle Geschenke zu erfassen. Lampenfieber kam auf und quälte sie vor ihrem Auftritt in der Kirche.

Schnell wurden auf den Stufen vor der Haustüre noch Fotos und Videos mit Feiertagslächeln erstellt. Dann gingen alle mit würdigen Schritten gemeinsam zur Kirche.

Die Konfirmanden nahmen direkt vor dem Altar ihren vom Pfarrer zugewiesenen Platz ein, die Eltern in den ersten Reihen und die anderen Gottesdienstbesucher weiter hinten.

Elvira überzeugte, ja überraschte, in der an diesem Tag proppenvollen Kirche, mit auswendig gelernten Psalmen und fließendem Vortrag.

Anne Kestig spürte geradezu körperlich wie sich die tonnenschwere Last als mitfühlender Mutter in Erleichterung auflöste. Das aufgeregt klopfenden Mutterherz pumpte ihr Blut nach der Auftritt ihrer Tochter wieder mit Normaldruck durch die Adern. Allein die leicht geröteten Wangen blieben sichtbar. Aufrecht, stolz saß sie auf der harten Kirchenbank. Plötzlich sagte sie entspannt, mitten im ersten Vers eines alten Kirchenliedes, mit fest gefalteten Händen: „Gott sei dank!“

Kaum hatte der Pfarrer „Amen“ gesagt und der letzte Ton der Kirchenorgel war verklungen, eilte Elvira Kestig nach Hause um die am Morgen nur oberflächlich betrachteten Geschenke und Briefumschläge zu öffnen. Einfache Couverts, bunte Glückwunschkarten und Briefe mit guten Ratschlägen für das Leben enthielten weit mehr Geld als erwartet. Mehr als doppelt so viel, wie sie vorsichtig seit mehreren Wochen hochgerechnet hatte.

„Mama“, flüsterte sie ihrer Mutter zu, „nun kannst du mir helfen ein Girokonto bei der Sparkasse anzulegen.“

Der renommierte Partyservice eines Feinkostgeschäftes hatte ein abwechslungsreiches Buffet vorbereitet, das provokante Thema „Fußballgucken“ war aus Mutters und Tochters Gedanken gestrichen. Alle Verwandten erlebten einen unterhaltsamen Tag und Anne Kestig konnte abends noch ein wenig das Tanzbein schwingen.

Am nächsten Tag, bei dem in diesen Jahren obligatorischen Familienausflug in den Zoo, überraschte Anne Kestig ihre Tochter:

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