Der Politiker

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Das Gymnasium /1925

Im Jahre 1925 schaffte, sowohl Joshua, als auch Wilhelm den Übertritt ins Gauss Gymnasium von Worms. Nun ist es vorbei mit dem Herumtollen an den Rheinauen. Im Gymnasium herrschen strenge Sitten, was besonders bei Franz gut ankommt. Endlich bekommt sein Junge die Härte zu spüren, die ein deutscher Junge braucht.

Wilhelm lebt immer noch in einer geschützten Umgebung. In seiner Familie herrscht kein Mangel. Die Unterstützung für alleinerziehende Mütter wird stets reduziert. Noch haben diese Familien genug zum Essen, aber sonst können sich die Frauen nichts leisten.

Bei Josef läuft das Geschäft mit den Uhren gut. Noch gibt es einen grossen Nachholbedarf. In vielen Betrieben sind die guten Zeiten vorbei. Es kommt zu Entlassungen. Der passive Widerstand gegen die Franzosen ist seit 1923 offiziell beendet, doch er drückt nach wie vor auf die Produktivität und hat zur Folge, dass man international nicht konkurrenzfähig ist. Die direkte Auswirkung ist, dass es einen Überschuss an Arbeitern gibt und das drückt auf die Löhne. Natürlich sind es nicht die Arbeiter, welche bei Josef Uhren kaufen, aber trotzdem, die Käufer werden weniger, die Mittelklasse wird vorsichtiger.

Sogar bei den Beamten wird gespart. Die letzten Lohnerhöhungen vielen spärlich oder ganz aus. Noch kann sich Franz nicht beklagen, seine Stellung im Stadthaus ist nicht umstritten. Ohne den Segen von Franz geht nichts. Das gibt ihm eine geschützte Position, erzeugte aber auch viele Neider.

Im Vergleich zu 1923, zur Zeit der Hyperinflation, waren die Zeiten natürlich noch viel schlechter, nur, die Erleichterung welche eine stabile Währung kurzzeitig brachte, wird nun von der Realität eingeholt. Der Staat kann der Wirtschaft keine Impulse mehr verleihen, er kann nicht mehr Geld drucken wie er will. Franz muss dem Stadtrat ein ausgeglichenes Budget vorlegen, also kommt es zwangsläufig zu Streichung von Projekten und zu Kürzungen. Langsam wirken sich die Sparübungen auf viele Bereiche aus. Lehrer erhalten keine Lohnerhöhung mehr. Die Grösse der Schulklassen nimmt zu, so kann man auf einige Lehrkräfte ganz verzichten. Generell nimmt der Druck auf jeder Stufe zu.

Bei Franz wirkt sich der Kaufkraftverlust nicht gravierend aus, er hat noch Reserven und könnte notfalls noch Aktien verkaufen, aber das versucht er um jeden Preis zu verhindern. Lieber verzichtet er im Schachklub auf ein Bier. Rosa wurde das Haushaltsgeld ebenfalls gekürzt. Sie kocht jetzt mehr Gemüse aus dem eigenen Garten und hinter dem Gartenhaus hat Franz einen Kaninchenstall aufgestellt, so gibt es jeden Monat einen günstigen Sonntagsbraten. Futter für die Kaninchen gibt der Garten genug her.

Im Sommer schliessen die beiden Jungen das zweite Jahr am Gymnasium mit ausgezeichnet ab. Aus diesem Grund lädt Rosa die Goldbergs zu einem Essen ein. Die Auswahl des Menus stellt sie vor Probleme. Sie informiert sich und entschied sich, ein Kaninchen zu schlachten. Zusammen mit feinem Gemüse aus dem eigenen Garten, sollte es auch für Juden essbar sein.

Während die Männer im Garten eine Zigarre rauchen, hilft Maria in der Küche. So können die Frauen sich ungestört über Frauenthemen unterhalten.

«Wollt ihr eigentlich noch Kinder?», fragt Rosa.

«Nein, dem Josef hat der Tod seiner ersten Frau so zugesetzt, dass er das Risiko nicht mehr eingehen will.»

«Das kann ich gut verstehen, ich hatte ebenfalls eine schwere Geburt, deshalb haben wir uns entschieden, dass wir es mit Wilhelm belassen.»

«Ja, in diesen schweren Zeiten ist es eine grosse Verantwortung, Kinder in diese Welt zu setzen. Aber in jüdischen Familien sind doch viele Kinder die Regel.»

«Schon, aber da kommt mir entgegen, dass ich eine Konvertierte bin. Mir ist es recht so, ich war schon zu alt, als ich Josef kennen lernte und vorher hatte ich ja meine Schüler.»

«Vermisst du die Kleinen nicht?»

«Kein bisschen! Die Rolle als Geschäftsfrau sagt mir besser zu».

«Kann ich mir gut vorstellen, ich muss mich jetzt, wo der Wilhelm meistens weg ist, um den Hund und die Kaninchen kümmern. Auch im Garten gibt es viel zu tun. Das füllt mich aus. Mehr brauche ich nicht.»

Kaninchen ist ein gutes Stichwort, es ist Zeit den Braten aus dem Ofen zunehmen.

«Kannst du die Männer und die Jungs rufen», gibt Rosa den Befehl, «die Jungs sollen sich die Hände waschen, ich will nicht, dass sie nach Hund riechen.»

Maria geht nach draussen und gibt den Befehl weiter. Das mit dem Händewaschen hält sie für überflüssig, schliesslich sind die beiden Jungs alt genug und müssen nicht mehr bemuttert werde. Das Händewaschen ist für sie selbstverständlich.

Am späteren Nachmittag verabschieden sich die Goldbergs. Rosa hat es geschafft. Ihr Franz ist mit ihr zufrieden, sie war eine gute Gastgeberin.

«Erstaunlich», stellt Franz fest, «mit Sepp kann man wie mit einem deutschen reden, er weiss recht gut Bescheid, was in der Welt läuft.»

Im September bereitet sich das Quartier auf das Quartierfest, die Kerb vor. Die Kerb ist jedes Jahr der Höhepunkt im Quartierleben. Jeder Verein leistet seinen Beitrag. Die Gymnasiasten des Quartiers haben entschieden, ein kurzes Theaterstück aufzuführen. Wilhelm muss auf Drängen des Vaters mitspielen. Der Druck von Seiten des Vaters wäre nicht nötig, jeder im Quartier weiss, was man von ihm erwartet.

Am ersten Treffen der Gymnasiasten sind zehn Jungen und lediglich vier Mädels anwesend. Ein Lehrer hat die Leitung übernommen und schlägt drei Stücke vor. Entscheidenden Einfluss auf die Auswahl haben die vier Mädels. Sie entscheiden sich geschlossen für einen Liebesschwank. Die vier teilten sich die Rollen unter sich auf, erstaunlicherweise konnten sie sich schnell einigen. Nur zwischen zwei Rollen brauchte es einen Losentscheid. Als die weiblichen Rollen vergeben sind, dürfen die Mädels ihren Liebhaber aussuchen.

Für die Jungs ist das natürlich sehr spannend. Mit Herzklopfen verfolgten sie die Prozedur. Die Gabi entscheidet sich für Willi als ihr Partner. Gabi hat die Rolle der Rivalin im Stück, ist also nicht die Hauptperson. Willi ist am Ende des Stücks, so quasi der Trostpreis. Ihm ist das Recht, so hat er nur kurze Auftritte und muss entsprechen weniger lernen.

Dass die Gabi Müller ihn ausgesucht hatte, war für ihn eine positive Überraschung. Die Gabi gefällt ihm schon lange, nur getraut er sich nicht, sie anzusprechen. Er freut sich schon die ganze Woche immer auf Mittwochabend, wenn sie zusammen proben. Noch wird der Text nur gelesen. Die letzte Zeile macht Willi jedes Mal nervös, die beiden küssen sich! steht da.

Nach einigen Probewochen beginnt man, die Handlung auf einer kleinen Bühne zu proben. Die Kussszene wird meistens nur angedeutet, aber einige Male berührte Gabi seinen Arm. Jedes Mal lief Willi ein Schauer durch seinen Körper.

Gabi ist die Tochter eines Bahnarbeiters. Zur Zeit des Bahnstreiks hatte sie es nicht leicht. Das Geld reichte zu nichts. Gabi musste immer im gleichen Rock zur Schule gehen und Fleisch gab es nur am Sonntag und manchmal noch am Montag, wenn es am Sonntag Reste gab. Sie ist aber nicht die einzige. Auch wenn ihr Rock nicht der neusten Mode entsprach, findet Willi dass sie sehr gut aussah.

Im Lauf der Proben lernten sie sich immer besser kennen. Mittlerweile kann er mit ihr reden wie mit einem Kollegen ohne gleich rot anzulaufen. Sie scheint Willi zu mögen, was ihm zusätzlich Bammel für die bevorstehende Kussszene einbrockte.

«So», erklärte der Lehrer, «ab heute spielen wir richtig, wie bei der Aufführung.»

«Was war den das?», fragte der Lehrer, «das soll ein Kuss sein? Bitte nochmals, aber mit etwas mehr Gefühl!»

Willi wurde ganz rot im Gesicht, zum Glück ist das Licht etwas duster. Beim zweiten Versuch übernimmt Gabi die Initiative und zieht Willi zärtlich, aber bestimmt an sich. Er fühlte wie ihre Brust gegen seine drückte, ein unglaublich glücklicher Moment. Nun löste sich auch bei ihm die Anspannung und er wird etwas lockerer.

Die Theatervorstellung wird ein Erfolg. Nachdem der Vorhang geschlossen wurde, schaut er Gabi glücklich in die Augen, sie strahlt. Nur langsam lösen sie ihre Umarmung.

«Darf ich dich zur Kerb begleiten», fragt Willi mit klopfendem Herzen.

Ohne zu antworten nimmt sie ihn beim Arm und führt ihn nach draussen. Sie schlendern gemeinsam durch die vielen Besucher der Kerb. Er spendierte ihr ein Lebkuchenherz, zu mehr reichte sein Taschengeld nicht, denn er spart seit Wochen für ein Fahrrad, das er kaufen will.

Gegen zehn Uhr muss Gabi nach Hause, sonst kriegt sie Ärger mit ihren Eltern. Willi begleitet sie bis vor die Haustüre. Dort verabschiedet sich Gabi mit einem echten Kuss, diesmal ist nichts gespielt. Sie verabreden sich für nächsten Mittwochabend, obwohl die Proben beendet sind, auch nach der Kerb bleibt der Mittwochabend den beiden.

Mutige Zeitgenossen /1927

In den Nachrichten meldet der Sprecher, dass ein Amerikaner namens Charles Lindbergh in New York zu einem Flug gestartet ist, welcher ihn non-Stopp nach Paris führen soll. Seit er vor drei Stunden Neufundland passiert hatte, gibt es keine Sichtung des Flugzeugs, - niemand weiss, wo sich das Flugzeug befindet.

«Wir berichten sobald wir etwas Neues erfahren.»

«Das ist schon toll», findet Franz, «wenn auf der Welt was Spannendes geschieht, so ist man dabei. Die berichten direkt vor Ort.»

Nur widerwillig fährt Franz mit dem Fahrrad zur Arbeit. Viel lieber würde er den Flug von Lindbergh verfolgen. Der ist schon mutig, besonders wenn man bedenkt, dass er allein im einmotorigen Flieger sitzt. Wenn der Motor streikt, ist er verloren. Da muss er aufs Glück hoffen, es gibt nicht viele Schiffe im Atlantik.

 

Als er abends endlich Feierabend hat, rast er so schnell wie möglich nach Hause. Wilhelm hat das Radio bereits eingeschaltet und informiert seinen Vater über die neusten Meldungen. Seit mehreren Stunden gibt es keine verlässlichen Meldungen mehr. Ein Schiff will Motorengeräusche gehört haben, doch die Position des Schiffes liegt viel zu weit nördlich. Wenn die Meldung stimmt, so hat sich Lindbergh tüchtig verflogen.

Im Moment hält die Welt den Atem an und bangt um diesen verrückten Amerikaner. In Irland und Schottland haben sich zahlreiche Reporter eingefunden und suchen nach Lindbergh. Mit Feldstechern suchen sie den Himmel ab oder lauschen auf Motorengeräusche. Sie haben kleine Telegrafen dabei und könnten eine Sichtung sofort an ihre Zeitung durchgeben.

Dann endlich die erlösende Nachricht, in Südirland hat ein Reporter, das Flugzeug gesichtet. Alles scheint in Ordnung, er fliegt jetzt die irische Küste entlang.

«Ich will auch Pilot werden», meint Wilhelm.

«Das hat noch Zeit», erklärt sein Vater, «fliegen ist noch zu gefährlich! Zuerst solltest du was Anständiges lernen, danach sehen wir weiter.»

Inzwischen hat Lindbergh Irland verlassen. Die Pause wird genützt. Rosa serviert das Abendessen.

Vater und Sohn sitzen wie auf Nadeln beim Nachtessen, doch Rosa lässt sich Zeit. Endlich, Rosa serviert den Kaffee. Das Radio darf wieder eingeschaltet werden. Sie haben nichts verpasst, die Welt wartet immer noch darauf, dass Lindbergh über der Südküste von England auftaucht.

Dann endlich die Nachricht, ja er hat England erreicht. Alles verläuft nach Plan. Paris ist nicht mehr weit. Eigentlich wäre es Zeit zum Schlafen, doch Franz erlaubt Wilhelm bis zur Landung in Paris aufzubleiben.

Um zehn Uhr zwanzig meldet der aufgeregte Reporter, dass das Flugzeug in einer grossen Kurve die Landebahn ansteuert. Die Polizei muss die zig tausend Zuschauer im Zaun halten. Die wollen vor Begeisterung die Landebahn stürmen. Um zehn Uhr vierundzwanzig setzt das Flugzeug auf der Landebahn auf und rollt aus. Die Leute jubeln.

«So jetzt ab ins Bett», befiehlt Franz und Wilhelm gehorcht. Er musste sich zwingen, nicht in der Stube einzuschlafen, doch dieses Ereignis durfte er nicht verpassen. Morgen in der Schule würde es das Thema sein.

Der Flug von Lindbergh ist noch lange das Thema Nummer Eins in diesem Frühjahr. Die Begeisterung der Leute für die Fliegerei ist enorm. Es hilft über die Sorgen im Alltag hinweg. Die Zahl der Arbeitslosen ist weiter im steigen. Das Geld wird knapp und der Lebensstandard sinkt beinahe auf das Vorkriegsniveau ab. Der Staat hat kein Geld mehr und der Export wird schwächer. Noch gäbe es Nachholbedarf bei Konsumgütern. Radios und Grammofone wären nachwievor gefragt, doch den meisten Leuten fehlt es am Geld, für solche Dinge. Zuerst muss der Magen satt sein, erst dann kann man an Luxusartikel denken.

Optimistisch beobachtet Franz den Aktienmarkt, seit der passive Widerstand gegen die Franzosen offiziell ausgesetzt wurde, rentiert die Sodafabrik etwas besser. Noch steigt der Kurs nur langsam, denn nicht alle Arbeiter haben ihren Boykott beendet. Immerhin steigt der Kurs wieder und sie zahlen regelmässig Dividenden. Diese investiert Franz sofort in neue Aktien.

Das Leben in Worms geht seinen gewohnten Gang. Optimistisch feiert man den Jahreswechsel 1928. Diesmal haben die Goldbergs die Familie Wolf eingeladen. Sein Uhrengeschäft läuft gut und zur Überraschung von Franz, serviert Maria einen Schweinebraten. Josef hält nur noch an jüdischen Feiertagen die Tradition am Leben, dann besucht er auch noch die Synagoge.

Am sechsten Januar ist die Stube bei der Familie Wolf gefüllt. Am Radio wird der Boxkampf von Max Schmeling um die Europameisterschaft übertragen. Das ist natürlich für Männer ein Grossereignis. Der Jubel ist gross, als der Reporter den Sieg von Max verkündet, der Gegner liegt am Boden.

Eine kleine Episode am Rand trübt die Stimmung bei Franz. Ein Nachbar ist wieder gegangen, als er bemerkte, dass die Goldbergs in der Stube sitzen und die Übertragung mitverfolgen.

«Was hatte der?», will Rosa wissen.

«Der will nichts mit Juden zu tun haben.»

«Warum?»

«Das ist einer von diesen Nationalsozialisten, die halten sich für etwas Besseres. Jetzt kommen sie auch nach Worms, ich dachte, die gibt es nur in München.»

«Sind die gefährlich?»

«Ich denke nicht», meint Franz, «das ist nur so eine Modeerscheinung, die haben kein Programm, sie sind nur gegen alles.»

Damit ist das Thema vergessen, schliesslich muss der Sieg von Max gefeiert werden. Sein Biervorrat schmilzt, aber er reicht.

«Das Radio kommt uns langsam teuer zu stehen», bemerkt Rosa beim wegräumen der Bierflaschen, «ich bin heil froh, dass sich keiner übergeben musste».

«Wegen ein paar Flaschen Bier, das macht doch nichts. Die Feier war auf jeden Fall lustig.»

«Schon gut, ich meine ja nur.»

«Manchmal muss man investierten», meint Franz, «ich will für den Stadtrat kandidieren und ein solcher Abend bringt Stimmen.»

«Hast du zu wenig Arbeit?»

«Bedenke, du bist dann Frau Stadtrat, das tönt doch gut oder.»

«Wenn es den sein muss, meinetwegen.»

«Die Wahlen sind erst im Mai, die im Schachklub haben mich gefragt. Die Liberale Partei braucht noch ein paar Kandidaten, vier bisherige treten nicht mehr an.»

Rosa spielt die entrüstete, doch insgeheim ist sie mächtig stolz auf ihren Franz.

Die nächsten Wochen machte Franz Wahlkampf. Er zeigt sich in den Kneipen des Quartiers. Seine Aufgabe ist es, die Wähler in seinem Quartier zu gewinnen. Gar nicht so einfach, denn er ist nicht der typische Kneipengast. Er beginnt sehr vorsichtig und hört nur zu, bis er langsam herausfindet, was die Leute hier bedrückt.

Ein Thema ist der kalte Winter. Noch nie war es in Worms so kalt wie im Februar 1929. Am Fastnachtsdienstag sank das Thermometer auf minus 24 Grad. Der Rhein hat schon eine dünne Eisschicht und friert schliesslich ganz zu.

Schiffe werden im Eis eingeschlossen und müssen frei gesprengt werden. Nachdem das Eis so fest geworden ist, dass man es ohne Gefahr betreten kann, trifft sich die Bevölkerung auf dem Rhein. Es herrschte Volksfeststimmung. Man kann zu Fuss auf die andere Flussseite flanieren. Der Rhein zieht viele Leute aus der Umgebung an. Das darf man nicht verpassen, das erlebt man nur einmal im Leben. Der gefrorene Rhein ist das einzig Interessante in diesem kalten Winter. Die Leute frieren und sie müssen viel mehr Geld zum Heizen der Wohnung ausgeben. Die Stadt hatte mit geborstenen Wasserleitungen zu kämpfen. Ausgaben die so nicht vorgesehen waren.

Rosa sehnt die Wahlen herbei. Franz kommt zu oft leicht betrunken nach Hause. Als sein Name offiziell auf der Liste der Liberalen Partei auftaucht, muss er auch einige Runden bezahlen, das geht ins Geld. Diesmal muss er sich die Dividenden auszahlen lassen, sonst hätte er Rosa das Haushaltsgeld noch mehr kürzen müssen.

An Versammlungen seiner Partei hält er Vorträge über die Stadtfinanzen und welche Projekte unbedingt bevorzugt werden müssen. Dabei kommt er oft in einen Notstand. Was die Bürger in den Kneipen wollen, entspricht nicht dem, was die Parteiführung hören will. Die müssen ihre grössten Spender bei Laune halten. Deshalb prüfen sie sein Manuskript vor jedem Vortrag. Zum Glück sind an den Parteiveranstaltungen nie die Leute aus den Kneipen dabei, so kann er die Parteilinie ohne Widerspruch vertreten.

Die wichtigsten Streitfragen sind, ob man die traditionelle Lederindustrie weiter begünstigen will? Die Lederverarbeitung gerät durch neue Materialien immer mehr in einen harten Konkurrenzkampf. Die Bauern wünschten sich einen besseren Hochwasserschutz. Ihre Felder werden regelmässig überschwemmt und es gibt einige, die meinen, dass selbst die Stadt nicht mehr vor Hochwasser sicher ist. Da müssen einige Stadträte lachen. Worms gibt es seit über tausend Jahren, da ist noch nie was passiert. Die Bauern verweisen auf die bedenkenlos Abholzung der Wälder, welche deshalb ihre Schutzfunktion nicht mehr wahrnehmen können. Diese Leute werden als Schwarzseher abgekanzelt. Die Gelder kann man besser in der Erschliessung einer neuen Industriezone investieren. Es gibt Interessenten aus der chemischen Industrie, welche in Worms ein neues Werk errichten möchten. Chemisch Industrie, das hat Zukunft, da sind sich alle einig. Deshalb ist ein Projekt welches das Industrieland, durch einem Kanal mit dem Rhein verbinden soll, das Lieblingsprojekt der meisten Parteifreunde. Zumindest in diesem Punkt dürfte er Unterstützung in der Kneipe finden, denn Industrie bedeutet Arbeitsplätze und die kann man gut brauchen. Wenn dadurch noch die Aktien der Eigentümer steigen, profitiert er noch zusätzlich.

Der Kampf um die freien Stadtrat Sitze geht im Wahlkampf um die Reichstageswahl unter. Dieser Wahlkampf dominiert in den Zeitungen und natürlich auch am Radio. Die NSDAP nützt das Radio für ihren Wahlkampf. Franz hat vorgeschlagenen ebenfalls im Radio Aufrufe zu bringen, doch die Parteileitung ist dagegen. Es fehle ein Konzept und auch Geld ist nicht vorhanden. Erst drei Wochen vor dem Abstimmungstag versuchen sie, bei einer Radiostation eine Diskussionsrunde direkt zu übertragen. Doch die Radiostation winkt ab, alle freien Termine sind von der NSDAP belegt, da sei nichts zu machen.

Mit jedem Tag den die Wahl näher rückt, sinkt die Zuversicht von Franz. Täglich hört er, was die Nationalsozialisten ihren Wähler versprechen. Da kann das eigene Programm nicht mithalten.

Der Wahltag ist eine riesige Enttäuschung. Seine Partei verliert mehrere Sitze, so dass selbst zwei bisherige Stadträte nicht wiedergewählt wurden. Rosa hatte grosse Mühe, Franz wieder aufzupäppeln. Durch die neue Parteienverteilung gerät auch seine Stelle als Steuerbeamter ins Wanken. Noch ist er angestellt und die neuen Mitarbeiter respektieren ihn, sie sind auf sein Fachwissen angewiesen.

Für Willi ist der Wahlausgang eine Katastrophe. Die Mitschüler hänseln ihn, er verliert gewaltig an Ansehen. Ab jetzt hält nur noch Joshua zu ihm. In den Pausen sitzen die beiden meistens hinter einem dicken Baum im Schulhof. Das Absondern hatte nicht nur negative Folgen, jetzt konzentriert er sich voll auf die Schule. Seine Noten werden noch besser. Dass er das Abitur schafft, steht ausser Zweifel. Bis zur Prüfung sind es noch gut zwei Jahre.

Im Unterricht ist es nicht einfach. Die Rädelsführer der Klasse versuchen ihn bei jeder Gelegenheit lächerlich zu machen. Dank der Unterstützung der Mitläufer gelingt es meistens. Die Lehrer haben wenige Möglichkeiten einzugreifen, die Rädelsführer sind nicht dumm und wissen genau, wie weit sie gehen dürfen.

Im Mai ist der Name Nobile in aller Munde. Sein kühner Plan, mit einem Luftschiff zum Nordpol zu fliegen, ist das grosse Ereignis. Das Radio berichtet bereits über die Vorbereitungen. Natürlich hätten die deutschen Reporter lieber, wenn Nobile ein Deutscher wäre, doch Nobile wird von Mussolini grosszügig unterstützt. Schon lange schielen die Mitglieder der NSDAP, welche am Radio die Führung übernommen haben, nach Italien und bewundern die kompromisslose Art, wie Mussolini die Massen begeistert. In Deutschland ist alles nicht so einfach.

Am 23. Mai ist es soweit. Das Luftschiff Italia hebt in Spitzbergen ab und steuert auf Kurs Nord. Wieder müssen sich die Hörer gedulden. Nobile hat ein Kurzwellensender an Bord, doch will er ihn nur im Notfall benutzen. Die Reporter auf Spitzbergen können ausser technischen Daten nichts Aktuelles melden. Trotzdem verfolgt ganz Europa, was die Reporter aus Spitzbergen berichten.

Da es keine Neuigkeiten gibt, wurde ein Loblied für Mussolini angestimmt. Zwischen durch unterbricht der Reporter sein Loblied auf Mussolini und meldet die aktuelle Position des Luftschiffs, da keine aktuellen Daten vorliegen, hält sich der Reporter an den theoretischen Zeitplan, welcher Nobile ihm vor dem Start übergeben hat.

«Jetzt müssten sie am Nordpol sein!», verkündet der Reporter, «es ist der 24. Mai Ortszeit verkündet er. Am Pol kann man nur in Tagen rechnen, eine lokale Uhrzeit gibt es nicht. Die ändert je nachdem, auf welche Seite man sich vom Pol entfernt.»

Diese Aussage muss Wilhelm seiner Mutter erklären. Sie kann die Zusammenhänge nicht verstehen. Am Gymnasium hat der Lehrer das Thema Pole rechtzeitig in den Lehrplan genommen. Das Interesse der Schüler ist gross und er hatte wieder einige Stunden ohne grosse Vorbereitung. Er muss nur Zeitung lesen, was er ja sowieso machen würde.

 

«Jetzt müsste Nobile bereits auf dem Rückweg sein», verkündet der Reporter, ob das tatsächlich so ist, weiss er nicht.

Einige Stunden später klingt die Stimme des Reporters besorgt.

«Die Italia sollte jetzt zurück sein. Mit Verspätung muss man bei einem solchen Unternehmen rechnen. Die Expedition 1923 hatte auch Verspätung.»

Am 26. Mai ist es jedem klar, es muss etwas passiert sein. Nun melden auch die Zeitungen in grossen Buchstaben: «Wo ist Nobile, wo ist die Italia?»

Es gibt keine Neuigkeiten. Noch ist der Reporter auf Spitzbergen, doch er konnte immer nur das Gleiche berichten. Von Nobile und seiner Italia gibt es nichts zu berichten. Sie sind in der Eiswüste verschollen!

Am 2. Juni meldet sich der Amateurfunker N. R. Schmidt bei der schwedischen Zeitung: «Ich habe einen Funkspruch von Nobile Empfangen!»

Diese Meldung verbreitete sich wie ein Lauffeuer in Europa. Die Italiener organisieren eine Rettungsaktion. Keine leichte Aufgabe. Es werden geeignete Flugzeuge gesucht. Inzwischen empfangen weitere Funkamateure das Signal und man kann daraus die ungefähre Position von Nobile berechnen. Inzwischen gibt es auch die ersten Informationen über die Situation der Überlebenden. Nobile ist verletzt und ein weiteres Mitglied der Expedition ist tot. Noch schlimmer! Sechs Mann wurden nach dem Absturz wieder in die Höhe gerissen. Nachdem zehn Männer und einiges Material, beim heftigen Aufprall auf dem Eis, aus der Gondel geschleudert wurden, war die Italia zu leicht und stieg mit grosser Geschwindigkeit in die Höhe, bis sie von Nobile Leuten nicht mehr gesehen wurden.

Der Funkkontakt muss auf ein Minimum reduziert werden. Die Batterien haben nur noch eine geringe Kapazität. Erst am 12. Juli kann der schwedische Pilot E. Lundgborg sein Flugzeug bei den Überlebenden landen. Er bringt Proviant und warmen Decken. Nur Nobile kann ausgeflogen werden, die restlichen Überlebenden müssen noch auf dem Eis ausharren. Ein russischer Eisbrecher kann sie schliesslich retten. Von der Italia hat man nie mehr etwas gefunden. Die sechs Abenteurer blieben für immer verschollen.

Die Ereignisse mit der Italia und Nobile haben für Willi positive Auswirkungen. Da er immer bestens informiert ist, steigt sein Ansehen in der Klasse. Dass dabei die enge Freundschaft zu Joshua etwas in den Hintergrund gerät, bemerkte er kaum. Er kann sich so für die Luftfahrt begeistern und dazu zählten auch die Luftschiffe.