Ausbildung der Ausbildenden (E-Book, Neuauflage)

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3.2Die bildungsbiografische Methode

«Das Leben kann nur rückwirkend verstanden werden. Es muss aber vorausschauend gelebt werden.»

Søren Kierkegaard

Es ist damit zu rechnen, dass im Zuge des «lifelong learning» im Bereich der Aus- und Weiterbildung von Erwachsenen die Heterogenität von Teilnehmenden bezüglich Herkunft, Alter, Potenzial, Motivation etc. steigt. Einzelne Lebensverläufe werden trotz normativer Vorgaben variabel und kritische Lebensereignisse, Krisen und Brüche begleiten solche Lebensentwürfe; sie stellen damit hohe Anforderungen an Lehr- und Lernfähigkeiten in den Bildungsprozessen aller Beteiligten.

Unter Biografie verstehe ich hier die Gesamtheit aller Ereignisse, Erfahrungen und Handlungen, welche bewusst oder unbewusst unser Denken, Fühlen und Handeln beeinflussen. Es handelt sich also eher um die durchaus auch subjektiv gefärbte «Lebensgeschichte» als um den aus äusseren Daten zusammengesetzten «Lebenslauf» (vgl. Behrens-Cobet/Reichling 1997, Gudjons et al. 2008, Alheit in: Lenz 1994).

Folgende Grafik zeigt Aspekte auf, welche für unsere Bildungsbiografie bedeutsam sein könnten, wobei ich hier – auch im Gegensatz zum Begriff «Lernen» – unter Bildung nicht (institutionell) geplante und organisierte Prozesse, sondern bewusste und unbewusste, umfassend prägende und gestaltete Erfahrungen und Erlebnisse verstehe.

BILDUNGSGESCHICHTEN IM KONTEXT


In der dreijährigen berufsbegleitenden Ausbildung zum/zur Erwachsenenbildner/in an der aeB Akademie für Erwachsenenbildung arbeiteten Teilnehmende mit Lehrenden zu Beginn der Ausbildung während sechs Tagen in folgenden Schritten an der eigenen Bildungsbiografie, deren Austausch und einem daraus resultierenden persönlichen Lernvertrag als Extrakt und Konglomerat. Sie formulierten Ziele zusätzlich zu den curricularen Ausbildungszielen und dem formalen Ausbildungsvertrag vor allem im Bereich personaler und sozialer Kompetenzen; diese Ziele evaluierten Lernende, Mitlernende und Kursleitende nach einer definierten Ausbildungsphase von Lernenden (u.a. durch einen Reflexionsbericht), was dann wiederum zu neuen Zielformulierungen führte.

Diese Art von Lernen könnte man auch als «Kontraktlernen» (vgl. Füglister 1997, S. 207) bezeichnen.

Schritte zur Erarbeitung der Bildungsbiografie

1.Erinnern an prägende Erfahrungen, Erlebnisse, Menschen, Orte und Institutionen

2.Individuelles Vorbereiten auf mündliche Präsentation der Biografie

3.Mündliches Präsentieren in Kleingruppen

4.Schreiben der Bildungsbiografie

5.Analysieren der Bildungsbiografie in Kleingruppe (Erkenntnisse ableiten)

6.Lernen in Institutionen – Reflexion

7.Erfassen der persönlichen subjektiven Lernkonzeption

8.Erstellen des Lernvertrags für das persönliche Lernen in der Ausbildung

9.Einführung ins Lerntagebuch

10.Verknüpfen der Bildungsbiografie mit psychologischen, soziologischen und didaktischen Erkenntnissen im Verlaufe der Ausbildung

Beispiel eines persönlichen Lernvertrages einer Studierenden eines aeB-Diplomkurses in Erwachsenenbildung:

Lernkonzeption

●Ich lerne, sobald die Richtung oder das Thema genügend klar definiert ist und ich – um den Überblick zu behalten – meine Sicht der Dinge nach meinem Dafürhalten verbessern und erweitern kann.

●Ich lerne, indem ich Neues mit meinem bestehenden Denken und meinen Erfahrungen verknüpfe. Gelingt dies nicht, löst dies oft Verwirrung oder gar Krisen aus.

●Bestehendes und zu erarbeitendes Wissen/Können anderen weiter zu vermitteln, motiviert mich sehr. In diesem Prozess lerne ich selber sogar mehr als die «Empfänger».

●Ohne realistische Zielvorgaben meinerseits (zur Verfügung stehende Zeit, Stofftiefe/Fertigkeit, die erreicht werden soll) besteht die Gefahr, dass ich mich in Details verliere oder die Lernarbeit vor mich hin schiebe.

●Erfolg motiviert mich stark.

Lernziele

Entwicklung meiner personalen Kompetenz

●Bei Meinungsdifferenzen will ich die Herausforderung annehmen, die Position des Gegenübers sachlich wahrzunehmen und meine eigene Position ebenso sachlich darzulegen.

●Betrifft mich eine bestimmte Situation emotional, will ich dies in angemessener Weise innerhalb der Gruppe und gegenüber Einzelnen kommunizieren.

Entwicklung meiner sozialen Kompetenz

●Ich will in der Lerngruppe rasch in eine «Mitkämpfer»-Rolle gelangen und transparent punktuelle Führungsverantwortung übernehmen, ohne dabei dominant zu wirken; d. h., mein Verhalten soll stets die Zusammenarbeit fördern und Beiträge anderer zum Tragen bringen.

Lernmethoden

●Indem ich für mich konkrete Lernzielkontrollen durchführe und sowohl von der Lerngruppe als auch von ausgewählten Mitlernenden ein konkretes Feedback verlange, schaffe ich Klarheit über meinen Lernfortschritt.

●Für grössere Lerneinheiten will ich mir einen Lernplan erarbeiten und überprüfbare Zwischenziele formulieren.

●Wenn ich Informationen vermittle, soll dies kurz, klar und prägnant geschehen. Wann immer möglich, will ich meine Aussagen mit visuellen Mitteln unterstützen.

●Im eigenen Berufsfeld will ich ein grösseres Lernprojekt realisieren (z. B. ein Ausbildungs- oder Weiterbildungskonzept).

Die Grundlagen der biografischen Methode entstammen einer Lebensphilosophie, die anfangs des 20. Jahrhunderts «der Vernunft» «das Leben» entgegengestellt hatte. Die Erwachsenenbildung strebte damit die Rekonstruktion sozialer und politischer Wirklichkeit aus Sicht des Individuums an.

Im austauschenden Nachvollzug der Biografien anderer spiegelt sich gemäss diesem Konzept stets auch die eigene Erfahrung. Erinnerungen sind persönliche Mythen, die sich in Lebensgeschichten äussern. Die Verbalisierung dieser Geschichten durch Erzählen oder Verschriftlichen ordnet die Erinnerungen und löst in einem Gestaltungsakt reflexive Prozesse aus. Dafür braucht es selbstverständlich interessierte und aktive Zuhörer/innen und Leser/innen.

Im Zuge der aufkommenden Kognitionspsychologie wurde bildungsbiografische Arbeit zusehends von metakognitiven Modellen abgelöst, die mehr das individuelle Lernen als die Bildung im Kontext der Gesellschaft fokussieren.

Trotzdem scheint mir der bildungsbiografische Zugang nach wie vor gültig und relevant angesichts der Zunahme gesellschaftlich bedingter individueller Risikolagen, etwa bei Statuswechseln als sogenannte «critical life events», angesichts der grossen Verschiedenheit Lernender und der sich schnell verändernden gesellschaftlichen Sozialisationsbedingungen.

Der Umgang mit wachsender Parallelität von unterschiedlichen Lebensmilieus könnte zu einer unserer grossen zukünftigen Herausforderungen werden.

Für Lehrende mit ihren annähernd 15 000 Stunden Unterrichtserfahrung als Schüler/innen (ohne Studienzeit) ist es meiner Ansicht nach unerlässlich, die institutionelle Bildungsbiografie zu bearbeiten (vgl. Forneck 1987, S. 100).

Ich mag mich gut an die Erkenntnisse und Erfahrungen einer äusserst altersheterogenen Biografiegruppe innerhalb eines Ausbildungsganges erinnern, in welcher sich durch die erzählten und geschriebenen Geschichten (von «Kindheit im 2.Weltkrieg» über «68-er-Erfahrungen» bis zum «lebensästhetischen Individualismus der 90-er Jahre») individuelle Lebensbedingungen mit historischen Bezügen mischten und einzelne Menschen damit sozusagen zu wandelnden Zeitdokumenten wurden.

Am stärksten zeigte sich dieses Phänomen anhand des Vergleichs von weiblichen Biografien.

Die diesbezügliche Auseinandersetzung der Kursteilnehmer/innen hat gemäss ihren eigenen Aussagen ihren Horizont und ihr Verständnis für menschliche Geschichten in ihrer historisch-politischen Dimension erweitert.

Freilich braucht biografische Arbeit Zeit, die in schnell abrufbaren Ausbildungsmodulen eher fehlt.

Innerhalb neuerer didaktischer Ansätze (z. B. der subjektiven Didaktik nach Kösel, 1997) taucht der Begriff «biographische Selbstreflexion» wieder als Möglichkeit auf, «die eigenen Realitätstheorien kennenzulernen» (Kösel 1997, S. 273).

«Ich untersuche also, wie ich den Lehrstoff selbst konstruiere, welche Muster in mir meine Wahrnehmung steuern und welche Konstruktionen und Beschreibungen von Erkenntnis und im Vergleich zu Lernenden und auch zu anderen Lehrenden ich anfertige» (Kösel 1997, S. 273).

Dieser Zugang erinnert an metagkognitive Modelle, an Senges Definition der «mentalen Modelle» oder das Konzept subjektiver Theorien (siehe 3.5 in diesem Kapitel).

«Mentale Modelle sind tief verwurzelte Annahmen, Verallgemeinerungen oder auch Bilder und Symbole, die grossen Einfluss darauf haben, wie wir die Welt wahrnehmen und wie wir handeln. Sehr häufig sind wir uns dieser mentalen Modelle oder ihrer Auswirkungen auf unser Verhalten nicht bewusst.» (Senge 2017, S. 8)

3.3«Produktives Scheitern» – Reflexion von Scheitererfahrungen

Einmal versuchen, scheitern. Wieder versuchen, wieder scheitern. Besser scheitern. (Samuel Beckett)

Erinnern Sie sich an Alexis Sorbas am Ende des berühmten Filmes, als sein Traum geplatzt war und das ehrgeizige Projekt der Seilbahn vom Berggipfel zum Meer in sich zusammenfiel?

Politische Denker der Aufklärung (Hobbes, Locke) beschäftigten sich mit der Gestaltungskraft des Menschen, die zusehends «perfektibel» (Zschirnt 2005, S. 37) wurden, Scheitern mutierte dadurch zum individuellen Konflikt. Die Ideen der Aufklärung beeinflussten Biographiekonzepte wie auch die Industrialisierung und Verstädterung des 19. Jahrhunderts oder die Medialisierung des öffentlichen und privaten Lebens im 20. und 21. Jahrhunderts (vgl. Zahlmann/Scholz 2005, S. 8). Biographische «Normalität» wurde und wird in alters- und geschlechtsspezifischer Prägung konstruiert (Erwerb, Ruhestand, Geschlechterrollen, Formen des Konsums und der Freizeit).

 

Noch unsere Elterngeneration sprach hin und wieder von gescheiterten Existenzen (meist Männer, bei Frauen wurde mit demselben Unterton gesprochen, wenn sie als «gefallen» bezeichnet wurden). Die geschlechtsdifferenten Lebensläufe als Stufenalter (Aufstieg, Höhepunkt, Abstieg) boten kaum Raum für Überraschungen oder Abweichungen. Das Diktat sozialer Erwartungen definierte die Norm und damit auch das Scheitern als deren Nichterfüllung (vgl. Zschirnt 2005).

Heute werden wir immer «perfektibler» – zwar nicht mehr ganz im Sinne der Aufklärung, wo der Mensch sich seines Verstandes bedienen sollte und gleichzeitig moralisch belehrbar war.

Was früher (allgemeines) «Schicksal» war, ist heute (individuelles) «Problem»; wir haben nicht nur grosse Aussichten, sondern müssen auch Brüche, Unvorhergesehenes, erzwungene Richtungswechsel, Orientierungswechsel und Stillstand aushalten.

Wenn man alles aus sich machen kann, kann man auch wenig oder nichts aus sich machen; wer alles aus sich machen soll, ist vielleicht bereits schon gescheitert.

Die griechische Tragödie machte das Theaterpublikum jeweils zu Zeugen des tosenden Unterganges des Protagonisten, heute können wir alle Helden werden.

Misslingenserfahrungen sind alles andere als angenehm in dem Moment, in dem sie geschehen. Aus der Retrospektive werden die Erfahrungen unter Distanznahme und Reflexion nicht selten zu einem veritablen «begleitenden Kompass» und zu bedeutsamen biografischen Wegweisern – hier liesse sich von «produktivem Scheitern» sprechen – andere Erfahrungen dagegen hinterlassen eher ein dumpfes Gefühl, versperren sich nach wie vor einer Erklärung und Einordnung.

Das produktive Scheitern entspricht dem Hoffnungsprogramm der Professionalisierung: Bewältigte Schwierigkeiten dienen durch ihre Analyse wiederkehrend, eigene Kompetenzen aufzubauen und zu erweitern; sie repräsentieren eine Kraftquelle.

Das «dumpfe Zweite» lässt sich hoffnungsvoll als «noch nicht verarbeitet» bezeichnen, pessimistisch kann es auch als eigenes Versagen oder eben als (vorläufig) endgültiges Scheitern gesehen, welches wir besser aus der Erinnerung bannen.

Scheitern wird wenig bedacht in unserer effizienz- und qualitätsorientierten Gegenwart. Scheitern ist in pädagogischen Kontexten grundsätzliches und vermeintlich endgültiges Nicht-Erfüllenkönnen von Plänen oder Nichterreichen von Zielen. Chaos, Unordnung und Disharmonie scheinen in unserer Kultur negativ belegt, das Projekt «Leben» muss ohne Umwege effizient geplant sein, Überraschungen sind nicht vorgesehen. Gleichzeitig existiert jedoch ein reiches und divergierendes Angebot an Lebensentwürfen, das Umbrüche, Umwege und Perspektivenwechsel ermöglicht und sogar provoziert. Eine Paradoxie?

Das Scheitern gehört zwar irgendwie zum Leben – möglichst aber nicht zu unserem. Als lästiges Nebengeräusch begleitet uns die Scheiter-Möglichkeit als Angst vor Armut, vor Arbeitslosigkeit, vor Krankheit, vor Statusverlust. Richard Sennett bezeichnete Scheitern als letztes Tabu der Moderne (2000): Alle denken daran, keiner spricht darüber – oder doch und dann in voyeuristischer Manier und medienwirksamer Geschwätzigkeit; exhibitionistische Lebensberichte in TV-Shows lassen Scheitern als Anekdotenstation paradoxerweise zum Erfolg mutieren.

Scheitern bedeutet «Zerschlagenes», «in Stücke Zerfallenes» (althochdeutsch Scheit: «scit» und gilt seit der griechischen Antike als unumgängliche Konsequenz der Seefahrt, die als riskante, fast blasphemische Grenzüberschreitung galt. Das Wagnis der Seefahrt wird beschrieben von der Odyssee bis zu Sindbad dem Seefahrer oder Robinson Crusoe: Ungeahnte Strömungen, seichte Stellen, aus den Augen verlorene Zielorientierung, auf Grund verändernder Wetterlage notwendige Kurswechsel, und plötzlich: Ein Schiffsbug löst sich an einem Riff, einem Felsen zerschellend, in «Holzscheite» auf. Gescheitert war damit nicht zuletzt meist auch ein Handelsgeschäft. Dies erinnert auch an die ungebrochene Faszination des Unterganges der Titanic: Scheiterten hier vielleicht technische Allmachtsphantasien oder scheiterte einfach die Liebe?

«Zerbrochen tost das Steuer, und es kracht Das Schiff an allen Seiten. Berstend reisst Der Boden unter meinen Füssen auf! Ich fasse Dich mit beiden Armen an! So klammert sich der Schiffer endlich noch Am Felsen fest, an dem er scheitern sollte.»

(Goethe 1968, S. 161)

Literatur und Filmkunst bieten reichhaltigen Stoff für Scheitergeschichten (das da wohl beliebteste Thema nebst der Liebe): Odysseus entrinnt dem «Scheitern» als Götterurteil im Kampf zwischen Menschen und Schicksal nur knapp, Hamlet sieht selber ein, wie katastrophal seine Lage ist. Don Quichotte scheitert daran, nicht zwischen Fiktion und Realität unterscheiden zu können, Charlie Chaplin scheitert als «Tramp» unentwegt und behält paradoxerweise dabei immer seine rührende Würde.

Trotzdem oder gerade deswegen erscheinen in diesem Zusammenhang paradoxerweise konsistente Konzepte (Lebenskonzepte, Organisationsdesigns, Managementsysteme oder didaktische Drehbücher) wiederum unumgänglich für eine «Sicherheitsproduktion». Zumindest braucht es eine beruhigende Kalkulation des Risikos von Unplanbarem. Der Ratgebermarkt boomt wie noch nie.

Beziehen wir uns in einem weiteren Schritt in nachstehenden Überlegungen auf pädagogische Arbeitsfelder, lässt sich fragen, ob die Eigenheit der deutschsprachigen Bildungstradition diese Spannung nicht noch potenziert, denn sie ist durch harmonisierende Züge und die Mission eines Hoffnungsprogrammes gekennzeichnet: Pädagogisches Handeln setzt immer Entwicklung zum potenziell Besseren sowie das Erreichen von Zielen voraus; das Gelingen pädagogischer Bemühungen ist – auch um Pädagogik selber zu legitimieren – zentral; allfälliges Scheitern wird nicht in Kauf genommen. Eine «Kultur des Scheiterns» hat hier mit Schwierigkeiten zu rechnen, scheinbare Planbarkeit wird als Illusion aufrechterhalten, obschon der Anspruch nicht zur Wirklichkeit passt. Pädagogische Konzepte lassen sich selber als Sicherheitskonzepte (gegen das Scheitern) lesen, weil Pädagogik durch ihren existentiellen Charakter – im Gegensatz zur Kunst – über ein grosses Sicherheitsbedürfnis verfügen muss.

Somit ist Pädagogik weitgehend nicht auf Scheitern eingestellt, weil sie sich davor in der Hoffnung auf künftiges Gelingen schützen muss. Darum lässt sich fragen: Wie gehen Pädagogen und Pädagoginnen denn mit ihren hohen Ansprüchen, ihrer Verantwortung und dem alltäglichen Misserfolg um?

Alexis Sorbas tanzt übrigens einen Sirtaki, nachdem sein Projekt in sich zusammengefallen ist – wahrscheinlich so wie nie zuvor.

Ein Gedicht von Ungaretti (1961, S. 66, orig. 1917) nimmt diesen schöpferisch-poetischen Akt ebenso auf:


Allegria di naufragiFreude der Schiffbrüche
«E subitio riprende il viaggio come dopo il naufragio un superstite lupo di mare»«Und plötzlich nimmst du die Fahrt wieder auf wie nach dem Schiffbruch ein überlebender Seebär»
(Übersetzung von Ingeborg Bachmann, Ungaretti 1961, S. 67)

Wie lassen sich Scheitererfahrungen reflektieren oder nutzen? (Vgl. Thomann, Wehner und Clases 2016, S. 113 ff.)

Das Scheitern enttabuisieren: durch Explikation und Analyse

●Nicht-Funktionieren, Misserfolg, Fehler und Scheitererfahrungen nehmen sozusagen «kulturell» in Aus- und Weiterbildung sowie in der berufsbegleitenden Professionalisierung von Dozierenden und Lehrpersonen einen wichtigen Platz als Ausgangslage für Lernen und «Navigationskorrekturen» ein. Ganz im Sinne des Weick'schen Organisationsverständnisses (vgl. Kap. VII, 3.4.) lässt sich im Rahmen der institutionalisierten Professionalisierung das Scheitern als stetes Analysekriterium und Option aufnehmen und damit enttabuisieren. Dieses Verständnis ergänzt zumindest die herrschende Null-Fehlerkultur (Fehlervermeidung) im Rahmen aktueller Qualitätsmanagementbestrebungen.

Möglichkeiten und Gefässe schaffen für Umdeutungs- und Reflexionsprozesse

●Grundsätzlich sind Aus- und Weiterbildende in ihrer täglichen Arbeit «existentiell betroffen», was darauf hinweist, dass der berufsbegleitenden persönlichen Praxisverarbeitung viel Bedeutung beigemessen werden muss. Umgang mit Brüchen beispielsweise als Scheitererfahrung (Kontrollverlust, Ohnmacht) und in der emotionalen «Scheiterchronologie» auftretende Angst vor Scheitern wie auch Enttäuschungen im Nachhinein sind relevant.

Dieser Umstand wiederum bedingt den Zugang zu Möglichkeiten der Distanzierung zu Gunsten von Umdeutungsprozessen (Loslassen, Grenzen erkennen etc.).

Hilfreich wären demnach «reflexive Unterstützungsinseln» (teilweise firmenintern, um organisationales Lernen zu ermöglichen, teilweise – wenn Anonymitätsschutz notwendig ist – ausserhalb der eigenen Organisation, zum Beispiel durch Peer-Intervisionsstrukturen), welche der emotionalen Verarbeitung von schwierigen Erfahrungen Platz schaffen und akkommodative Umdeutungsprozesse ermöglichen, dies, bevor die Arbeitsstelle gewechselt wird, werden muss oder die Pensionierung ansteht.

Arbeiten an persönlichen biografisch gewachsenen Verhaltensmustern

●Der Umgang mit Erfolgsdruck zeigt bei Ausbildenden, dass einerseits biografische Muster und andererseits strategische Vorgehensweisen zu mehr oder wenig hilfreichem Umgang mit Druck führen. Hier braucht es Arbeit an der eigenen Person, das Analysevermögen in Bezug auf eigene Verhaltenstendenzen. Dies heisst, begleitende Coaching-Formen benötigen immer Anteile von «Arbeit an der Person». Ein solcher Zugang benötigt Zeit und ist nicht effizient zu «erledigen» oder zu «lösen».

Klären von Kompetenzen, Rollen und Aufträgen

●Die adäquate Kompetenz-, Rollen- und Auftragsklärung helfen Ausbildenden dabei, Komplexität zu reduzieren. Ungeklärte Verhältnisse führen zu Scheitererfahrungen, Ohnmachtsgefühlen und Enttäuschungen. Hilfreiche Planungs- und Orientierungsinstrumente bieten innerhalb von Aus- und Weiterbildung, aber auch in begleitendem Coaching Unterstützung. Dies geschieht nicht im Sinne starrer Fixierung von Rollen und Aufgaben, sondern als Instrument steter Kalibrierung. Sie ermöglicht Versicherung von Klarheit und transparente Vereinbarung von nächsten Schritten.

Die Explikation von «gescheiterten Erfahrungen» und ausgeblendeten Prozessen sowie den Austausch darüber nenne ich in Anlehnung an Richard Sennett (2000, S. 159 ff.) «produktiv», weil sie in einem Gestaltungs- und Verarbeitungsprozess Reflexion und Handlung ermöglichen sowie Perspektiven eröffnen[1]. Auf den Begriff «produktives Scheitern» bin ich über einen Text auf der Basis eines Interviews mit dem Schweizer Komponisten Nadir Vassena (Baldassare 2000) gestossen, in welchem das Komponieren als tägliches produktives Scheitern beschrieben wird.

3.4Die Berufssozialisation von Lehrenden

Der Bereich berufliche Weiterbildung muss Berufsbiografie und damit die Berufssozialisation ins Auge fassen.

Sozialisation wird als produktive Verarbeitung von innerer und äusserer Realität verstanden (vgl. Hurrelmann/Bauer 2018, S. 98). Sozialisation ist damit ein Prozess der Entstehung und Entwicklung menschlicher Persönlichkeit, der abhängt von und sich auseinandersetzt mit den sozialen und materiellen Lebensbedingungen zu einem bestimmten Zeitpunkt einer Gesellschaft. Insofern gleichen sich Biografie- und Sozialisationskonzept.

Vielleicht wird der Mensch in Letzterem (mehr noch als in der «prägenden» Biografie) eher noch als handlungsautonomes Subjekt verstanden.

Sozialisationebenen sind nach Tillmann (2017, S. 23):

SOZIALISATIONSEBENEN

 

aus: Tillmann 2017, S. 23

Sozialisierende Systeme sind laut Hurrelmann und Bauer (2018, S. 181):


aus: Hurrelmann und Bauer 2018, S.181

Nun sind die dargestellten Ebenen und «Mitsozialisatoren» erstens noch nicht berufsspezifisch fokussiert, zweitens wirken sie eher statisch.

An der beruflichen Sozialisation interessiert uns die chronologische Entwicklung eines «Sozialisanden», also das, was berufsspezifisch in einer zeitlichen Professionalisierungachse mit einer Berufsperson geschieht oder was sie mit sich macht resp. machen lässt.

Unter den Stufen oder Phasen von beruflicher Entwicklung wird meist die «Initiationszeit» (Anfängerjahre) als «Sozialisation» im Sinne von Anpassung bezeichnet; gemeint ist damit die prägende Anfangsphase, in der die berufliche Sprache, der Jargon, das spezifische Verhalten und andere Werte, Normen und Fähigkeiten meist implizit gelernt werden. Selbstverständlich beschränkt sich Sozialisation im eigentlichen Sinn nicht auf diese Anfangsphase.

Im Folgenden zeige ich drei in ihrer Reihenfolge an Komplexität zunehmende Phasenmodelle der beruflichen Sozialisation im Sinne der angesprochenen Professionalisierung.

Modell A: Vom Überleben zur Routine

Fuller und Brown entwickelten (in: Dick 1997, S. 29, 1996, S.48) ein Konzept mit drei Entwicklungsstufen von Lehrenden:

1. survival stage

Hier ist die Lehrperson vorwiegend mit sich selber als Person beschäftigt.

2. mastery stage

Hier steht die didaktisch-methodische Gestaltung des Unterrichts im Zentrum, die Lehrperson ist mit sich als Lehrperson beschäftigt.

3. impact stage (oder routine stage)

Solche Entwicklungsstufen sind nicht in sich geschlossen und Phasenübergänge nicht stets klar zu orten.

Eine Lehrperson mag trotz Routine in einer schwierigen Situation wieder im Überlebenskampf sein, einer anderen Lehrperson dagegen hilft methodisch-didaktische Gestaltung zu «überleben». Dennoch sprechen viele Lehrende von den – ihren Worten gemäss – lehrreichen «Überlebensjahren», in denen sie mit theoretisch Erlerntem nicht viel anfangen konnten, sondern einfach handeln mussten. Dass «mastery» oder sogar «routine» nicht durch eine theoretische «Rucksackausbildung» erzeugt werden kann, zeigt sich hier, ebenso wie der Umstand, dass einer angepassten begleitenden Weiterbildung innerhalb fortschreitender Professionalisierung zentrale Bedeutung zukommt.

Modell B: Entwicklungsverläufe in Lehrer/innenbiografien

Hubermann (1991 in: Terhart 1998, S. 573) entwickelte ein differenziertes Modell von beruflichen Entwicklungsverläufen in Lehrerbiografien. Obschon damit nicht explizit Ausbildner/innen für Erwachsene beschrieben werden, kann dieses Modell zweifelsohne auch Fachleuten der Weiterbildung als Anregung dienen:

ENTWICKLUNGSVERLÄUFE IN LEHRER/INNENBIOGRAFIEN


Hubermann 1991 in: Terhart 1998

Überleben und Entdecken sind während des Berufseinstiegs die zentralen Motive (etwa für die ersten drei Jahre). Wer einige Jahre überlebt hat, darf sich eine Stabilisierungsphase gönnen, in der man sich mit der Berufsrolle identifiziert (ca. 4.–6. Jahr).

Danach verzweigt sich die Entwicklung, die eine Gruppe schöpft «aus dem Vollen», wagt Neues, experimentiert auf sicherem Boden, die andere muss ihre Situation neu bewerten, zweifelt, gerät in eine Krise.

Nicht einmal die Hälfte dieser Lehrenden erreicht nach Hubermann eine Lösung der Krise, zahlreiche resignieren in der 4. Phase, werden zynisch und manifestieren Burn-out-Syndrome, andere erschliessen sich neue Perspektiven und erleben einen zweiten Frühling.

Mit der Zeit finden erfolgreiche Lehrende Distanz und Gelassenheit, um sich in der letzten Berufsphase allmählich zurücknehmen zu können.

Hubermann argumentiert mit seinem Stufenmodell auf Basis der Daten von Lehrenden mit langjährigen Berufslebensläufen; interessant wäre es, darüber nachzudenken, wie sich «Stabilisierung» beim heute zunehmenden Wechsel von Arbeitgebern und Arbeitsorten, aber auch durch vermehrte Veränderung von Gruppenzusammensetzungen bei immer wieder erzwungenem «Entdecken» durch Neuanfänge entwickeln kann.

Vielleicht erstarren wir ja weniger in Routine, wenn wir sozusagen dauerhaft mit einer Portion «survival» herausgefordert werden …

Die Stärke dieses Modells besteht in der realistischen Berücksichtigung möglicher schwieriger Entwicklungen zu Frustration und Resignation.

Im Gegensatz dazu wirken sowohl das Konzept von Fuller und Brown als auch das nächste Modell eher als normativ optimistisch (wie «es» sein müsste).

Modell C: Das Novizen-Experten-Paradigma

Aus Kognitionspsychologie und in spezifischer Modifikation aus der Pflegedidaktik des Gesundheitswesens (Benner 2017) kennen wir das Novizen-Experten-Paradigma (vgl. Messner/Reusser 2000, S. 162), in dem berufliche Entwicklung als sukzessiver Aufbau von professioneller Fähigkeit und Professionswissen verstanden wird.

Das Konzept beruht unter anderem auf einem Modell des Kompetenzerwerbs, das der Mathematiker S. Dreyfus und der Philosoph H. Dreyfus auf der Grundlage von Untersuchungen an Schachspielern und Piloten entwickelt haben. Grundsätzlich betont es, dass vor allem Experten über viel «Know-how»-Wissen verfügen, ohne dazu im Sinne von «Know-that» Erklärungen geben zu können.

Wissen und Können «rutschen» somit in die Bereiche des Vor- und Unbewussten und werden damit zu schlecht erklärbarem «Erfahrungswissen».

Beispielsweise dürfte es uns schwerfallen, genau zu erklären, wie wir schwimmen gelernt haben oder wie wir dies heute genau tun. Wir – oder die meisten von uns – können es «einfach». Paradoxerweise müssen wir uns aber, wenn wir als Schwimmlehrer Anfänger sind, in unserer Vermittlungstätigkeit an standardisierte und generalisierte Vorgaben anderer (Experten, Lehrmittel) oder an unsere «Intuition» – welche vielleicht so etwas wie unbewusstes Erfahrungswissen darstellt – halten.

Steht nun die standardisierte Vorgabe im Widerspruch zu meiner «Intuition» oder meinem unbewussten Erfahrungswissen, muss ich «Übersetzungsarbeit» leisten und die beiden Wissens- und Verfahrensformen untereinander sowie mit den Lernmöglichkeiten der Teilnehmer/innen in Einklang bringen.

Auch dass wir beispielsweise «einfach» schwimmen können, nützt uns so lange wenig, bis wir wiederum (Erfahrungs-)Wissen in der Vermittlung aufgebaut haben, welches aber auch wieder – eventuell als erweiterte «Intuition» – nur bedingt unserem Bewusstsein zugänglich ist.

Die Entwicklungsstadien des Novizen-Experten-Paradigmas werden (nach Messner/Reusser 2000, S. 162 ff. in Anlehnung an Dreyfus/Dreyfus 1986, vgl. auch Terhart 1998, S. 570 ff.) wie folgt beschrieben:

1.Novizenstadium

Novizen verfügen über gelernte kontextfreie Regeln, die zwar rational begründet werden können, jedoch nicht adaptiert sind. Das kann in Störungssituationen Chaos oder Rigidität in ihrem Verhalten zur Konsequenz haben.

2.Fortgeschrittenes Anfängerstadium

Die Orientierung erfolgt hier vermehrt anhand von praktischen Handlungserfahrungen; Erinnerungen an ähnliche Fälle und dadurch ermöglichter Transfer führen zu zunehmender Beweglichkeit.

3.Stadium des kompetenten Praktiker s/der kompetenten Praktikerin

Durch eine Analyse des Ausbildungsgeschehens verfügen kompetente Praktiker über flexible Handlungspläne und damit über mehr Sicherheit.

4.Stadium des gewandten Praktikers

Der gewandte Praktiker/die gewandte Praktikerin zeigt durch (Erfahrungs-)Wissen geschickte Situationsverarbeitung. Bewusste Reflexion tritt hinter intuitivem Vorgehen zurück. Die «Feinwahrnehmung» von Situationen ist geschärft.

5.Meister- oder Expertenstadium

Der Meister/die Meisterin agiert und reagiert schnell, angemessen und routiniert auf eine Vielfalt von unterschiedlichen und schwierigen Situationen. Sofortiges Erkennen ersetzt planvolles Entscheiden, «es funktioniert einfach».

Solche Experten wissen in der Regel mehr, als sie erklären können, und folgen meist ihrer «Intuition», ihrem «Kennerblick».

Zwar wirkt das Novizen-Experten-Phasen-Modell etwas starr und schematisch, jedoch zeigt es auf, in welch subtiler Form sich Professionalität aufbaut, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Zudem verdeutlicht das Modell, dass verschiedene Lehrpersonen mit denselben Anstellungsbedingungen, Funktionen und Aufgaben sich in völlig unterschiedlichen Professionalitätsphasen bewegen. Dies erschwert kooperative Kommunikation mitunter, weil Novizen ihre Meisterwerdung nicht antizipieren und Meister ihre Meisterwerdung nicht mehr nachvollziehen können.