Ökumene um jeden Preis?

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Kirche der Pluralität, Kirche der Meinungsvielfalt

Dass Kurzbeiträge zu den jeweiligen gesellschaftlichen Debatten durchaus hilfreich sein können, zeigen etwa die Weihnachtsansprachen des Bundespräsidenten oder das Wort der Bundeskanzlerin zum Neuen Jahr. Beiden gelingt es weit überwiegend über Partei- und Personengrenzen hinaus die Gefahren von Komplexitätsreduzierung und Populismus zu umgehen. Was in diesen Beiträgen zum gesamtgesellschaftlichen Diskurs anderen Akteuren zum Vorbild gereichen könnte, ist, dass sie es vermögen, gewissermaßen „mehrheitsfähig“ zu formulieren. Wohltuend ist hier die Vermeidung simplifizierender Direktiven und populistischer Vereinfachungen.

Gerade für die evangelische Kirche – in welcher der über das Modell des Priestertums aller Gläubigen gewonnene religiöse Gleichheitsgedanke gilt – ist eine Positionierung, die keine Einzelmeinung repräsentieren soll, natürlich besonders schwierig. Kein Bischof, kein Oberkirchenrat oder wer auch immer hat das Recht, „protestantische Positionen“ aufgrund seiner Stellung qua Amt zu legitimieren. Aufgrund des religiösen Gleichheitsgedankens gilt zudem, dass eine Position immer nur eine Position neben anderen – ebenso legitimen – Positionen ist. Was zählt, ist der sachliche Gehalt, nicht der hierarchische Ort, von dem aus ein Votum ergeht.

Damit gilt zumindest für den Protestantismus Pluralität als Grundmuster kirchlicher Wirklichkeit. Und damit ist – wie sich leicht zeigen lässt – natürlich ein Grundproblem hinsichtlich des Auftritts von Kirche in der Gesellschaft verbunden. Bezüglich eines strittigen Sachverhaltes kann es kirchlicherseits niemals nur ein Votum geben. Es gibt immer ein Bündel von sachlich hinreichend begründeten Standpunkten, die sich mitunter durchaus widersprechen können.

Darin ist denn auch das Problem enthalten, dass mit einer eindeutigen Verlautbarung von kirchenleitender Seite stets legitime, inhaltlich anderslautende Standpunkte verunglimpft werden. Diese gelten dann interessanterweise plötzlich als einzelne „Privatmeinungen“. Aufgabe kirchenleitenden Handelns wäre es also, auf diesen „Chor“ an Überzeugungen hinzuweisen bzw. ihn zum Klingen zu bringen. Der Vorzug solchen Handelns bestünde auch darin, deutlich werden zu lassen, dass die Meinungsvielfalt innerhalb des Protestantismus die Meinungsvielfalt der gesamtgesellschaftlichen Wirklichkeit spiegelt.

Nebenbei bemerkt liegt außerdem auf der Hand, dass gerade bei evangelischen kirchenleitenden Vertreterinnen und Vertretern in diesem Zusammenhang aus dem Unterschied zur katholischen Schwesterkirche, die den religiösen Gleichheitsgedanken so nicht kennt, Neidgefühle erwachsen können. Wir sind darauf bereits zu sprechen gekommen. Natürlich ist die Durchsetzungsfähigkeit in einem strikt hierarchischen System – um nicht zu sagen: in einem strikt autoritär verfassten System – um vieles größer als in einer Institution, deren Grundstruktur Pluralität ist.

Ökumene als Komplexitätsreduzierung?

Mit dem bisher Entfalteten ist noch ein Problem verwoben, das eine eigenständige Würdigung verdient: das Problem der Eindeutigkeit. Direktiven bringen die Gefahr mit sich, dass der Eindruck entsteht, die Dinge wären eigentlich ganz einfach, sozusagen schwarz-weiß. Dass dem in den allermeisten Fällen nicht so ist, haben wir bereits angesprochen. Um diese Eindeutigkeit einleuchtend darzulegen, wird in vielen Fällen tatsächlich vorhandene Vielschichtigkeit reduziert. Wir können auch sagen, dass die Dinge in der Regel komplex sind. Jede kernige Direktive verlangt daher nach einer Reduzierung von Komplexität.

Für unsere gesamtgesellschaftliche Wirklichkeit können wir diesen Zusammenhang auch aus anderer Perspektive plausibilisieren: Das Leben an sich ist unter den Bedingungen der Moderne kompliziert geworden. Wir können auch von einer Unübersichtlichkeit des Lebens sprechen. Solche Unübersichtlichkeit sehnt sich – wie wir gerade angesprochen haben – nach Eindeutigkeit. Vermutlich liegt in dieser Sehnsucht auch ein Grund für die großen Erfolge, die die unterschiedlichen Populismen gegenwärtig haben.

Und obwohl solche Populismen eine Versuchung für kirchliches Auftreten in unserer Zeit enthalten könnten, wären die Kirchen sicherlich gut beraten, sich solcher Vereinfachungen nicht zu bedienen. Solche Vorsicht walten zu lassen, gilt auch angesichts des kirchlichen Hinweises, dass Verlautbarungen immer in ihrem Kontext, etwa einer Predigt, verstanden werden müssen. Und natürlich ist einzuräumen, dass hier auch Missbrauch möglich ist, ob versehentlich oder mit Absicht. Immer wieder besteht die Gefahr, dass Einzelnes aus dem Zusammenhang gerissen und dann in seinem Gehalt verzerrt oder gar verfälscht wird. Unabhängig davon ist aber auch die angesprochene Ausgabe von Direktiven kritisch wahrzunehmen.

Ökumene ist selbst gewissermaßen ein Instrument zur Komplexitätsreduzierung. Wenn das Miteinander der Kirchen etwa auf den Begriff der Freundschaft unter Ausblendung der jeweiligen Profile reduziert wird, dann ist damit alles beiseite gewischt, was die großen Konfessionskirchen inhaltlich auszeichnet. Wenn jemand auf die Idee käme, beispielsweise von der katholischen zur evangelischen Konfession wechseln zu wollen und dem Ratsvorsitzenden der EKD die Frage stellte, was ein solcher Wechsel denn bedeuten würde, müsste der mit seiner Vorstellung der Ökumene als Freundschaft eigentlich konsequent antworten: Nichts.

Dann aber stellt sich in der Tat die Frage, was Konfessionalität eigentlich noch soll. Die Konfession zu wechseln würde jedenfalls keinen Sinn machen. Auch wären die Gründe für den Konfessionsunterschied, über welche jahrhundertelang gerungen wurde und über die sich nicht gerade die Dümmsten beider Konfessionen die Köpfe zerbrochen haben, wie weggeblasen. Hinter beiden Großkonfessionen stehen viele Hundert Jahre Geistesgeschichte, die zu würdigen der Respekt vor dem dort Geleisteten geradezu gebietet.

Die Kirchen im Bedeutungsschwund

Was die Verkündung von richtungsweisenden Direktiven aus kirchenpolitischer Perspektive anbetrifft, wird man den konfessionellen Großkirchen wahrscheinlich sogar bescheinigen können, was sie eigentlich wirklich das Fürchten lehren sollte; nämlich dass sie durch ungeschicktes Agieren in diesen Zusammenhängen ihre eigene Marginalisierung vorantreiben. Diese wird auch dadurch befördert, dass es solche Direktiven verhindern, wesentliche Aspekte zur Geltung zu bringen, die die Konfessionsunterschiede anschaulich werden lassen könnten.

Zu Beginn des Festjahres zum Reformationsjubiläum wurde der Ratsvorsitzende der EKD in den Tagesthemen zu Luther und zur Reformation befragt. Nicht an einer Stelle wurde deutlich, was mit der Reformation Neues entstanden ist. Stattdessen kam etwa auf die Frage, welche Thesen Luther heute veröffentlichen würde, die Antwort, dass er wohl die Liebe ins Zentrum stellen würde. Es war die Rede von Empathie, von Flüchtlingen und wie viele ehrenamtliche Protestanten sich hier engagiert hätten. Das alles ist im höchsten Maße löblich, hat aber mit einem spezifisch evangelischen Profil nichts zu tun. Zu Recht lautet die Frage: Wenn sich die Frage nach einem protestantischen Profil damals und heute in solchen Allgemeinplätzen erschöpft, wozu brauchen wir den Protestantismus dann überhaupt noch? Was ist der spezifische Beitrag dieser Konfession innerhalb der religiösen Landschaft in unserem Land und in unserem Kulturkreis?

Die Kirchen leiden in unseren Tagen unter dem Schwund ihrer Bedeutung. Die Menschen wollen weder ein Votum von selbsternannten gesellschaftlichen Wächtern noch ein wie auch immer näher zu verstehendes transzendentes Engagement, sondern sie wollen, dass die großen Konfessionskirchen soziale Verantwortung übernehmen. Die Kirchen sollen nicht am Transzendenten haften, sondern sie sollen im Sozialen Flagge zeigen: der erwähnte Kindergartenplatz, der Platz im Seniorenheim, das scheint wichtig; sich in der Nachbarschaftshilfe einbringen, die Jugend von der Straße holen, für Seniorinnen und Senioren Ausflüge organisieren. Angelegenheiten des Transzendenten, Fragen nach Sinn und anderes mehr sind heute – wie kaum jemals zuvor – in die Zuständigkeit der oder des Einzelnen gestellt. Glaube ist Privatsache, eine Angelegenheit der Privat-, wenn nicht gar der Intimsphäre. Wir werden darauf noch näher zu sprechen kommen.

Auch was die Marginalisierung betrifft, befinden sich die Kirchen in einem Dilemma. Für nicht wenige Menschen ist letztlich nicht recht einzusehen, warum es die Konfessionskirchen immer noch gibt. Das hängt natürlich auch damit zusammen, dass diese es offensichtlich nicht vermögen, ihre Wesensunterschiede so zur Darstellung zu bringen, dass das jeweilige Eigenrecht der Konfessionen ihren Kritikerinnen und Kritikern einleuchtet. So werden – wie bereits angesprochen – immer wieder Forderungen nach so etwas wie einer Fusion laut, was immer man sich darunter dann konkret vorzustellen haben mag. Dadurch könne nicht nur Geld gespart werden, sondern es ließen sich auch eine Reihe von Synergieeffekten erzielen, die die komplexe Angebotsstruktur der Kirche für die Gesellschaft vereinfachen würde und damit den Dienst der Kirche an der Gesellschaft befördern könnte. Wir kamen darauf zu sprechen, wie unsinnig solche Mutmaßungen sind, und wir werden dafür im Folgenden weiteren Gründen begegnen.

Christentum und Religion außerhalb der Kirchen

Gegenüber der beschriebenen Marginalisierung der Kirchen als Institutionen kann allerdings festgehalten werden, dass es bezüglich der Inhalte, um welche es in den Konfessionskirchen geht, genau gegenläufig bestellt ist. Sinn ist „in“. Der Sinnmarkt boomt. Religion ist keineswegs ein ewiggestriger Ladenhüter. Im Gegenteil, Religion gehört – und zwar in zunehmendem Maße – zu den attraktiven Themen eines über sich selbst aufgeklärten Lebens; eines Lebens, das auch nach seinen Tiefen und nach seinen Geheimnissen fragt.

 

Das Problem scheint zu sein, dass die Menschen den großen Konfessionskirchen das Thema Religion in vielen Fällen nicht mehr zutrauen. Dabei muss man aber auch eine konfessionelle Differenz in den Blick nehmen. Das abnehmende Zutrauen in die Religionsfähigkeit der Kirche dürfte auf protestantischer Seite nämlich noch stärker ausgeprägt sein als auf katholischer. Dem Protestantismus ist mit dem Verständnis von Kirche, wie es Martin Luther ausgebildet hat, gewissermaßen bereits ein Grundmisstrauen gegenüber der Institution, gegenüber der eigenen Kirche eingeschrieben. Wir werden auch darauf zurückkommen.

Dass die Kirche selbst Sachwalter der Religion, mithin des Heiligen ist, bringt die katholische Kirche in eine Position, die dazu führt, dass die Gläubigen ihre eigene Kirche gewissermaßen wie selbstverständlich für religionskompetent halten. Die Kirche ist sozusagen selbst das Heil. Oder anders gesagt, nur über die Kirche und durch die Kirche ist Heil gegenwärtig. Auch das jeweilige Verständnis dessen, was Kirche ist, wird uns noch eingehender beschäftigen. Auf dieses Misstrauen der Gläubigen gegenüber der Religionsfähigkeit ihrer Kirche reagieren die Kirchen – im Sinne des gerade Entfalteten vor allem die evangelischen Kirchenleitungen – mit einer Verkirchlichung der Religion. Auch das wird uns noch weiter beschäftigen.

Religion ist dann zunächst und vor allem Religion in ihrer kirchlichen Gestalt. Das zeigt sich bei der Aufwertung der Gottesdienste und der Kasualien. Letzteren kommt etwa mit der Frage nach der Zulassung zum Patenamt und der Ausstellung eines Patenscheines nachgerade Rechtsqualität zu. So ist zum Patenamt zugelassen, wer einer Konfessionskirche zugehört. Das ist Vereinsdenken, das die Frage, ob jemand Religion hat, mithin religiös ist, außen vor lässt und diese Fragen auf blutleere und trockene Vereinsstatuten reduziert. Beim Protestantismus scheint dies durch Impulse der katholischen Schwesterkirche noch verstärkt zu werden, was sich bei allen Formen hierarchischen Denkens in der Kirchenleitung, aber auch in der gemeindlichen Praxis zeigt.

Der Bedeutungsschwund und manches mehr führt wohl auch dazu, dass die Kirchen ihr eigenes Profil gegenwärtig eher wie das sprichwörtliche Licht unter dem Scheffel stellen. Auch dies wird man vor allem für den Protestantismus sagen müssen. Wenn nicht alles täuscht, dann hat daran auch und vor allem die gegenwärtige ökumenische Diskussion wesentlichen Anteil. Wie in der modernen Soziologie formuliert: Werden Singularitäten (in diesem Fall die Konfessionskirchen) miteinander verglichen, kann das nur unter Ausblendung ihrer sie auszeichnenden Wesensmerkmale geschehen. Denn die Eigenkomplexitäten der Singularitäten machen regelrechte Vergleichstechnologien erforderlich. Und diese reduzieren Komplexitäten. „Notre-Dame in Paris und der Dogenpalast in Venedig sind dann zwei Exemplare des gotischen Baustiles, das Christentum und der Islam sind beides monotheistische Religionen…“1 Wir könnten auch sagen, Komplexitätszuwachs führt zur Komplexitätsreduktion. Daher ist bei den gegenwärtigen ökumenischen Gesprächen in der Regel, wie wir jetzt mehrfach gesehen haben, auch keine Rede mehr von den spezifischen Inhalten – mithin dem Profil –, die die jeweilige Konfessionskirche auszeichnen. Dem gilt es gegenzusteuern. Erforderlich wäre es, das Eigene, das Besondere, das, was die eigene Unverwechselbarkeit ausmacht, wieder in den Blick zu nehmen.

Motor in der Ökumene waren seit den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts vor allem die konfessionsverschiedenen Ehepaare. Sie bewegte in erster Linie die Frage, ob sie Gemeinschaft bei der Feier des Abendmahles haben können oder nicht. Auch andere theologische Grundfragen wurden hier gewissermaßen stellvertretend für die gesamte ökumenische Landschaft diskutiert: die Bedeutung der Kirche, das Verständnis des Amtes eines Priesters bzw. eines Pfarrers, die Frage nach der Stellvertretung Christi in der Person des Papstes und vieles mehr. Die Debatte um die gemeinsame Mahlfeier führte dazu, dass in nicht wenigen Gemeinden eine gemeinsame Eucharistie- bzw. Abendmahlsfeier Praxis wurde. Die Frage nach der Zulassung zum Abendmahl wurde sozusagen aufgeweicht.

Dem setzte die katholische Kirchenleitung spätestens zum ökumenischen Kirchentag 2003 ein Ende, indem die Unmöglichkeit der Mahlgemeinschaft erneut unterstrichen wurde. Zur jüngsten Initiative, die durch den Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, im Frühsommer 2018 erfolgte, wird man festhalten müssen, dass sie wiederum merkwürdig halbherzig ausfiel. Warum – so fragt man sich – soll die Gemeinschaft nur für konfessionsverschiedene Ehepaare und nicht für alle Anderskonfessionellen diskutiert werden? Andererseits wäre dies ein erster Schritt und es stünde dem Protestantismus gut an, den deutschen Reformkatholizismus nicht bei nächstbester Gelegenheit im Regen stehen zu lassen. Bei der letzten größeren Initiative im Umfeld von Donum Vitae unter dem damaligen Vorsitzenden Kardinal Karl Lehmann war der deutsche Reformkatholizismus gegenüber Rom leider wenig erfolgreich.

Hinzu kommt allgemein gesehen jene Entwicklung, die wir eben bereits gestreift haben. In jüngerer Zeit verlagerte sich der Glaube des Einzelnen in zunehmendem Maße in die Privat- bzw. gar in die Intimsphäre. Bereits bei Jesus von Nazareth findet sich der Satz, dass diejenige oder derjenige, der beten wolle, in sein Kämmerlein gehen, sich also zurückziehen solle. Von Jesus selbst ist uns eine solche Frömmigkeitspraxis überliefert. Er ging in die Einsamkeit, wenn er mit seinem Vater allein sein wollte. Durch die Entdeckung der religiösen Individualität und vor allem durch die Bedeutungszunahme des Einzelnen innerhalb der Moderne wurde diese Entwicklung enorm verstärkt. Wie wir noch genauer sehen werden: Vor der Klammer, in der steht, was ein Mensch glaubt, steht immer dieses Ich: „Ich“ glaube … Mit der Verschiebung des Glaubens in die Privat- und Intimsphäre schwand aber auch der Gesprächsbedarf konfessionsverschiedener Ehepaare.

Schließlich wird man sagen können, dass durch die beschriebenen Entwicklungen ein Prozess befördert wurde, den gewiss auch anderweitige Motivlagen begünstigt haben, nämlich der Exodus der Religion aus den großen Konfessionskirchen. Es gehört zu den spannenden Aufgaben der Zeitdiagnostik zu ermitteln, wo Religion außerhalb der Kirchen verifiziert werden kann.

Hier ist zunächst und als Erstes an den großen Markt des Kulturellen zu denken, der sich derzeit ohnehin in einem nicht unerheblichen Wandel befindet. Diese Veränderungen bringen es auch mit sich, dass Menschen Religion in Zusammenhängen leben, die in deutlicher Entfernung zu kirchlichen Wirklichkeiten stehen. Zu denken wäre hier etwa an den großen Markt des Filmes, in dem etwa Schuld und Vergebung, Erlösung und Heil thematisiert werden, an Musik und Konzerte, an Events aller Art, aber auch an eine blühende Freizeitindustrie, die sich in Sport und Natur, in Literatur und zahlreichen Formen der Selbstfindung und in der Kombination vieler dieser Elemente miteinander auslebt.

Sprach man im ausgehenden vergangenen Jahrhundert von einem Christentum außerhalb der Kirchen und räumte diesem hohe Bedeutung und ein selbstverständliches Recht ein, so gilt heute das Gleiche für eine Religion außerhalb der Kirchen. Das Christentum außerhalb der Kirche war ein mündiges, ein selbstverantwortetes Christentum, das sozusagen für seine Praxis auf die Kirche verzichten konnte. Im Unterschied zu einem Christentum außerhalb der Kirche ist eine Religion außerhalb der Kirche allerdings schwerer zu identifizieren.

Jedenfalls bedarf eine entsprechende Diagnostik noch mehr an Sensibilität und Anstrengung, als es für ein Christentum außerhalb der Kirche der Fall war. Doch es lohnt sich, hier genauer hinzuschauen. Denn auch für eine Religion außerhalb der Kirche könnte es bezeichnend sein, dass sie für ihre Praxis auf die Kirchen verzichten kann. Und es könnte für eine solche Religion außerhalb der Kirchen möglicherweise auch gelten, dass sie Religion in einem ganz eigentlichen Sinn sind, dass wir es hier im besonderen Maße mit lebendiger Religion zu tun haben.

Zwischenbilanz

Eine erste Diagnose kann daher lauten, dass die großen Konfessionskirchen erheblich unter dem Schwund ihrer gesellschaftlichen Bedeutung leiden. Unsere moderne ausdifferenzierte Gesellschaft bedarf keines Wächteramtes kraft höherer Ordnung. Die ökumenischen Anstrengungen können dem wenig oder gar nichts entgegensetzen. Im Gegenteil, sie verstärken diesen Bedeutungsschwund eher noch! Wenn nicht mehr recht einzusehen ist, welche Bedeutung den Kirchen in unserer Gesellschaft zukommt, dann ist auch nicht einzusehen, welcher Gewinn mit einem gemeinsamen Auftritt verbunden sein könnte. Es handelt sich dann bei einer intensivierten Ökumene nicht mehr um zwei sinkende Schiffe, sondern um zwei oder mehrere Konfessionskirchen – je nachdem, wie viele in den Blick genommen werden – in einem sinkenden Schiff.

Der Protestantismus diskreditiert sich selbst, indem er den ihn kennzeichnenden Grundgedanken der religiösen Gleichheit nicht konsequent in die Praxis umsetzt. Anders gesagt: Die ihm wesensgemäß aufgegebene Struktur der Pluralität wird letztlich nicht wirklich und nicht konsequent gelebt. Die mit dem Drang zur Eindeutigkeit einhergehende Gefahr der Komplexitätsreduzierung trifft für alle Konfessionskirchen zu und zu solcher Reduktion von Komplexität kommt es insbesondere in aktuellen ökumenischen Diskursen, die geradezu davon leben, die Eigenheiten einer Konfessionskirche zu nivellieren oder auszublenden. Der Katholizismus etwa ist ohne sein spezifisches Kirchenverständnis als Katholizismus gar nicht zu verstehen. Und wer dem Protestantismus sein Wesensmerkmal nimmt, dass er sich als Gewissensreligion versteht, der ignoriert eine seiner wesentlichen Grundbestimmungen.

Daher hatte auch der Theologe Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher im vorletzten Jahrhundert zu Recht darauf hingewiesen, dass es in der Auseinandersetzung zwischen den großen Konfessionen nicht um „wahr“ oder „falsch“ gehen kann. Die Anwendung dieser Prädikate, der Prädikate „wahr“ oder „falsch“, ist im Diskurs der Konfessionen unzulässig, weil sie eben auf ihre je eigene Weise Individualisierungen der christlichen Religion sind. Mit ihrem jeweiligen immanenten Recht verkörpern die Konfessionen, was unter christlicher Religion verstanden werden kann. Und diese jeweilige Individualisierungsgestalt lässt sich nur verstehen, wenn die Aspekte ihres Wesens erkannt und verstanden werden.

Wer die profilbestimmenden Momente einer Konfession nicht versteht, versteht nicht, warum es sich bei ihr um eine Individualisierungsgestalt der christlichen Religion handelt, denn er oder sie versteht dann gerade nicht, was diese Gestalt individuiert und als besondere kennzeichnet. Nur wer ermessen kann, warum dies so und jenes anders ist, kann je eigene Weisen verstehen, in denen das Eine – nämlich die christliche Religion – einmal so und einmal eben auch anders auftreten kann. Genau darin aber dürfte ein wahrhaft ökumenisches Interesse bestehen, sich angesichts der sich voneinander unterscheidenden Profile in Respekt zueinander zu verhalten, verbunden in der Überzeugung, dass es sich je um eigene Individualisierungsgestalten der einen christlichen Religion handelt. Anders gesagt gilt wohl umgekehrt auch, nur wer die Individualisierungsgestalten der christlichen Religion erkennt, entdeckt, was Religion in dieser spezifischen christlichen Form ist.

Dabei sind vereinnahmende und egalisierende Verhaltensweisen ebenso fehl am Platze wie etwa das ausgrenzende Votum von Dominus Jesus, mit dem der damalige Präfekt der Glaubenskongregation Joseph Ratzinger auf die gemeinsame Feststellung zur Rechtfertigungslehre reagierte, indem dort nämlich formuliert wurde, dass „die evangelische Kirche nicht Kirche im eigentlichen Sinne“ sei. Die evangelischen Kirchen (wie es aufgrund der historischen Genese genauer heißen muss, da hat Joseph Ratzinger Recht) sind Kirchen nicht im Sinne des katholischen Verständnisses von Kirche und wollen dies auch gar nicht sein, aber sie sind Kirchen im Sinne eines evangelischen Verständnisses einer Individualisierungsgestalt der christlichen Religion. Bereits hier zeichnet sich ab, wie ein argumentativ ausweisbares Verständnis von Ökumene heute lauten könnte; wir können es mit der tradierten Formel der versöhnten Verschiedenheit zusammenfassen. Darauf werden wir zurückkommen. Jedoch zeichnet sich auch jetzt schon ab, dass hinter solche Verschiedenheit kein Weg zurückführt.

 

Bevor wir damit beginnen, ist allerdings auf den möglichen Einwand zu diesen unterschiedlichen Gesichtspunkten hinzuweisen, dass diese ja gar nicht den jeweiligen Standpunkt adäquat wiedergäben. Als ich kürzlich bei einer Podiumsdiskussion darauf aufmerksam machte, dass der religiöse Gleichheitsgedanke etwas typisch Protestantisches sei, wurde eingewandt, dass dieser Gedanke auch im Zweiten Vatikanum eine entscheidende Rolle spiele. Und es mag durchaus sein, dass Vergleichbares in den entsprechenden Texten gefunden werden kann. Selbstverständlich kann hier nicht der Anspruch erhoben werden, die Textgrundlagen zu den jeweiligen Gesichtspunkten vollständig zu überschauen. Das mag anderen überlassen bleiben. Jedoch denke ich, dass – um beim Beispiel zu bleiben – der religiöse Gleichheitsgedanke bei der konfessionellen Schwesterkirche nicht das spezifische Profil hat, das ihn bei uns Evangelischen auszeichnet.

In der breiten Überlieferungsgeschichte des Katholizismus lassen sich vermutlich zu so gut wie jeder Problemkonstellation Textstellen finden, mit denen unterschiedlichste – ich denke in manchen Fällen sogar widersprüchliche – Positionen belegt werden können. Ich orientiere mich neben den anderen zurate gezogenen Texten daher immer wieder am Katechismus der katholischen Kirche 2. Diese Orientierung hat jedenfalls den Vorzug, dass mit ihr keine „Sondermeinung“ innerhalb des Katholizismus bemüht wird, sondern dass über ihn so etwas wie ein common sense katholischer Überzeugungen in den Blick genommen wird. Umgekehrt gilt natürlich auch, dass hier vorgetragene evangelische Positionen Standpunkte darstellen, zu denen es Alternativen gibt. Ausschlaggebend sollten daher die Begründungszusammenhänge sein. Letztlich geht es aus evangelischer Sicht doch auch immer darum, was der Einzelnen oder dem Einzelnen einleuchtet.

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