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Der Erbe. Dritter Band.

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Das gnädige Fräulein war außerordentlich pünktlich und eigentlich noch acht Minuten vor ihrer Zeit, aber auch mit schlecht verbissenem Ingrimm eingetroffen, weil man gewagt hatte, ihr die Einladung auf das Criminalamt auf einem der gewöhnlichen gedruckten Bogen, wie für gemeine Verbrecher, zu senden. Der mußte denn natürlich den Leuten auf dem Hofe in die Hände fallen, und schon darüber erbost, konnte sich ihre Laune durch das lange Warten natürlich nicht verbessern.

»Was will man von mir?« fragte sie einen alten Polizeidiener, der auf einem hohen Sessel an einem Stehpult saß und eine Liste vor sich hatte.

Der Mann zuckte nur die Achseln, deutete auf die eine Thür und meinte, sie würde es da drin schon erfahren.

»Und weshalb werde ich nicht vorgelassen?«

»'s ist noch Jemand drin,« sagte der Polizeibeamte, ohne sie anzusehen. »Hier geht Alles nach der Reihe. Wenn Sie dran kommen sollen, wird geklingelt.«

Jetzt wurde die Thür aufgemacht und der Actuar rief heraus: »Fräulein von Wendelsheim in Nr. 17!«

»Was?« schrie das gnädige Fräulein, in jähem Schreck emporfahrend, und wurde in dem Moment todtenbleich. »Man will mich doch nicht einkerkern?«

»Ne,« lachte der alte Polizeidiener gutmüthig, »noch nicht – die Nummer 17 ist nicht gemeint, die Thür da gerade vor, da sollen Sie hineingehen.« Und er deutete dabei mit der Hand auf die bezeichnete Nummer.

Das gnädige Fräulein holte tief Athem – die ganze Umgebung hatte doch einen unheimlichen Eindruck auf sie gemacht; sie war dadurch so ganz aus ihrer früheren Sphäre herausgerissen – es fürchtete sie hier Niemand, und selbst die untersten Diener behandelten sie mit einer Gleichgültigkeit, die sie empörte, die ihr aber auch imponirte.

Sie schritt auf das ihr angegebene Zimmer zu und öffnete die Thür – es war ein großer, geräumiger, öder Saal mit einem grün beschlagenen, langen Tisch in der Mitte von vielen Stühlen. Er diente jedenfalls zu gewissen Zeiten als Sitzungszimmer. Auf dem Tisch aber lagen die von dem Heßberger'schen Ehepaare gestohlenen Gegenstände ausgebreitet, und durch die andere Thür trat jetzt der Untersuchungsrichter mit dem ihn begleitenden Witte herein.

»Mein gnädiges Fräulein,« sagte der Justizrath, ohne es der Mühe werth zu halten, sich zu entschuldigen, daß er sie so lange im Vorzimmer hatte warten lassen, »es hat sich herausgestellt, daß Sie durch die Ihnen sehr wohl bekannte Heßberger ebenfalls nicht unbeträchtlich bestohlen sind. Es haben sich da besonders verschiedene Silbersachen gefunden, die noch das Wappen Ihrer Familie tragen. Wollen Sie einmal gefälligst nachsehen, ob Sie das Alles als das Eigenthum Ihres Herrn Bruders erkennen?«

Fräulein von Wendelsheim, deren Miene sich sehr verfinstert hatte, als sie den Staatsanwalt erkannte, wollte schon fragen, weshalb man ihr nicht eben so gut die Sachen hätte hinausschicken können, anstatt sie selber hieher zu bemühen; der alte Justizrath sah aber so ernst und würdig aus und schien sich dabei hier so in seinem vollen Recht zu fühlen, daß sie die Frage wieder verbiß und der Aufforderung Folge leistete. Sie erkannte und bestätigte auch bald die nach Schloß Wendelsheim gehörenden Sachen und äußerte dabei, sie hätte der Person, der Heßberger, wohl zugetraut, solche schlechte Handlungen begehen zu können.

»Und doch haben Sie sich mit der Person so nahe einlassen können, mein gnädiges Fräulein,« sagte der Justizrath kalt. »Bitte, treten Sie hier in das andere Zimmer; die Sachen sollen Ihnen später, wenn die Untersuchung geschlossen ist, verabfolgt werden.« Damit ging er ihr voran zur andern Thür, wo Witte schon, die Hand auf der Klinke, stand.

»Mit der Person nahe eingelassen?« sagte Fräulein von Wendelsheim und maß den alten Herrn mit ihrem Blick von oben bis unten. »Was wollen Sie damit sagen?«

»Mein gnädiges Fräulein,« erwiederte der Justizrath, »die Sache ist kein Geheimniß mehr. Jene Frau Baumann, die ihren Sohn damals hergegeben, hat Alles bekannt und ein reumüthiges Geständniß abgelegt…«

»Die Frau Baumann?« rief das gnädige Fräulein und wechselte in jähem Schreck die Farbe. »Welche Baumann?«

»Die Schlossersfrau – und das ist sonst eine vollkommen unbescholtene Person…«

»Aber das nicht allein, mein gnädiges Fräulein,« sagte jetzt Witte, der einen letzten, verzweifelten Versuch machte, die Dame zum Reden zu bringen, »auch die gefangene Heßberger hat Alles eingestanden und erklärt, daß sie nur mit Ihnen und Ihrer Hülfe den Tausch bewerkstelligt hätte. Sie werden sich dagegen jedenfalls zu verantworten haben.«

»Die Heßberger?« rief Fräulein von Wendelsheim in ausbrechender Wuth, und Witte öffnete rasch die Thür, während sie der Justizrath durch ein Zeichen bat, dort hinein zu treten. »Und so eine schlechte Person, so eine ganz gemeine Diebin durfte sich das unterstehen, und das Gericht legt auf das Gewicht, was so ein Geschöpf sagt? Hören Sie, was die Leute draußen auf dem Land über das Weib sprechen: da ist auch keine Schlechtigkeit auf der Erde, die der nicht zur Last gelegt wird, und mir, der Schwester des Barons von Wendelsheim, wollen Sie…«

Sie kam nicht weiter; in dem Moment wurde die gegenüberliegende Thür aufgerissen und wie eine Furie stürzte die Heßberger heraus.

»Was?« schrie sie, »das adelige Weibsbild will hier über mich herziehen und meine Sünden aufzählen? Und ich soll schweigen und das Maul halten und mich einsperren und schlecht behandeln lassen, nur daß sie großbrodig in ihrer Kutsche fahren und die Schandgosche über andere Leute aufreißen kann? Ei, zum Henker, dann kann ich auch reden, und nun ist's doch einerlei und die Geschichte hier aus.«

Fräulein von Wendelsheim erschrak. Sie war schlau genug, im Augenblick die ihr gelegte Falle zu sehen, und wie sie sich einen Moment unbemerkt glaubte – denn die Blicke der Beamten hingen an dem gereizten Weibe –, blinzelte sie ihr rasch mit den Augen zu. Aber das war gefehlt; sie machte das Uebel dadurch nur wo möglich noch schlimmer, denn die Heßberger, der das nicht entging, tobte nun erst recht heraus:

»Ja, jetzt haben Sie gut blinzeln, nicht wahr – nun die Heßberger da ist und auf einmal Alles gehört hat? Mir brauchen Sie aber nicht mehr zuzuwinken und heimliche Zeichen zu geben – mir nicht, das ist vorbei, und jetzt hören Sie hier auch die ganze Geschichte: der Fritz Baumann ist der Sohn vom Baron und der Bruno der Junge vom Schlosser – die da hat sie vertauscht und die ganze Sache abgekartet, weil sie glaubte, daß es ein Mädchen wäre. Der alte Baron wollte erst nicht – die Frau, die selige Baronin, hat nie ein Wort davon erfahren. Alles, was die Baumann gesagt hat, ist wahr, und wenn Ihr mir nicht glaubt, dann lebt hier in der Stadt noch Jemand, der es bezeugen kann – die Frau, die damals als Wartefrau bei der Baronin diente…«

»Aber die ist ja todt, denk' ich?« rief Witte rasch.

»Weil ich's der Baumann gesagt habe, hat die's geglaubt. Nein, sie lebt hier in der Stadt; damals zog sie nach Mecklenburg und heirathete einen Schneider, jetzt ist der Mann gestorben und sie mit ihrem Sohne zurückgekommen. Wo sie gerade wohnen, weiß ich nicht, aber sie werden zu finden sein. Und nun steckt die da auch ein, am liebsten zu mir in das nämliche Loch, daß ich doch wenigstens die paar Tage, die ich noch auf der Welt bin, eine Freude habe.«

Witte triumphirte im Stillen über die gelungene List, aber ihn schauderte auch zugleich, wenn er die Megäre ansah, die mit den fliegenden, grauen Haaren und den weit aufgerissenen, ordentlich unheimlich lichten Augen eher einer von Macbeth's Hexen als einem menschlichen Wesen glich. Starr vor Grimm und Entsetzen aber stand ihr das gnädige Fräulein gegenüber – vor Grimm über ihre eigene Machtlosigkeit, vor Entsetzen über die ihr in die Zähne geschleuderte Anklage, der zu begegnen sie im ersten Augenblick weder Worte noch Gedanken fand.

Der Einzige in der That im ganzen Zimmer, der sein kaltes Blut bewahrt zu haben schien, war der Actuar, der an seinem Tische mit ordentlich fliegender Feder stenographisch die Worte nachschrieb, welche über die Lippen des rasenden Weibes sprudelten. Der Anblick gab aber auch das Fräulein von Wendelsheim sich selber wieder, und mit einem höhnischen Blick auf den Schreibenden sagte sie:

»Nun, Frau Heßberger, Sie haben wenigstens den Herren hier den Gefallen gethan und Alles gesagt, was Sie wußten oder zu wissen glaubten, und demnach hat allerdings, wie es scheint, auf dem Schlosse ein Betrug stattgefunden oder finden sollen – ich weiß es nicht; nur daß ich damit nicht in Verbindung stand, hoffe ich zu beweisen. Für jetzt ersuche ich die Herren, mir zu sagen, ob ich zu einem Verhör oder nur dazu vorgefordert gewesen bin, um die Frau da zum Reden zu bringen.«

»Mein gnädiges Fräulein,« sagte der Justizrath trocken, »da noch keine wirkliche Anklage gegen Sie formulirt ist, glaube ich, daß wir Sie heute entlassen können. Die eine Frage beantworten Sie mir nur: Sie haben gehört, was jene, allerdings wenig glaubwürdige Frau über Sie gesagt hat – in wie weit ist das begründet?«

»So weit es mich betrifft, eine faule, erbärmliche Lüge,« sagte die Dame stolz.

»So leugnen Sie jedes Mitwissen an dem Vergehen ab?«

»Jedes.«

»Aber Sie bezweifeln das Vergehen selber nicht?«

»Ich bezweifle es allerdings, weil ich es nicht für möglich halte.«

»Sehr schön. Sie werden Ihre Vorladung erhalten, wenn Sie hier wieder zu erscheinen haben.«

»Und die darf gehen und ich werde eingesperrt?« rief die Heßberger. »Und wissen Sie, was die ihrem Bruder gestohlen hat, seit sie ihm draußen die Wirthschaft führt – jedes Jahr mehr, als ich und mein Mann unser ganzes Leben zusammengebracht haben!«

»Schaffen Sie die Frau wieder in ihre Zelle, Schultze,« sagte der Justizrath zu dem Polizeidiener, der schon in die Thür getreten war, als die Heßberger in ihr erstes Toben ausbrach.

 

»Und das ist Gerechtigkeit!« hohnlachte das Weib. »Verdreht und gewendet, wie man's gerade braucht, gelogen und betrogen, nur nicht für das vornehme Pack, dem man nicht zu nahe treten darf!«

»Schaffen Sie das Weib hinaus!«

»Komm, Heßberger!« rief der Polizeidiener, sie am Arm ergreifend.

»Faßt mich nicht an!« schrie sie aber auf, indem sie sich wieder von ihm losriß. »Ich gehe schon von selber, mag den Spectakel auch gar nicht länger mit ansehen – pfui!« rief sie, vor dem Justizrath und Witte ausspuckend, und schritt dann mit raschen, zornigen Schritten aus der Thür.

Fräulein von Wendelsheim wartete noch einen Augenblick. Sie horchte nach außen zu, um wahrscheinlich erst die Schustersfrau aus dem Vorsaal zu lassen, ehe sie ihr selber dahin folgte. Wie draußen Alles ruhig war, sagte sie: »Dann werde ich mich jetzt entfernen und das Weitere ruhig abwarten.«

»Verziehen Sie noch einen Augenblick,« sagte der Justizrath, der indessen mit Witte heimlich geflüstert hatte. »Ihr Bruder scheint geisteskrank zu sein, nicht wahr?«

»Er hat wenigstens die letzten Tage viel phantasirt und ist völlig theilnahmlos; aber ich hoffe, daß sich das in der nächsten Zeit geben wird.«

»Dann werden Sie mir erlauben,« sagte der Justizrath, »Sie durch einen von unseren Beamten begleiten zu lassen, dem Sie auf Schloß Wendelsheim, bis die Untersuchung geschlossen ist und die Geschworenen ihren Entscheid abgegeben haben, sämmtliche Schlüssel überliefern, wie er auch die Verwaltung des Gutes bis zu der Zeit unter sich behält.«

»Herr Justizrath!« rief Fräulein von Wendelsheim emporfahrend.

»Mein gnädiges Fräulein,« sagte dieser kalt, »Sie selber stehen unter einer schweren Anklage, und ich wäre vielleicht berechtigt, Sie gar nicht wieder fortzulassen. In der Voraussetzung aber, daß Sie zu jeder, Ihnen bestimmten Zeit vor Gericht erscheinen, will ich davon absehen. Die Verwaltung des Schlosses dagegen wird, entweder bis der alte Baron wieder hergestellt oder der wirkliche Erbe unzweifelhaft festgestellt ist, der von mir mitgegebene Beamte übernehmen. Assessor Schuster wird das besorgen und Actuar Bessel mag ihn begleiten, um gemeinschaftlich Alles, die Wohnungsräume ausgenommen, unter Siegel zu legen.«

»Sie verlangen doch nicht, daß ich unter Polizeibedeckung nach Hause fahren soll?«

»Nein, die beiden Herren werden vor Ihnen her fahren und Sie mit Ihrem Kutscher ihnen folgen. Es versteht sich, daß indessen auf dem Schlosse Alles unverändert im Status quo bleibt, Niemand entlassen, Niemand Fremdes zugemiethet und nichts verkauft oder verborgt wird. Herr Staatsanwalt Witte, Sie thäten mir einen besondern Gefallen, wenn Sie, als Vertreter der Regierung, die Herren heute Abend begleiteten und der Ausführung selber beiwohnten.«

Fräulein von Wendelsheim war todtenblaß geworden; sie wollte sprechen, aber sie konnte nicht. Es wurde hier auch Alles so geschäftsmäßig betrieben – was hätte es ihr geholfen! War es dabei das Bewußtsein ihrer Schuld, das sie mit niederdrückte? Sie wagte aber kein Wort der Widerrede, und nur die Lippen zusammengepreßt, daß sie weiß aussahen, wankte sie aus dem Zimmer und auf den Vorsaal hinaus.

»Wissen Sie, Justizrath, was das Merkwürdigste bei der Geschichte ist,« sagte Witte, der die letzten Minuten im Zimmer auf und ab gegangen war und sich vor innerlichem Vergnügen die Hände gerieben hatte, indem er vor dem Angeredeten stehen blieb – »daß ich eben jenen Schneider Müller und seine Mutter, von der die Heßberger vorhin sprach, gestern Abend zufällig aufgefunden habe, ohne Ahnung natürlich, daß sie dieser Angelegenheit so nahe standen.«

»Aber wie?«

»Rath Frühbach, der langweiligste Mensch seines Jahrhunderts, hat mich aus Verzweiflung in ein fremdes Haus hinaufgejagt – doch die Geschichte erzähle ich Ihnen ein andermal – kurz, der Müller arbeitet jetzt für mich.«

»Und wissen Sie bestimmt, daß es der rechte ist? Der Name Müller.«

»Gar kein Zweifel, und jetzt wollen wir der Sache schon auf den Grund kommen, verlassen Sie sich auf mich – aber nun bitte, eilen Sie auch unsere Abfahrt, denn dem gnädigen Fräulein wird sonst die Zeit zu lang.«

Der Justizrath war ein Mann von wenig Worten, aber ziemlich rasch im Handeln. In sehr kurzer Zeit war Alles geordnet, und hinter dem gemietheten Fiaker fuhr, sehr zum Erstaunen des herrschaftlichen Kutschers, die Carrosse des Fräuleins von Wendelsheim her, das sich, wie sie nur das Schloß erreichten, augenblicklich auf ihr Zimmer verfügte und sich dort einriegeln wollte. Die Erlaubniß wurde ihr aber nicht gleich. Vor allen Dingen versiegelte Assessor Schuster, der nichts halb that, sämmtliche Papiere der Gnädigen selber, so wüthend und aufgebracht sie sich darüber auch zeigte. Er hatte dazu allerdings keinen besondern Auftrag, that es aber auf Witte's Rath, weil sie nicht wissen konnten, wie sie vielleicht einmal später gebraucht werden und von Werth sein könnten. Dann mußte sie ihm sämmtliche Schlüssel übergeben. Silber und Wäsche, wie alles Derartige, so weit es nicht zum täglichen Bedarf diente, wurde versiegelt, über das Andere ein flüchtiges Inventar aufgenommen, und Nachts um zwölf Uhr erst verließ Witte das Schloß wieder, um nach Hause zurückzukehren.

Der alte Baron wurde gar nicht belästigt; er erfuhr auch nichts oder sah nichts von der Veränderung im Schlosse. Oben im Zimmer saß er an seinem Tisch, auf den ihm der Diener, als es dunkel wurde, die Lampe stellte; er hatte sich aus seiner Bibliothek ein paar Bücher genommen und beschäftigte sich jetzt damit, einzelne Seiten aus den Bänden zu reißen und die Blätter zu verschiedenen komischen Figuren mit einer Schere auszuschneiden. Er besaß darin wirklich eine Gewandtheit, und es war auch in der That das Einzige, was er in seinem ganzen Leben gelernt hatte.

7
Nach allen Seiten

Am nächsten Morgen war Witte in voller Thätigkeit; denn jetzt wußte er sich der Erreichung seines Zieles gewiß, und es galt nur noch, die verschiedenen Fäden fest in die Hand zu nehmen. Vor allen Dingen ging er zum Untersuchungsrichter, um diesem mitzutheilen, daß er für jene frühere Wartefrau völlige Straflosigkeit vom Justiz-Ministerium erbitten wolle, vorausgesetzt nämlich, daß sie Alles, was sie über die verwickelte Sache wußte, aufrichtig gestand. Er glaubte auch, er würde den Herrn noch im Bette finden und herausklopfen müssen; der war aber schon auf und fertig angezogen und kam ihm gleich mit den Worten entgegen:

»Wissen Sie das Neueste, Staatsanwalt? Eben bekomme ich die Meldung, daß sich die Heßberger diese Nacht in ihrem Gefängnisse erdrosselt hat – eine verfluchte Geschichte!«

»Bah,« sagte Witte, den die Todesnachricht ungemein ruhig ließ, »die kann jetzt abkommen, denn was wir brauchen, haben wir von ihr; ja, im Gegentheil bekommt das von ihr abgelegte Geständniß durch ihren freiwilligen Tod nur um so größeres Gewicht.«

»Und was führt Sie so früh zu mir?«

Witte theilte ihm seine Absicht mit, und der Justizrath erklärte ebenfalls, daß er keinen Augenblick zweifle, die Bitte werde zugestanden, noch dazu, da jene Person, während sie im Stande war ein wichtiges Zeugniß abzulegen, jedenfalls eine sehr untergeordnete Rolle bei dem Betrug gespielt hatte.

Noch während sie zusammen sprachen, kam ein reitender Bote von Schloß Wendelsheim mit einer Anfrage an den Justizrath. Fräulein von Wendelsheim bestand nämlich darauf, einen Besuch in der Stadt zu machen, und fragte an, ob der Justizrath ihr die Erlaubniß dazu geben wolle.

Der Justizrath schrieb einfach unter den Brief selber: »Fräulein von Wendelsheim hat Hausarrest!« und sandte den Boten wieder damit zum Schlosse.

Witte kehrte langsam nach Hause zurück; in der Sache war allerdings nichts zu thun, bis die Rückantwort vom Justiz-Ministerium eintraf; es schien aber dabei kaum möglich, daß die wirkliche Thatsache, von der schon so viele Leute unterrichtet waren, länger ein Geheimniß bleiben konnte. Ein unbehagliches Gefühl überkam ihn dabei, wenn er an den bisherigen Baron, den Lieutenant von Wendelsheim, dachte, der, als eigentliche Hauptperson des Ganzen, noch wahrscheinlich keine Ahnung von dem über ihn hereinbrechenden Unheil hatte. Einmal faßte er wohl den Entschluß, ihn rufen zu lassen und ihm Alles mitzutheilen; aber wer von uns macht sich gern muthwillig zum Träger einer bösen oder schmerzlichen Nachricht? Und Witte besaß zu viel Zartgefühl, noch aus manchem andern Grunde, um eine solche Enthüllung freiwillig auf sich zu nehmen. Er that deshalb auch, was man gewöhnlich in einem solchen Fall thut: er verschob die Ausführung seines Vorhabens auf den Nachmittag oder vielleicht auf morgen früh, wie es sich gerade passen würde, denn zu versäumen war ja doch nichts dabei.

Zu Hause fand er auch so viel zu thun, daß er kaum zur Besinnung kam, und sein Mittagessen beseitigte er rasch, denn seine Frau sprach bei Tische kein Wort; sie spielte noch die Beleidigte des neulich erlassenen Verbots der Adeligen wegen, und selbst Ottilie war kleinlaut und hatte rothe Ränder um die Augen. Witte aber that, als merke er das gar nicht, verzehrte seine Mahlzeit, trank, wie gewöhnlich, seine Flasche Wein dazu und ging dann wieder in sein Arbeitszimmer hinüber.

Die Schreiber waren noch nicht von ihrer Eßstunde zurückgekehrt, als es plötzlich anklopfte und auf sein »Herein!« Lieutenant von Wendelsheim, aber in Civil – denn er hatte seinen Abschied schon erhalten – zu ihm in's Zimmer trat.

»Stör' ich Sie, Herr Staatsanwalt?«

»Mich? Gewiß nicht,« sagte der alte Herr, aber fast erschrocken, denn Bruno von Wendelsheim sah so bleich aus wie die Wand. »Bitte, treten Sie näher, lieber Baron – hier herein, wenn Sie so gut sein wollen; meine Leute kommen bald zurück und haben da ihre Plätze. Mit was kann ich Ihnen dienen?«

»Herr Staatsanwalt,« sagte Bruno, der der Einladung Folge leistete, »ich kenne Sie als einen Ehrenmann…«

»Lieber Herr Baron, aber wollen Sie denn nicht Platz nehmen?«

Wendelsheim wehrte mit einer dankenden Bewegung der Hand ab und fuhr fort: »Ich komme deshalb, um eine Frage an Sie zu richten, Mann zu Mann.«

»Wenn ich im Stande bin, sie Ihnen zu beantworten,« sagte Witte und wünschte sich in dem Augenblick zehn oder zwanzig Meilen fort von da.

»Niemand weiter in der ganzen Stadt so gut als Sie,« sagte der junge Mann, »denn wie mir versichert ist, haben Sie die Leitung der ganzen Affaire in der Hand. So sagen Sie mir denn: in wie weit ist das Gerücht begründet, daß bei meiner Geburt ein Kindertausch mit der Frau eines hiesigen Handwerkers stattgefunden hat und ich demnach nicht der leibliche Sohn des alten Baron von Wendelsheim, sondern der des Schlossers Baumann wäre?«

»Alle Teufel,« rief Witte überrascht, »und wo haben Sie das schon gehört?«

»Beantworten Sie mir erst die Frage, Herr Staatsanwalt.«

»Wenn Sie mich drängen,« sagte Witte achselzuckend, »so muß ich Ihnen allerdings, was Sie mich eben gefragt haben, bestätigen. Aber woher Sie…«

»Und ich bin nicht das, als was ich erzogen worden, der Erbe des Hauses von Wendelsheim, sondern eines Schlossers Sohn?«

»Mein lieber, junger Freund,« sagte Witte verlegen, denn es that ihm weh, das dem armen jungen Manne so mit nackten dürren Worten zu bestätigen, »vor allen Dingen ist ja noch kein Urtheilsspruch in der Sache gefällt, und nur der allerdings gegründete Verdacht…«

»Aber ich frage Sie ja nicht nach einem Urtheilsspruch,« sagte Bruno bewegt; »Ihre Meinung, nach eigener, fester Ueberzeugung, will ich nur wissen, und glauben Sie um Gottes willen nicht,« setzte er rasch hinzu, »daß Sie mich dadurch etwa schlimmer kränken, als wenn Sie mir die Wahrheit vorenthalten. Muß ich es denn nicht wissen, wenn etwas Derartiges im Werke ist, und denken Sie etwa, daß fremde Menschen zartfühlender in ihrer Enthüllung sein werden – oder gewesen sind?«

»Sie haben recht,« sagte Witte entschlossen, »und nun bitte, erzählen Sie mir, was Sie gehört haben, und ich gebe Ihnen mein Wort, daß Sie dann die reine Wahrheit von mir hören sollen.«

Bruno erzählte jetzt, aber Alles so ausführlich, daß Witte eigentlich gar nichts mehr hinzuzusetzen fand. Er wußte in der That Alles, und der Staatsanwalt konnte ihm nur bestätigen, daß die Sache allerdings bis jetzt so stehe, ein wirklicher Entscheid aber erst durch das Geschworenengericht stattfinden würde, dessen nächste Sitzung in etwa acht oder neun Tagen fiel.

»Aber nun,« fuhr er fort, »bitte ich Sie auch dringend, mir zu sagen, durch wen Sie das Alles erfahren haben, denn ich gebe Ihnen die Versicherung, daß ich es nicht begreife.«

»Ich begreife nur nicht, daß ich es nicht schon früher gehört habe,« sagte Bruno, »denn meine Quelle ist wahrlich nicht geheimnißvoller Art. Ich erfuhr es heute Morgen durch Rath Frühbach.«

 

»Durch Rath Frühbach?« rief Witte, den Kopf schüttelnd. »Dann brauchen wir auch allerdings kein Geheimniß mehr daraus zu machen, denn wenn der Herr es weiß, ist es schlimmer, als ob es in der Zeitung gestanden hätte. Aber lieber junger Freund,« fuhr er fort, als er sah, daß Bruno zum Fenster getreten war und die glühend heiße Stirn gegen die Scheibe preßte, »nehmen Sie sich um Gottes willen die Sache nicht so zu Herzen. Erstlich ist das Ganze noch gar nicht entschieden. Eine feste Behauptung: es sei so oder so, steht noch Keinem von uns zu, und im allerschlimmsten Falle – ei, zum Wetter auch, im Unglück bewährt sich erst der Mann, im Glück können wir Alle oben schwimmen, und Sie sind jung und kräftig und haben die Welt noch vor sich – sehen mir auch wahrhaftig nicht aus, als ob Sie so leicht verzagen würden.«

Bruno schwieg; er stand am Fenster und sah über die Gärten und Hintergebäude der Nachbarhäuser hinaus, aber in Alledem kein festes, bestimmtes Bild. Das Ganze flimmerte und flatterte ihm vor den Augen. All' die Luftschlösser, die er sich seit seiner Jugend gebaut und in bunten Farben aufgethürmt, stürzten polternd zusammen, und Alles, was ihm im dunkeln Hintergrund blieb und sich zu fester Form gestaltete, war – eine Schlosserwerkstatt und das von den Bälgen aufgewühlte Feuer. Er hörte auch nicht, was der Staatsanwalt sprach – wenigstens nur mit halbem Ohr –, in seinem Innern trug er eine vergeudete Jugend zu Grabe, und schwarz und düster nur lag die Zukunft vor ihm da.

Rebekka – sein schöner Traum – er war stolz darauf gewesen, ihretwegen allen Vorurtheilen Trotz zu bieten und sie zu sich emporzuheben – und wie anders stand jetzt der arme Schlosserssohn dem reichen Juden, dem er noch dazu ohne Aussicht auf Hülfe bös verschuldet war, gegenüber! Es war doch ein schwerer Schlag, so mit einem Male Alles zu verlieren, was man bis dahin fest und sicher sein geglaubt – Familie, Namen, Eltern, Vermögen, Braut, Heimath, und dafür nichts zu bekommen, nichts, als die Berechtigung, in eine Familie einzutreten, die ihn als Säugling vor die Thür gesetzt.

Witte war in peinlicher Verlegenheit. Der arme junge Mann, der so unverschuldet das Alles mußte über sich ergehen lassen, that ihm wirklich leid, aber er fühlte auch, daß er ihn gerade dadurch, wenn er ihm Mitleid zeige, am tiefsten verwunden könne. Und Trost einsprechen? Da fiel ihm selber nichts ein, was er ihm hätte sagen können.

Draußen kamen die Schreiber vom Essen zurück und nahmen ihre Plätze wieder ein. Das Geräusch weckte Bruno aus seinen Träumen; er sah sich scheu um und sagte endlich:

»Entschuldigen Sie mein wunderliches Wesen, Herr Staatsanwalt, ich fühle, ich werde Ihnen lästig; aber es ist noch Alles so neu, so fremd für mich, ich muß mich erst hinein gewöhnen, wie in diese neuen Kleider, die ich trage.«

»Lästig? Aber lieber, bester junger Freund, glauben Sie das um Gottes willen nicht!«

»Und was rathen Sie mir, jetzt zu thun? Was kann ich thun?«

»Vor der Hand nichts auf der Welt, als die Entscheidung ruhig abwarten. Weiß übrigens Rath Frühbach um die Sache, so wird sie auch heute Nachmittag in allen Kaffeegesellschaften besprochen, und wenn Sie dann meinem Rath folgen wollen, so machen Sie indessen eine kleine Reise nach der Residenz oder in die Berge, oder wohin Sie wollen. Lassen Sie mich nur wissen, wo Sie sind, damit ich Ihnen rechtzeitig schreiben kann, wann Sie hier eintreffen müssen, um vielleicht auch Ihre eigenen Rechte zu wahren. Niemand kann vorher sagen, wie sich Alles gestaltet.«

»Ich glaube, es ist das Beste, was ich thun kann,« sagte Bruno nach kurzem Zögern; »ich wäre jetzt auch nicht im Stande, Jemanden zu sehen oder zu sprechen. Ich muß erst selber Zeit haben, mich zu sammeln und das Weitere zu überlegen.«

»Aber Sie vergessen nicht, mir zu schreiben?«

»Sie sollen augenblicklich Nachricht erhalten, sobald ich nur erst selber weiß, wo ich mich die Zeit über aufhalten werde. Wahrscheinlich auf dem Wald; ich kenne dort oben einen alten Förster und gehe vielleicht mit ihm auf die Jagd. Auch die Einsamkeit wird mir wohl thun, ich bedarf jetzt derselben.«

Witte drückte ihm herzlich die Hand.

»Und nun leben Sie wohl bis dahin. Wenn Sie mich wiedersehen, hoffe ich, daß ich gefaßter und vernünftiger sein werde, als heute. Es ist mir nur noch Alles zu fremd, zu neu.« – Er erwiederte den Druck der Hand und verließ das Zimmer, wollte auch augenblicklich die Treppe hinabeilen, als er der Frau Staatsanwalt in den Weg lief, die gerade aus der Küche kam.

»Ach, mein lieber Herr Baron,« sagte sie freundlich, »Sie kommen wohl gerade von meinem Manne? Geschäftssachen – immer Geschäftssachen. Ja, wenn man bald ein so großes Vermögen übernimmt, giebt es allerdings viel zu thun. Aber wollen Sie nicht einen Augenblick näher treten?«

»Sie sind unendlich gütig, gnädige Frau,« stammelte Bruno verlegen; »aber – ich bin gerade in großer Eile – die Post…«

»Ja, dann freilich will ich Sie nicht aufhalten.«

»Bitte, empfehlen Sie mich Ihrer Fräulein Tochter!«

Die Frau neigte huldreich das Haupt, und Bruno war froh, als er sich gleich darauf wieder auf offener Straße und in frischer Luft fand.

Witte hatte selber keine Ruhe; es gab noch so Manches für ihn zu besorgen, daß es ihn nicht in seinen vier Wänden ließ. Durch die rasche Verbreitung des Gerüchts, deren Ursprung er sich immer noch nicht zu erklären wußte, war er auch in seinen Schritten mit der Schneiderswittwe gedrängt, damit sie nicht erst von anderer Seite aufmerksam gemacht und eingeschüchtert wurde. Er beschloß deshalb, augenblicklich zu ihr zu gehen und ihr Alles zu sagen; denn daß das Justiz-Ministerium eine zustimmende Antwort geben würde, verstand sich eigentlich von selbst.

Im Anfang fand er die Frau allerdings scheu und zurückhaltend. Sie schützte Gedächtnißschwäche vor; die Sache sei so lange her und sie habe in der Zeit so viel durchgemacht, daß sie sich auf Einzelheiten aus jenen Jahren gar nicht mehr erinnern könne. Witte sagte ihr darauf, es würde auch kein Mensch in sie dringen, aber sie möge sich in der Zeit besinnen. Komme das Schreiben zurück, das sie jeder Strafe oder Verantwortung über Vergangenes entbinde, dann versprach er ihr nur, falls sie getreu und wahr Alles berichten wolle, was sie noch wisse, eine namhafte Summe, mit der ihr Sohn hier, oder wo er wolle, ein Geschäft eröffnen könne. Außerdem dürfe sie sich versichert halten, daß er zu ihr stehen werde und sie seiner Protection gewiß sei. Komme ihre Freisprechung von jeder Verantwortung aber nicht, dann brauche sie ja kein Wort zu sagen und nur dabei zu bleiben, daß sie sich auf nichts mehr besinne, und es könne ihr eben so wenig etwas geschehen.

Nachdem er die Frau solcher Art, so gut es gehen wollte, beruhigt und auch ihren Sohn überzeugt hatte, daß er wirklich keinen Hinterhalt habe, sondern es ehrlich meine, schlenderte er, in Gedanken die Vorfälle der letzten Tage noch einmal recapitulirend, langsam um die Promenade herum; er hatte für den Moment kein bestimmtes Ziel und wollte nur allein mit sich selber sein.

»Ah, mein lieber Staatsanwalt,« sagte da plötzlich die bekannte Stimme des überall und nirgend herumfahrenden Frühbach, »so pensiv? Wissen Sie schon die Neuigkeit?«

»Ach, mein lieber Rath!« sagte Witte, ordentlich emporfahrend, denn er hatte sich eben in Gedanken ganz allein mit dieser nämlichen Persönlichkeit beschäftigt. »Wo kommen Sie auf einmal her?«

»Lieber Gott,« sagte der Rath, »ich bin ja das geplagteste Menschenkind auf der Welt, denn ich muß lediglich meiner Verdauung wegen den halben Tag auf den Füßen sein und spazieren laufen! Ihr gesunden Menschen wißt gar nicht, wie gut Ihr daran seid – aber haben Sie schon die Neuigkeit gehört?«