Besichtigung eines Unglücks

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Danach rannte er neben dem vorbeiziehenden Zug zu seiner Bude zurück und rief das Stellwerk GO an, erhielt aber keinen Anschluss. Vermutlich war besetzt, weil Lebrecht gerade mit Ackermann telefonierte, der diesen ebenfalls angerufen hatte, um ihn zu alarmieren.

Noch achthundert Meter, vielleicht neunhundert.

Noch einmal zurück.

Nachdem Lebrecht auf Anweisung seiner Befehlsstelle das Signal A 1 für den D 10 auf Freie Fahrt gestellt hatte, trat er in den Erker und bemerkte, wie sich der Zug dem Stellwerk näherte. Er hörte das Klappen der Streckentastensperre, die von der letzten Achse des Zugs ausgelöst wurde, und sah, beim Blick zur Seite, dass sich die Scheibe von Schwarz auf Weiß umgelegt hatte. Der D 10 fuhr unter seinem Erker vorbei. Die Zugschlussstelle lag gleich hinter dem Übergang Mützelstraße. Danach legte er das Signal A 1 zurück auf Halt. Und nun kam der Anruf. Er hörte das Läuten des Telefons, nahm den Hörer ab und vernahm Ackermanns sich vor Aufregung überschlagende Stimme:

»Den D 180 stoppen!«

Im selben Moment kam Zeuner herein, zurück von seinem Kontrollgang zu den Weichen, und hörte, wie Lebrecht rief:

»Wat? Zug is durch?«

Ja, Zeuner war sein Zeuge. Er war dabei. Er sah, wie Lebrecht den Hörer hinwarf, die rote Lampe nahm, das Fenster aufriss und fortgesetzt in Richtung Berlin winkte. Beide starrten dem heranrasenden Zug entgegen, dem D 180, aber Lebrecht tutete auch noch in sein Signalhorn und winkte mit der roten Lampe. Und als er sich umdrehte, sah er, dass der D 10 siebzig, achtzig Meter hinterm Stellwerk stehen geblieben war. Sofort war ihm klar, was passieren würde. Er tutete weiter in das Signalhorn, winkte weiter mit der Laterne, konnte aber nicht feststellen, dass der D 180 seine Geschwindigkeit auch nur ein wenig verringert hätte.

Und als er am Stellwerk vorbei war, schlug Lebrecht, weil er wusste, dass jetzt der Aufprall erfolgen würde, und er es nicht sehen und hören wollte, die Hände vors Gesicht.

So seine erste, von Zeuner gestützte Aussage.

Normalerweise hätte der D 10 beim Durchfahren des Bahnhofs Genthin eine Geschwindigkeit von 105 km/h gehabt. Aber nach dem Halt in Belicke brauchte er eine Weile, um wieder seine normale Geschwindigkeit zu erreichen. Ernst, der Lokführer, schätzte, dass sie mit höchstens 80 km/h in den Bahnhof einfuhren.

Eine Frau, die am Schwarzen Weg wohnte, einer Straße, die parallel zu den Schienen verläuft, erzählte später, sie sei von einem Geräusch geweckt worden. Da sie meinte, das Geräusch sei von draußen gekommen, habe sie das Fenster geöffnet und einen herannahenden Zug bemerkt, der plötzlich, völlig unerwartet für sie, mit kreischenden Rädern stoppte. Das war der D 10. Was sie nicht wusste, war, dass Ernst die Schnellbremse gezogen und zur Erhöhung der Bremswirkung den Sandstreuer ausgelöst hatte. Der Zug bremste jäh ab, lief noch ein Stück und kam zum Stehen.

Das ist der Moment, den man einfrieren möchte, der Moment davor. Der Zug steht eingangs des Bahnhofs. Die Leute in den Abteilen dösen vor sich hin. Unter der Decke glimmt das blaue Licht. Die Stadt draußen liegt im Dunkeln. Noch ist alles in Ordnung, und im nächsten Moment ist es das nicht mehr.

5

Der Erste, der merkte, dass etwas nicht stimmte, war der Hilfsschaffner Erich Montag, der zusammen mit seinen Kollegen in dem kleinen, etwas erhöht liegenden Abteil des Packwagens saß. Als der Zug bremste, rannte er in den Gepäckraum, schob die Tür auf, blickte nach vorn, dann zurück und sah die Lichter eines anderen Zugs auf sich zukommen, und da hörte er auch schon, rasch lauter werdend, das Rattern und Stampfen.

Inzwischen waren auch seine Kollegen an der Tür, Möhring und Hübsch, sie sahen den heranrasenden Zug und sprangen hinaus. Das heißt, Montag und Hübsch, Möhring kam nicht mehr dazu. Er schaffte den Absprung nicht, sondern erhielt einen Schlag gegen den Oberarm und wurde hinausgeschleudert, blieb aber wie durch ein Wunder unverletzt. Montag kam mit den Füßen auf, sprang zur Seite, duckte sich vor den herumfliegenden Splittern und Trümmerteilen, und als er wieder aufschaute, sah er, dass sich die Züge in- und übereinander geschoben hatten. So sagte er: in- und übereinander. In meinem Notizheft habe ich die wörtlich aus den Protokollen übernommenen Wendungen unterstrichen.

Die zerstörten Wagen standen quer zu den Gleisen. Montag lief vor zum Stationsgebäude, während Möhring zum Stellwerk ging, die Eisentreppe hochstieg, und als er eintrat, sah er zwei Männer, Lebrecht und Zeuner, und hörte, wie der eine ins Telefon rief: Haltet alle Züge zurück! Während der andere aus dem Fenster starrte, auf die über den Gleisen hängende Dampf- und Rauchwolke.

Alles, der ganze Bahnhof, vom Stellwerk bis zum Stationsgebäude, war in eine einzige Rauch- und Dampfwolke gehüllt.

Hübsch, der Dritte aus dem Packwagen, stand eine Weile wie betäubt da. Er sah hin, ohne zu begreifen, was er sah, duckte sich nicht, als die Trümmer durch die Luft flogen, rannte auch nicht weg, sondern starrte bloß vor sich hin, minutenlang, wie er glaubte.

Das Erste, woran er sich später erinnerte, war, dass er am Zug entlangging, nach vorn zur Lok, wo er Stuck traf, den Heizer. Und dass er ihn fragte: Wie konnte das passieren? Und dass Stuck antwortete: Wir haben Haltesignal bekommen. Stuck war noch da, bei der Lok. An ihn erinnerte sich Hübsch, während er sich an Ernst nicht erinnerte, den sah er nicht. Obwohl auch Ernst da war. Er lag, während Hübsch mit Stuck sprach, auf dem Boden im Führerstand. Als der Aufprall erfolgte, hatte er die Hand noch am Ventil der Schnellbremse.

Möhring blieb drei, vier Minuten im Stellwerk, stieg dann die Treppe hinab und ging zur Unfallstelle, über der Dampf- und Rauchschwaden trieben, und als er näherkam, sah er zum ersten Mal das ganze Ausmaß des Unglücks.

Der Packwagen, in dem er mit Hübsch und Montag gesessen hatte, war völlig zermalmt worden, desgleichen die beiden Wagen davor, die so überfüllt gewesen waren, dass er sich bei der Fahrscheinkontrolle nur mit Mühe einen Weg durch den Gang hatte bahnen können, der Wagen davor schließlich, der viertletzte, war zur Hälfte zusammengedrückt.

»Die Lokomotive des D 180 war auseinandergerissen und bildete zusammen mit mehreren Personen und den Schlafwagen beider Züge einen wüsten Trümmerhaufen.«

So seine Aussage am nächsten Morgen. Als ich sie zum ersten Mal las, dachte ich, dass diese Mensch und Materie gleichsetzende Beschreibung ein Zeichen von Gefühlskälte sei, um beim zweiten Lesen zu merken, dass sie das Entsetzen besser zum Ausdruck brachte, als es die Unterscheidung getan hätte. Seine Worte reduzierten die Personen auf das Stoffliche und zeigten dadurch, dass diese genauso zerstörbar waren wie jedes andere aus Stofflichem bestehende Ding. Und das war es, was das Erschrecken hervorrief. Dass sie nichts waren als Stoff, der zerrissen, zerquetscht, zerschnitten, durchlöchert, verbrannt werden konnte. Vielleicht war es sein Entsetzen darüber, das ihn diesen Satz sagen ließ.

Möhring hörte seine Schritte auf der Eisentreppe, diesen bei jedem Aufsetzen der Schuhe ertönenden Klingklang, hörte den unter seinen Schuhen wegrollenden Schotter. Doch als er zu der Stelle kam, an der sich die Wagen ineinandergebohrt hatten, hörte er nichts mehr. Es herrschte beinahe Totenstille, in der lediglich das Stöhnen der in oder neben den Trümmerhaufen liegenden oder sich krümmenden Verletzten zu vernehmen war. Die Stille zuerst, dann das langsam anschwellende Stöhnen, Jammern, Weinen, in das sich jetzt auch vereinzelte Schreie zu mischen begannen.

»Einige lösten sich aus den Trümmern, wälzten sich zwischen den Schienen oder wankten umher.«

Ein paar Leute, die unverletzt geblieben waren, standen herum. Als nach etwa zwölf Minuten, es können auch fünfzehn gewesen sein, noch immer keine Hilfe eingetroffen war, gingen sie zu einer neben den Gleisen verlaufenden Straße und riefen zu den Häusern hinüber um Hilfe. Andere begannen, die Verletzten zu einer Auffahrt zu tragen. Viele waren ohne Besinnung, und die, die noch bei Besinnung waren, froren und klagten über die Kälte.

Möhring schätzt, dass es zehn Grad unter Null waren.

Die Stille wird noch von jemand anderem erwähnt, einem namenlos gebliebenen Fahrgast, der unmittelbar danach aus einem der unzerstört gebliebenen Wagen geklettert und am Zug entlang zurückgegangen war.

»Es hatte die Wagen von den Gleisen gerissen, einige waren umgestürzt, aber es war so still, als wäre nicht das Geringste geschehen. Erst nach einer Weile, so nach ungefähr drei bis vier Minuten, nahm ich das Klagen wahr, das aus den zerstörten Wagen drang. Jetzt flackerten auch hier und da Brände auf. Aber zuerst war es ganz still.«

Eine Beobachtung, die, wie ich heute weiß, in fast allen Unfallberichten auftaucht. Beinahe vorwurfsvoll wird darauf hingewiesen, dass es danach ganz still war. Im besten Fall verwundert, in der Regel aber vorwurfsvoll oder sogar empört. Warum? Weil angesichts der durch den Unfall angerichteten Zerstörung die Stille als unpassend, ja, ungehörig empfunden wird? Als Hohn?

Als wäre nicht das Geringste geschehen – das ist der Schlüsselsatz. Ja, offenbar meinen die Zeugen, durch den Umstand, dass etwas geschehen ist (nämlich das! der Unfall, die Katastrophe), müsse die Natur in Aufruhr sein und, wie im Film, die zum inneren Zustand passenden Geräusche liefern. Aufbrausende Musik, schreiende Geigen, aufeinandergeschlagene Becken.

Der erste Arzt traf gegen ein Uhr dreißig ein.

Er stieg mit seiner kleinen Ledertasche aus dem Auto und kam zögernd, als glaubte er nicht, was er sah, quer über die Gleise, stand, ohne seine Tasche zu öffnen, ohne Hand anzulegen oder auch nur eine einzige Anweisung zu geben, einen Moment lang da, machte wieder kehrt und lief zum Auto zurück. Für Kruse, den zur selben Zeit ebenfalls an dieser Stelle eingetroffenen Reichsbahnassistenten, der sich als Stellvertreter des Bahnhofsvorstehers auf eine ungenaue Weise für alles verantwortlich fühlte, sah es aus, als flüchtete er vor diesem Anblick.

 

»Halt«, schrie er, »Herr Doktor!«

Aber der hörte nicht. Erst als er ihm nachrannte, blieb er stehen und stammelte, er könne nichts tun.

»Wo soll ich da anfangen? Ich hole Verstärkung.«

»Ist unterwegs«, erwiderte Kruse, fasste seinen Arm und führte ihn zurück. Und dachte dabei, ob das erlaubt sei, den Doktor festzuhalten, so kurz angebunden mit ihm zu reden. Er war deswegen betrübt und ein bisschen verängstigt.

Auch das steht in den Akten.

Kruse war es, der Alarm gegeben hatte, den offiziellen Alarm. Schon um 0 Uhr 56 … also muss er in dieser Nacht Dienst gehabt oder sich aus einem anderen Grund im Bahnhof aufgehalten haben, denn in drei Minuten kann er unmöglich den Weg von seiner Wohnung zur Station zurückgelegt und darüber hinaus die Situation erfasst haben – schon um 0 Uhr 56 also hatte er die Post angerufen und die beiden Worte gesprochen, die den Alarm auslösten.

»Schwerer Unfall!«

Sie standen, rot unterstrichen, in seiner Dienstvorschrift. Sie waren das Stichwort, der Schlüssel, der für den unwahrscheinlichen Fall der Katastrophe mit der Reichspost vereinbarte Code. Alles Weitere war nun Sache des in dieser Nacht Dienst habenden Postbeamten, der nach einem festgelegten Plan zu handeln hatte: das Alarmieren der Krankenwagen und Feuerwehren, die Anrufe bei den sechs Ärzten der Stadt, bei den Rote-Kreuz-Stellen, Sanitätskolonnen, privaten Kraftfahrzeugvermietern und SA-Dienststellen.

Während er die beiden Worte aussprach, schaute Kruse auf die Uhr und notierte die Zeit, sie stand später in seinem Bericht. Er war damals siebenundzwanzig und seit einem halben Jahr verheiratet. Er hörte ein Poltern auf der Treppe, Schritte auf dem Gang. Als Jentzsch hereinstürmte, der Stationsvorsteher, sein Vorgesetzter, wollte er aufspringen, entschied sich dann aber, sitzen zu bleiben.

Auch Jentzsch war innerhalb von Minuten am Bahnhof. Wie sie das machten, er und Kruse, ist mir ein Rätsel. Aber es war so. Denn schon um 1 Uhr 03 forderte er den Hilfszug Magdeburg an, der sofort abfuhr, aber zwischen Burg und Güsen mit einem Maschinenschaden liegen blieb und repariert werden musste, ehe er seine Fahrt fortsetzen konnte. Es war kurz vor drei, als er in Genthin ankam.

Nachdem sich der Zugführer bei einem Rundgang einen Eindruck über das Ausmaß des Unglücks verschafft hatte, setzte er sich in Kruses Büro an den Schreibtisch und rief in Berlin an. Er verlangte die Entsendung des Hilfszugs Grunewald. Nach dessen Eintreffen verständigten sich die beiden Zugführer darüber, dass sie weitere Unterstützung brauchten, und forderten auch noch den Hilfszug Seddin an, der am Mittag aus Perleberg eintraf.

Jeder Anruf, jede Abfahrt und jede Ankunft wurden in einem Schreiben der Kripo Magdeburg an das Reichssicherheitshauptamt Berlin, unter Nennung der genauen Zeiten, festgehalten.

Als Jentzsch hereinkam und zum Hörer griff, war Montag noch im Stationsgebäude. Er saß still auf einem Stuhl neben der Tür und sah, wie Jentzsch wählte und wie er sich, als er nicht gleich Anschluss erhielt, zu Kruse umdrehte, die Hand auf die Muschel legte und sagte, er solle den Wartesaal öffnen und Windfackeln zur Unfallstelle bringen, dazu an Verbandszeug, was er auftreiben könne.

»Ich komm mit«, sagte Montag und lief hinter Kruse her aus dem Zimmer.

Während sie, die Fackeln im Arm, die Verbandszeugsäcke über der Schulter, an den Gleisen langgingen, stierte Kruse vor sich hin, wohingegen Montag unentwegt redete. Er merkte es selbst, und es war ihm peinlich, aber er konnte nichts dagegen tun, die Worte fielen aus ihm heraus, sie stiegen aus seinem Mund, tanzten um ihn herum, und das Seltsame war, dass sie ohne jeden Zusammenhang mit dem Unglück standen. Auch das merkte er, war aber nicht imstande, seinen Redefluss zu stoppen. Die Fackeln waren zu einem Packen zusammengebunden. Die ganze Zeit über hielt Kruse den Packen in der Armbeuge, fast wie ein schutzbedürftiges Kind. Plötzlich ließ er ihn fallen und rannte zur Straße hinüber. Kurz darauf kam er zurück, und Montag, aus dem es noch immer redete, sah, dass er einen Mann hinter sich herzog, den er am Arm hielt.

Das war der Arzt, der wieder wegfahren wollte.

6

Als erste trafen die Feuerwehrzüge der Henkel- und der Silvawerke ein. Die Scheinwerfer, die sie, ohne die Erlaubnis des Luftgaus abzuwarten, aufgestellt hatten, warfen ein weißes Licht, das die Augen blendete, das Areal aber nicht ausleuchtete, überall gab es dunkle, wie in einem schwarzen Nebel versunkene Felder, aus denen das Stöhnen, Jammern und Rufen aufstieg. Aus Furcht, jemanden zu treten, wagte man kaum den Fuß aufzusetzen.

Lange und Wieland, Kriminalinspektor der eine, Kriminaloberassistent der andere, die vom Schwarzen Weg aus zu den havarierten Zügen hinüberschauten, sahen sofort, dass wenig zu machen war. Am besten würde es sein, sich zur Verhinderung von Diebstählen bis zum Tagesanbruch auf die Sicherung der Unfallstelle zu beschränken. Was aber geleistet werden musste, das war beiden klar, war die Identitätsfeststellung der Todesopfer. Schon seit einer Weile rollten die Wagen mit den Verletzten und Toten durch die Mützel- und die Bahnhofstraße, die von den Gleisen wegführten.

Bei der Adolf-Hitler-Straße (die in meiner Kindheit Ernst-Thälmann-Straße hieß und heute wieder Brandenburger Straße heißt) bogen sie rechts ab und erreichten nach ein paar hundert Metern das Johanniter-Krankenhaus, der Wagen mit den Verletzten fuhr rechts in den Hof hinein, während der Wagen mit den Toten geradeaus weiterfuhr, bis zur Turnhalle der Berufsschule, die an derselben Straße lag und in dem vorbereiteten Katastrophenplan als Todesopfersammelplatz ausgewiesen war.

Identitätsfeststellung? Lange, der wusste, dass er nicht darum herumkommen würde, nickte. Aber wie? Er schaute Wieland an. Nun, wie bei anderen tödlichen Unfällen auch: Abgleich der Personen mit den bei ihnen gefundenen Papieren, und da es so viele waren, würde man eine Aufstellung anfertigen müssen. Am besten versah man die Toten mit einer Nummer und trug sie zusammen mit ihren Namen in eine Liste ein.

Klar, dachte Lange, als er sich auf den Weg machte … was das anging, unterschied sich die Sache nicht von anderen Unfällen, aber das Ausmaß, die Art der Verletzungen … nein, es war doch etwas anderes.

Er ging durch die Bahnhofstraße, bog rechts ab, und als er bei Magnus vorbeikam, fiel ihm ein, dass er nur einen kleinen Block dabei hatte, der nicht ausreichen würde. Er brauchte einen großen Block oder besser ein Klemmbord mit ein paar DIN-A4-Blättern. Er wusste nicht, wie viele Opfer es gab, aber es war klar, dass es viele waren und dass es eine lange Liste werden würde. Für einen Moment sah er sein Spiegelbild im Schaufenster, ein dunkler Umriss, wandte sich um und ging den Weg zurück, am Marktplatz vorbei zu seiner Dienststelle.

Es ist die Liste, die am nächsten Tag in der Genthiner Zeitung abgedruckt wurde, die erste einer ganzen Reihe von Listen, die bereits den Namen enthielt, der mich lange beschäftigen würde, weil es der einzige ausländische war. Buonomo Giuseppe aus Neapel. Und ich hatte überlegt, was der Mann hier tat und wie es dazu gekommen war, dass er in diesem Zug saß.

*

Die Magdeburger trafen am frühen Morgen ein. Es war noch dunkel, die Bahnhofsuhr zeigte Schlag sechs. Kruse, der im Bedürfnis, sich nützlich zu machen, und aus Verzweiflung, es nur so wenig tun zu können, ständig zwischen Unfallstelle und Stationsgebäude hin und her lief, stand, eben in sein Büro zurückgekehrt, am Fenster und sah, wie der Wagen hielt.

Der Fahrer stieg aus und ging um das Auto herum, doch anstatt die Beifahrertür zu öffnen, starrte er am Gebäude vorbei, in Richtung der von den Scheinwerfern angestrahlten havarierten Züge. Das Licht half, aber es reichte nicht aus, an eine systematische Durchsuchung des Trümmerbergs, aus dem stundenlang das Klagen, Jammern, Stöhnen der Verletzten und Sterbenden drang, war nicht zu denken … während der Fahrer noch da stand und stierte, ging die Beifahrertür auf, und ein Mann wälzte sich heraus, hinter dem ein zweiter erschien, der auf der Rückbank gesessen hatte, ein großer dünner. Er wand sich aus dem Auto, und als er draußen war, streckte er sich, schob die Brille zurück und schaute am Haus hoch, zu dem Fenster, an dem Kruse stand, so dass dieser unwillkürlich einen Schritt zurücktat.

»Da sind sie«, sagte er.

»Wer?«, fragte Jentzsch.

»Die Magdeburger, möchte wetten, das sind sie.«

Worauf Jentzsch ans Fenster trat und sah, wie der Ältere einen Hut aufsetzte, den er in der Hand gehalten hatte, während der Jüngere neben den Fahrer trat. Die beiden waren ihm vor einer Stunde avisiert worden, und er hatte gedacht, dass es am besten sei, sie im Eckzimmer unterzubringen, dem größten im Obergeschoss, dort gab es zwei Schreibtische.

Der Fahrer ging ums Auto herum, öffnete den Kofferraum und nahm einen Karton heraus, es war das Behältnis, in dem sich die Reiseschreibmaschine befand, die von Seidel & Naumann gebaute Erika, die Wagner, wenn es sich einrichten ließ, mitzunehmen pflegte … immer wieder geschah es nämlich, dass er in den Kleinstadtpolizeidienststellen zum Protokolltippen an eine lahmende Maschine verwiesen wurde, an eine Krücke mit verbogenen und sich bei jedem Tastenschlag verhakenden Typenhebeln. Besser, man hatte sein Handwerkszeug dabei. Es war seine eigene, von eigenem Geld erstandene, in einen Lederkoffer eingepasste Maschine. Der Fahrer trug sie die Treppe hoch, und die beiden, Heinze und Wagner, folgten ihm.

Wieland kannte sie flüchtig, den immer breiter und schwerer werdenden, seiner Pensionierung entgegensehenden Heinze, und den trotz seiner bald vierzig Jahre, wohl auf Grund seiner Schlaksigkeit, jugendlich wirkenden Wagner, seit langem bildeten sie ein Gespann.

Als er sie in der beginnenden Dämmerung über die Unfallstelle führte, merkte er, dass Heinze so kurzatmig geworden war, dass er alle paar Meter stehen blieb, während Wagner ständig den Kopf schüttelte, als wollte er seiner Missbilligung über das Gesehene Ausdruck geben. Wie zum Schutz vor dem Anblick hatte er den Mantelkragen hochgeschlagen und die Hände in die Taschen gebohrt. Als er die Brille abnahm und in die Tasche schob, glaubte Wieland, das Entsetzen zu bemerken, das sich auf seinem Gesicht abzeichnete. Heinzes Gesicht konnte er nicht erkennen, es lag im Schatten der Hutkrempe. Er war bloß im Anzug, seinen Mantel hatte er in der Station gelassen, aber er schien nicht zu frieren. Sie standen noch draußen, zwischen Station und Unfallort, als er fragte:

»Wer kümmert sich um die Toten?«

Es war gegen acht, über den Häusern auf der anderen Bahnhofseite zeigte sich ein rötlicher Streifen.

»Lange«, antwortete Wieland.

Worauf Heinze sich umschaute und sagte: »Allein?«

Natürlich nicht. Wieland wusste, dass er zwei Schutzleute mitgenommen hatte. Außerdem waren die Einsarger unterwegs, sie kamen aus Berlin und würden am Vormittag eintreffen.

*

Um diese Zeit herum muss Lisa ein paar hundert Meter weiter vorbeigegangen sein und in die Bahnhofstraße hineingeschaut haben. Normalerweise benutzte sie für den Weg zur Arbeit sommers wie winters das Rad. An diesem Morgen aber ging sie der Kälte wegen zu Fuß. Sie nahm die Abkürzung durch die Gärten (zwischen denen ich sie später mit dem Begabten sah), bog hinter der Kirche auf die Altenplathower Straße und stapfte dann durch den Park, um kurz vorm Kanal auf die Chaussee zu stoßen, die über die Brücke in die Stadt hinein führt.

Es war noch dunkel, als sie aufbrach, erst oben, nach Aufstieg zur Brücke, sah sie nach Osten hin einen Streifen Licht und tauchte dann nach dem Abstieg zur Mühlenstraße wieder ins Dezembergrau ein, und als sie kurz vor Magnus in die Bahnhofstraße hineinschaute, sah sie die Scheinwerfer.

Ihre Arbeit begann um acht Uhr dreißig.

Seit dem Unglück waren acht Stunden vergangen, noch längst nicht waren alle Opfer geborgen. Bis zum Abend kamen die Wagen mit den Toten und den Verletzten die Bahnhofstraße hinauf und fuhren bei Magnus vorbei zum Krankenhaus, zur Turnhalle. Jedes Mal, wenn sie ein Auto hörte, wird sie den Kopf gehoben und zum Fenster geschaut haben.

*

Die Turnhalle der Berufsschule war ein roter Klinkerbau mit großen Fenstern, auf dessen Boden der Hausmeister gleich, als er hörte, wofür der Bau gebraucht wurde, Sägespäne verteilt hatte. Es war die einzige Halle der Stadt, die beheizt werden konnte, weshalb sie im Winter auch von den Schülern der anderen Schulen genutzt wurde. Sie zogen mit ihren Turnbeuteln in Zweierreihen über den schmalen Bürgersteig der Großen Schulstraße zur Berliner Chaussee und kamen, nachdem sie sich umgezogen hatten, in einen großen warmen Raum mit einem federnden Holzboden.

 

Jetzt freilich war das Heizen zu unterlassen, auch daran hatte Lange gedacht, als er in der Nacht zum Revier gegangen war, um sich mit Schreibzeug einzudecken, daran, dass er sich mit dem Hausmeister absprechen musste … nicht dass der auf die Idee kam, den Ofen anzuwerfen. Bloß keine Wärme. Und dann war ihm noch etwas eingefallen: Die Wertsachen, die Leute hatten ja Geld dabei, Uhren, Ringe, Schmuck … alles musste sichergestellt und verwahrt werden. Aber wie? Umschläge? Große, aus festem Papier gefaltete Umschläge, Couverts in verschiedenen Größen. Ja, am besten hob man die Sachen in solchen Umschlägen auf. Das Nachdenken darüber lenkte ihn von dem Grauen ab, das (wie er wusste) auf ihn zukam.

In dem Bericht, den Wieland, Langes Vorgesetzter, am 28. Dezember verfasste, schreibt er, dass am 22. Dezember, bis 24 Uhr, 126 Tote bezeichnet und zum Teil festgestellt waren, was wohl meint: mit Nummern versehen und identifiziert.

Da immer mehr Tote gebracht wurden, die Turnhalle aber bereits am Abend gefüllt war, veranlasste er am nächsten Morgen, dass die Glashalle des Schützenhauses beschlagnahmt und ebenfalls für die Aufnahme von Toten hergerichtet wurde. Auch diese Halle war am Abend zur Gänze belegt.

Am Nachmittag muss es zu einem kleinen Aufstand gekommen sein: Die aus Berlin herbeigeholten Einsarger, aber auch Beamte des Erkennungsdienstes weigerten sich, ihre Arbeit fortzusetzen, weil ein dauernder Mangel an Gummihandschuhen bestand und die Männer ohne diesen Schutz die Leichen nicht anfassen wollten.

Da die Ortspolizei nicht nachkam, erfolgte die erkennungsdienstliche Behandlung seit dem frühen Nachmittag des 22. durch Beamte der Kripo Magdeburg. Zu diesem Zweck wurden die unbekannten Toten aus der Turnhalle zum Schützenhaus gebracht, desgleichen Personen, die, ohne dass ihre Identität hatte festgestellt werden können, im Krankenhaus gestorben waren. Am 27. Dezember waren alle Toten, soweit als männlich oder weiblich erkannt, in Listen erfasst. Von den 185 festgestellten Toten waren bis zu diesem Zeitpunkt 161 namentlich bekannt; 24 blieben unbekannt. Von letzteren sind inzwischen weitere 10 bekannt geworden. Nach dem 27. Dezember ist eine weitere Person im Krankenhaus verstorben.

Und dann folgt eine seltsame Bemerkung, die ich ebenfalls wörtlich wiedergebe: Weitere 73 Personen sind hier als vermisst gemeldet, die jedoch in der Toten- und Krankenhausliste nicht aufgeführt sind.

Was heißt das? Dass sie einfach verschwunden sind? Oder dass sie als vermisst gemeldet wurden, später aber wieder aufgetaucht sind? Dass bloß vermutet wurde, sie hätten in einem der Unglückszüge gesessen, während sie tatsächlich in einem anderen Zug saßen? Oder dass sie die Reise zwar geplant, aber nicht angetreten hatten?

73 ist eine enorme Zahl. Dieser Satz bleibt ein Geheimnis.

*

Einer der beiden Geistlichen, die am Morgen über die Unfallstelle gingen, bezeichnete die aus dem Trümmerberg aufsteigenden Laute als Klagegesang. Er glaubte ein Jammern und Heulen zu hören. Tatsächlich aber hatte die Kälte dafür gesorgt, dass keiner, der zu diesem Zeitpunkt unversorgt unter den Trümmern lag, noch am Leben war. Weshalb es kein Gesang gewesen sein kann, was er hörte, sondern eisige Stille.

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