Besichtigung eines Unglücks

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7

Nach ihrer Rückkehr von der Unfallstelle war Heinze und Wagner klar, dass das Lokpersonal des D 180 unter den Todesopfern sein musste, unvorstellbar, dass es den Aufprall überlebt hatte … wurden aber von Kruse eines Besseren belehrt: Nein, nein sie lebten. Sie stiegen gerade die Treppe hinauf, Wagner voran, ihm folgte der Kriminalrat, der seinen mächtigen Leib mühsam die Stufen hoch wuchtete. Als letzter ging Kruse, von dem langsamen Heinze immer wieder ausgebremst. Wagner blieb stehen.

»Wie?«, rief er. »Sie leben?«

»Ja.« Kruse nickte, an Heinze vorbei.

Sie lagen im Krankenhaus. Die gewaltige Eisenramme, die sie in Form des Kessels vor sich her schoben, hatte die letzten Wagen des anderen Zugs zermalmt oder von den Schienen gehoben, ihnen aber den zum Überleben nötigen Schutz geboten. Knochenbrüche, Verbrennungen, Quetschungen, Abrisse – keine Scheußlichkeit, die sie sich nicht zugezogen hatten. Aber sie lebten … fünfzig Prozent gaben ihnen die Ärzte. An eine Vernehmung war nicht zu denken. Folglich musste die Frage, warum sie mehrere Signale überfahren hatten, unbeantwortet bleiben, zunächst jedenfalls. An der Tatsache selbst aber gab es nach der noch in der Nacht durch Jentzsch erfolgten Einvernahme von Ackermann und Wustermark, die den Zug zu stoppen versucht hatten, keinen Zweifel.

Also konzentrierten sich Heinze und Wagner auf die andere Frage: Warum der D 10 gehalten hatte, beziehungsweise, warum er sich überhaupt in Reichweite des Nachfolgezugs befand und nicht schon viel weiter war auf seinem Weg nach Westen, der in Düsseldorf, respektive Köln hätte enden sollen. War es möglich, dass er gestoppt worden war? Hatte er vom Stellwerk ein Signal bekommen? Lebrecht hatte das, danach gefragt, bestritten. Als sie die Treppe hochkamen, saß er, die Mütze in der Hand, vor Jentzschs Büro auf der Bank. Kruse hatte ihn herbefohlen.

»Kommen Sie!«, sagte er und schob Lebrecht hinter Heinze und Wagner her ins Eckzimmer.

Aber Lebrecht blieb dabei. Im Wesentlichen wiederholte er seine Jentzsch gegenüber gemachte Aussage: Der D 10 sei unter seinem Fenster durchgefahren, er habe seine Schlusslichter gesehen und das Klappen der Streckentastensperre gehört, das Fenster habe er erst nach Ackermanns Aufforderung, den D 180 zu stoppen, aufgerissen. Zeuner, der dabei war, sei sein Zeuge.

Ob er sich eine Verwechslung vorstellen könne.

»Eine Verwechslung?«

Ob er den D 10 für den D 180 gehalten haben könne.

»Nee, wieso? Der war doch längst durch.«

Blick zu Kruse. Der nickte. Ja, das hatte ihm Zeuner bestätigt.

Na gut, dann sei er entlassen. Worauf Lebrecht aufstand und zur Tür ging. Als er sie öffnete, sah Wagner einen Mann, der an der gegenüberliegenden Gangwand lehnte. Es war Zeuner. Wagner kannte ihn nicht, aber am nächsten Morgen, bei Lebrechts zweiter Vernehmung, würde er ihn wiedersehen und sich daran erinnern, dass er ihn mit zusammengekniffenen Augen gemustert hatte.

Kruse fand Ernst, den Lokführer des D 10, in der Bahnhofshalle. Er saß inmitten der unverletzt gebliebenen Fahrgäste, die auf einen Ersatzzug warteten, im Schneidersitz auf dem Fußboden. Der unter den Schuhen hereingetragene Schnee war getaut und hatte schmutzige Pfützen auf den Fliesen hinterlassen, aber das schien ihn nicht zu stören. Das Pflaster, mit dem sein Kopfverband befestigt war, hatte sich gelöst, so dass das Ende locker herabhing. Er versuchte es unter die Mullbinde zu schieben, aber jedes Mal rutschte es wieder heraus.

Der Zug war grade zum Stehen gekommen, als es einen gewaltigen Stoß gegeben hatte. Er war mit dem Kopf gegen die Rückwand des Führerstands geflogen und wieder nach vorn geschleudert worden. Das Verrückte aber war, dass er im selben Moment an den Zug gedacht hatte, der ihnen folgte. Daran, dass er ebenfalls in Belicke warten musste. Und als er aufstehen wollte, hatte er gemerkt, dass er mit der linken Hüfte zwischen Steuerrad und Bremsventil eingeklemmt war, so dass er Stuck rufen musste, der ihn herauszog. Bei der Untersuchung im Krankenhaus hatte sich gezeigt, dass er bis auf die Platzwunde am Kopf und eine Rippenprellung unverletzt geblieben war.

»Wo ist Stuck?«, fragte Kruse, als er herantrat, »Ihr Heizer.«

Ernst wies mit dem Kopf zur Tür. Kruse ging hinaus und winkte Stuck heran.

»Kommen Sie«, sagte er, »die Magdeburger haben ein paar Fragen.«

»Die Magdeburger?«

»Die Kriminalen.«

Er stieg mit ihnen die Treppe hinauf, wobei er das Gefühl hatte, Stuck ziehen zu müssen. Er war ebenfalls durch den Führerstand geschleudert worden, aber offenbar unverletzt geblieben. Oder meinte, dass es sich, angesichts der in der Nacht gesehenen Verletzungen nicht lohnte, darüber zu reden. Während Ernst ihm müde, aber bereitwillig folgte, spürte er bei Stuck einen sich in jedem Wort, in jeder Regung äußernden Widerstand. Dauernd blieb er stehen, schaute sich um, machte wieder einen Schritt, sprang dann plötzlich, drei Stufen auf einmal nehmend, an ihnen vorbei und lief den Gang hinab, den Kopf gesenkt, heftig schnaubend. Er war ein riesiger Mensch, bald zwei Meter groß, und füllte den Gang fast vollständig aus. Vorm Eckzimmer zwängte sich Kruse an ihm vorbei und drückte die Klinke herab. Die beiden traten ein, während er wieder die Treppe hinabstieg.

»Wir müssen über den Halt sprechen«, sagte Heinze.

»Mir klar«, erwiderte Ernst und setzte sich auf den Stuhl, den Wagner ihm hinrückte. Stuck, der zu nervös (oder zu widerständig) war, um sich zu setzen, blieb in der Tür stehen. Wagner betrachtete ihn. Der Heizer war nicht viel größer als er, hatte aber das Doppelte seines Umfangs. Das sei, sagte er, um die Anspannung zu lockern, keine Vernehmung, sondern eine Befragung. Aber natürlich hatte jede Befragung, die unter solchen Umständen stattfand, den Charakter einer Vernehmung. Das wussten Heinze und Wagner, und die Eisenbahner wussten es auch.

»Also«, sagte Ernst und schaute Heinze an.

Aber anstatt mit dem Halt anzufangen, begann der mit der Verspätung. Wie es dazu gekommen sei.

»Wie?,« rief Ernst. »Ist doch klar. Weil so viel los war. Wegen dem überstarken Personenverkehr.«

Aber das war nicht der einzige Grund. Hinzu kam die Verdunklung, durch die das Ein- und Aussteigen länger dauerte als im Fahrplan vorgesehen. Die Verdunklung nannte Ernst nicht. Weil das als Kritik ausgelegt werden konnte? Die von der Reichsregierung angeordnete Maßnahme zum Schutz vor feindlichen Fliegern soll schuld sein? Zu dieser Aussage ließ er sich nicht hinreißen. Auch um den anderen Grund für die anwachsende Verspätung machte er einen Bogen: die außerplanmäßigen Halts auf freier Strecke und das schwere Anfahren des überladenen Zugs, das darauf folgte. Wusste er von dem vor ihm auf der Strecke liegenden Militärzug, der ebenfalls überladen war? Vermutlich, aber er erwähnte ihn nicht. Das schien ihm nicht ratsam.

Wagner, der mit dem Stuhl hin und her kippelte, hielt einen Moment inne und nickte.

Gustav Ernst ist, den Unterlagen zufolge, damals 56 Jahre alt und fährt seit 1918 als Lokführer, seit einigen Jahren auch auf Schnellzügen. Seine Personalakte weist keinen einzigen Eintrag auf. Noch nie hatte er sich eines Verstoßes gegen die Betriebsordnung schuldig gemacht, noch nie hatte er einen Unfall verursacht. Erwähnte er das? Ja, in diesem Moment, in dem er sich als beschuldigt empfand, wies er darauf hin.

»Noch nie!«, sagte er zu Wagner, der sich wieder Notizen zu machen begonnen hatte, beugte sich vor und klopfte mit dem Finger auf den Tisch.

»Schreiben Sie das in Ihr Protokoll!«

»Natürlich«, rief Stuck, der seinen Platz an der Tür aufgegeben hatte und zum Ofen hinübergewechselt war, er lehnte sich mit dem Rücken dagegen, stieß sich aber gleich wieder ab und trat ans Fenster. Er war 46 Jahre alt und stammte aus Ratibor in Oberschlesien. Wenn er »natürlich« sagte, klang es wie »natierlich«.

Heinze schaute Stuck an, wandte sich wieder dem Lokführer zu. Und kam jetzt auf den Halt sprechen.

»Der Halt«, sagte er. »Ich verstehe nicht, warum Sie gehalten haben.«

»Na, wegen dem roten Licht.«

»Sie haben rotes Licht bekommen?«

»Stuck sah es zuerst. Halt, rief er, halt an, der winkt mit rotem Licht.«

Stuck stand noch immer am Fenster, die Hand auf dem Knauf.

»Is’ so«, bestätigte er. »Ich kann es nicht genau sagen, aber wir waren bestimmt noch hundert Meter vorm Stellwerk, als ich durch meine Vorderscheibe Winksignale sah mit rotem Licht.«

»Haltesignal?«

»Watten sonst?«

»Und Sie täuschen sich nicht?«

»Uff keenen Fall.«

Nachdem die beiden entlassen worden waren, nahm Wagner die Haube von seiner Schreibmaschine, spannte einen Bogen Papier ein und zog die Notizen heran. Aber nachdem er das Datum getippt hatte, ließ er die Arme sinken und schaute zu Heinze hinüber, der an seinem Tisch saß und mit dem Bleistift Figuren aufs Papier malte.

»Soll ich ihn herholen?«, fragte Wagner.

»Lebrecht?«

Wagner nickte.

»Ja«, sagte Heinze. Doch dann fiel ihm ein, dass er gehört hatte, wie Jentzsch ihn nach Hause geschickt hatte. Jeder Mann wurde gebraucht, aber offenbar dachte er, dass mit ihm ohnehin nichts anzufangen sei. Dann eben am nächsten Morgen. Wenn er zum Dienst käme, würden sie ihm Stucks Aussage vorhalten. Doch als sie eine Stunde danach die Treppe hinabstiegen, trafen sie Kruse, der ihnen erzählte, Lebrecht würde erst am Abend zum Dienst erscheinen.

Kruse wollte eben nach Hause gehen, er war in Mantel und Mütze. Während sie miteinander sprachen, hielt er sich am Geländer fest und blickte sie aus rot unterlaufenen Augen an. Er war seit über dreißig Stunden auf den Beinen. Warum sie nach Lebrecht fragten. Weil sie ihn gern am Morgen sprechen würden. Worauf er sich erbot, bei ihm vorbeizufahren. Es sei nur ein kleiner Umweg. Er wohne in der Gutenberg-, Lebrecht in der Beethovenstraße.

 

»Wann?« fragte er.

»Sagen wir um acht.«

Obwohl in Zivil, legte Kruse die Hand an die Mütze. Als sie auf die Straße traten, sahen sie ihn bei den Fahrradständern. Er klemmte die Tasche unter den Gepäckträgerbügel, zog sein Rad heraus, schwang sich auf den Sattel und fuhr in die Bahnhofstraße hinein. Von der Unfallstelle drang grelles Scheinwerferlicht herüber. Irgendwann war ihnen ein Zettel hereingereicht worden, auf dem nur zwei mit Maschine getippte Zeilen standen: Hinsichtlich der Nichtabschirmung der Lichtquellen wurde vom Luftgau die Genehmigung erteilt. Wagner hatte den Zettel gelesen und ihn zu Jentzschs Büro hinübergebracht. Jetzt waren auch die Kräne da, auf die alle gewartet hatten, der kleine aus Berlin und ein großer aus Bremen. Einen Moment standen sie da und sahen, wie der Ausleger mit einem lauten Kreischen über die Gleise schwenkte.

*

Es war ein langgestrecktes Haus mit drei Torbögen, in dem Lebrecht wohnte. Trotz der Kälte stand die Tür offen, ein unters Türblatt geschobener Holzkeil verhinderte, dass sie ins Schloss fiel, des Geruchs wegen, dachte Kruse, im ganzen Haus stank es nach Kohl. Er stieg die Treppe hoch, klingelte, gleich darauf wurde geöffnet, Lebrechts Frau erschien in der Tür.

»Herr Kruse«, sagte sie und zog ihn in die Wohnung.

Kaum hatte sie die Tür geschlossen, begann sie zu erzählen, die ganze Unfallgeschichte, so wie Lebrecht sie ihr berichtet hatte. Sie war eine kleine rundliche Frau, die zwei Kinder groß gezogen hatte, Jungen, von denen der eine bei Kriegsbeginn einberufen worden war, während der andere in Kirchmöser eine Lehre machte, Maschinenbau. Sie schaute Kruse von unten herauf an.

»So war et doch, oder?«

Ja, so ungefähr. Aber es berührte ihn unangenehm, das alles aus dem Mund dieser Frau zu hören. Deshalb nickte er bloß. Als er Lebrecht in die erleuchtete Küchentür treten sah, sagte er: »Die Magdeburger wollen Sie morgen sprechen.« Und setzte, da der nicht antwortete, hinzu: »Am Morgen um achte.« Danach, schon im Umdrehen: »Will ich hiermit ausgerichtet haben.«

Und ging wieder, obwohl er spürte, dass Frau Lebrecht wünschte, er würde bleiben. Sie wollte hören, was er über den Unfall dachte. Zweifellos wäre es ihr eine Beruhigung, wenn er sagte: Ihren Mann trifft keine Schuld. Oder wenn er durch seine Anwesenheit zu erkennen gäbe, dass die Bahnhofsleitung ihrem Mann gewogen blieb. Und das war es auch, was Kruse vorgehabt hatte. Als er anbot, bei Lebrecht vorbeizufahren, wollte er nachholen, was seiner Meinung nach zu kurz gekommen war: dem Mann in dieser schwierigen Situation ein Zeichen der Wertschätzung zu geben, ihm zu zeigen, dass keiner an seiner Zuverlässigkeit zweifelte. Das gehörte sich so. Das war, fand er, eine Frage der ihrem Mitarbeiter geschuldeten Fürsorge.

Nun aber, da Lebrechts Frau um ihn herumwuselte (während der bloß vor sich hin stierte), spürte er wieder, wie schon im Treppenhaus, nur stärker, diesen Geruch … ja, da war dieser dumpfe, die Wohnung, das ganze Haus durchdringende Gestank, wie von vergammelnden Putzlappen … und hatte nur noch den Wunsch, wegzukommen, raus hier, zurück auf die Straße, in die allen Gestank und alles Geschwätz tilgende Kälte. Und lief die Treppe hinab. Unten aber ging er nicht etwa weiter oder, besser, zurück zur Zeppelinstraße, in der er sein Rad abgestellt hatte, sondern trat durch den Torbogen, durch den man in den Hof mit den Schuppen und Kaninchenställen gelangte. Er wusste selbst nicht, warum. Eine Weile stand er da in der Dunkelheit und schaute zu den Fenstern der Lebrechtschen Wohnung hoch, bis er die Kälte spürte, die in seinen Kragen kroch.

*

Heinze und Wagner wollten am Abend nach Magdeburg zurückfahren und am Morgen wiederkommen, so war es vorgesehen, aber da sie am Nachmittag hörten, dass der Wagen, der sie hergebracht hatte, nicht mehr zur Verfügung stand und da die Züge noch nicht wieder fuhren, entschlossen sie sich zu bleiben. Gab es ein Hotel? Jentzsch schlug ihnen Tennsfeld vor, Hotel Tennsfeld, Mühlenstraße, und als sie zustimmten, hatte er Kruse gebeten, zwei Zimmer zu reservieren.

Auf dem Weg dorthin trafen sie Sauerwein, den Sachverständigen, der eben von Block Belicke zurückgekehrt war, wo er zuerst im Hellen, dann, nach Einbruch der Dunkelheit, beim Licht der nach oben hin abgeschirmten Handlampen Untersuchungen an der Signalanlage durchgeführt hatte. Da er, obwohl motorisiert, ebenfalls bei Tennsfeld untergekommen war, hatten sie denselben Weg. Eingangs der Mühlenstraße kamen sie an einem Optikerladen vorbei, als Wagner, gegen jede Vorschrift, sagte, es sehe aus, als hätte der Stellwerker den D 10 aus Versehen angehalten.

Worauf Sauerwein nickte und erwiderte: »Vier Sekunden.«

»Wie meinen Sie das?«

Sauerwein blieb stehen. Ihm war schon am Mittag zu Ohren gekommen, dass der D 10 noch hundert Meter vorm Stellwerk war, als er das Haltesignal bekam. Daraufhin hatte er nachgerechnet.

»Sehen Sie«, sagte er. »Der Zug hatte eine Geschwindigkeit von 80 km/h. Hätte er das Stellwerk vier Sekunden früher erreicht oder hätte der Mann das Signal vier Sekunden später gegeben, wäre er am Stellwerk vorbei gewesen. Dann hätte der Heizer das Signal nicht mehr sehen können, und es wäre, vermutlich, nicht das Geringste passiert.«

Am nächsten Morgen gingen sie den umgekehrten Weg.

Heinze hielt die Hände auf dem Rücken, wodurch sich sein Bauch noch mehr vorwölbte, als er es ohnehin schon tat. Die Zeigefinger hatte er ineinandergehakt und behauptete, als Wagner fragte, wie er geschlafen habe, gut, er habe gut geschlafen, aber das stimmte nicht.

Sie hatten lange mit Sauerwein zusammengesessen und waren erst gegen halb zwei ins Bett gekommen. Heinze war auf der Stelle eingeschlafen, aber nach einer Stunde wieder wach gewesen. Der Harndrang. Die Toilette lag am Gangende, er tappte barfuß über den Läufer, und als er zurückkam, war er so munter, dass an Schlaf nicht zu denken war. Das kannte er. Also lesen. Fast könnte man sagen, dass es zu seinen Unterwegsritualen gehörte: einschlafen, wach werden, auf die Toilette gehen, die Bibel aus dem Nachtschrank nehmen, lesen, wieder einschlafen. Doch als er nach der Nachttischlampe tastete, merkte er, was ihm beim Zubettgehen nicht aufgefallen war: dass es keine gab, keine Nachttischlampe, nur die dreiarmige Deckenleuchte, deren trübes Licht zum Lesen nicht reichte, und so lag er im Dunkeln und schaute an die Decke, um erst gegen Morgen wegzudämmern … nun, unterwegs zum Bahnhof, spürte er jeden Muskel, jede Sehne, jeden Knochen. Nicht nur den Rücken, der ihm ohnehin wehtat, sondern auch die Knie, die Ellbogen. Doch das sagte er nicht. Es war ihm nicht gegeben, sich zu beklagen. Er war, auch wegen seiner Rückenschmerzen, häufig missmutig, aber wenn man ihn nach seinem Befinden fragte, sagte er in knappem Kasernenton: Danke, gut! Er war kein Anhänger des Militärs, aber diesen Ton beherrschte er.

Der Wind, der ein wenig Schnee mit sich führte, kam von vorn und kühlte sein heißes, vom Schnaps gerötetes Gesicht. Angenehm. Doch als er sich an die Stirn fasste, merkte er, dass er den Hut vergessen hatte; er hing in der Gaststube. Da hängt er gut, dachte er und überlegte, ob er zurückgehen und ihn holen sollte. Aber da bogen sie schon in die Poststraße ein, und als sie, kurz vorm beschrankten Übergang, zur Bahnhofstraße kamen, sahen sie wie am Vorabend den Ausleger des großen Krans, der von den Scheinwerfern angestrahlt wurde.

Lebrecht kam pünktlich um acht. Er klopfte, und als er eintrat, merkte Wagner, der sich gerade am Ofen zu schaffen machte, dass er (wie um zu zeigen, dass er dienstfrei hatte) in Zivil war. Der graue Anzug, den er trug, war um die Schultern zu eng, und am Revers hing das rote Parteiabzeichen. Mantel und Mütze hatte er an einen der Haken im Flur gehängt. Unter seinem Haaransatz zog sich von der im Sommer bei der Gartenarbeit getragenen Mütze her ein weißer Streifen über die Stirn.

»Ah, Herr Lebrecht«, sagte Wagner. »Setzen Sie sich.«

Lebrecht warf Heinze, der bei seinem Eintreten nicht aufgeschaut, sondern weiter in seinen Unterlagen geblättert hatte, scheinbar darin vertieft, einen scheuen Blick zu und blieb stehen. Erst als Heinze, grußlos, mit der Hand auf den Stuhl zeigte, trat er heran und setzte sich.

»Herr Lebrecht«, sagte Heinze, »wo war der D 10, als Sie dem D 180 Haltesignal gaben?«

Lebrecht war über diese Eröffnung so verblüfft, dass er sich zu Wagner umdrehte. Offenbar hatte er erwartet, dass der sich, wie tags zuvor, an die Schmalseite des Tisches setzen und mitschreiben würde. Aber Wagner blieb stehen und sah ihn teilnahmslos an.

»Der war schon vorbei«, sagte er schließlich.

»Vorbei am Stellwerk?«

»Ja, in Richtung Station.«

Heinze tat, als blätterte er in seinen Papieren.

»Stuck, der Heizer des D 10, sagt aber aus, dass er noch hundert Meter vorm Stellwerk war, als er rote Haltesignale bekam.«

»Von mir nicht.«

»Von wem sonst?«

Lebrecht zuckte mit den Schultern.

»Kann es nicht sein«, sagte Wagner, »dass Sie den D 10 mit dem D 180 verwechselt haben?«

Lebrecht wandte den Kopf, um zu sehen, woher die Stimme kam. Wagner lehnte, die Arme verschränkt, am Ofen. Lebrecht musterte ihn.

»Nee, nee. Kommt gar nich in Frage, det ick plötzlich schuld sein soll.« Und drehte sich wieder zu Heinze um. »Nee, so nich. Nich mit mir.«

Worauf Heinze Wagner ein Zeichen gab.

Ernst und Stuck waren über Nacht bei der Lok geblieben. Lokwache, hatte Stuck gesagt. Wozu das gut sein sollte, war Wagner schleierhaft. Das Ding würde doch keiner klauen …. wie auch immer … sie brauchten die beiden. Sie wohnten in Berlin, Ernst in Charlottenburg, Stuck im Wedding. Und es war ihnen recht, dass nicht sie es waren, die sie in der Unglücksstadt festhalten mussten. Vor der Einvernahme von Lebrecht hatte sich Wagner auf den Weg zum Lokschuppen gemacht und Stuck tatsächlich gefunden. Um neun, hatte ihm Heinze aufgetragen.

»Um neun«, hatte Wagner zu Stuck gesagt, »und warten Sie draußen.«

Doch als Wagner ihn holen wollte, konnte er ihn nirgends entdecken. Seine Joppe hing neben Lebrechts Mantel, aber von ihm selbst keine Spur. Die Bank war leer. Er ging vor zur Treppe, und da sah er ihn. Stuck saß auf der Stufe über dem mittleren Treppenabsatz und hielt sich die Ohren zu, jedenfalls kam es Wagner so vor. Er presste die Hände gegen den Kopf, und als Wagner heran war, merkte er, dass er die Augen geschlossen hielt.

»Herr Stuck«, sagte er.

Stuck öffnete die Augen und blickte ihn an, aber so, dass Wagner nicht sicher war, ob er ihn sah oder nicht durch ihn hindurchschaute.

»Herr Stuck«, sagte er vorsichtig. »Herr Stuck, ist alles in Ordnung?« Stuck nickte.

»Wollen wir mal?« Und da Wagner das Gefühl hatte, dass Stuck nicht verstand, worum es ging, setzte er hinzu: »Wir waren verabredet. Erinnern Sie sich?«

Erst da stand Stuck auf und stieg wortlos vor Wagner die Treppe hoch.

Als sie hereinkamen, sprang Lebrecht auf und wollte zur Tür hinaus. Offenbar glaubte er, er sei entlassen. Aber Heinze winkte ihn zurück und bedeutete ihm, wieder Platz zu nehmen.

»Nein, nein, bleiben Sie!«

Wagner rückte einen zweiten Stuhl heran, und tatsächlich setzte sich Stuck, aber so, dass er fast auf dem Stuhl lag, die Beine weggestreckt, die Arme über der Brust verschränkt. Lebrecht saß neben ihm, eingezwängt in seinen Anzug, und zupfte an den Manschetten herum.

»Herr Stuck«, begann Heinze.

Und hielt ihm Lebrechts Aussage vor. Stuck schüttelte, ohne aufzusehen, den Kopf.

»Ist es nicht möglich, dass Sie sich geirrt haben? Dass das rote Licht woanders herkam.«

Aber Stuck erwiderte dasselbe wie am Tag zuvor:

»Nein, kein Irrtum. Ich irre mich nicht. Das Licht kam oben aus dem Stellwerk. Und zwar«, hier setzte er sich auf und hob seinen langen Arm, »durch anhaltendes Schwingen im Kreis.«

Heinze blickte Lebrecht an, der aufmerksam zugehört hatte.

»Nun, Herr Lebrecht?«

Es schien, als duckte der sich. Und dann sagte er den Satz, über den Wagner später lange nachdachte, weil er ihm, obwohl kleinlaut daherkommend, als der Inbegriff des Bösen erschien.

»Wenn Stuck det so sacht. Warum sollt’ er lügen? Wa?«

Stuck hörte den Satz auch, sein Kopf lief rot an. Wagner glaubte, er würde sich auf Lebrecht stürzen, weshalb er rasch einen Schritt vortrat und sich zwischen die beiden stellte. Aber Stuck schüttelte bloß den Kopf und sagte etwas, das Wagner nicht verstand, Heinze aber sehr wohl und ihm später mitteilte.

 

Stuck sagte: »Die vielen Toten.«

Und fing an zu weinen.

Lebrecht saß mucksmäuschenstill auf seinem Stuhl und stierte vor sich hin. Da nahm Wagner Stuck am Arm und führte ihn hinaus. Heinze schaute auf seine Hände und nickte.

»Kommen Sie«, sagte er dann, schob den Stuhl zurück und stand auf.

Lebrecht erschrak. »Wieso?« sagte er. »Was ist?«

Es war klar, dass er glaubte, er sei verhaftet.

»Zeigen Sie uns, wie es war.«

»Wie es war?«

Er verstand noch immer nicht.

»Gestern Nacht.«

Auf der Treppe kam ihnen Wagner entgegen, er ließ Lebrecht und Heinze vorbei, und nachdem er seinen Mantel geholt hatte, folgte er ihnen. Sie gingen über den Schwarzen Weg. Er blieb ein Stück hinter ihnen und sah, dass Lebrecht den Kopf gesenkt hielt, als fürchtete er den Anblick der Unfallstelle, die rechts von ihnen lag.

Neben den Gleisen hielt ein Laster der Technischen Nothilfe. Leere Ölfässer waren herbeigeschafft und im Abstand weniger Meter aufgestellt worden, auf den darüber gelegten Brettern stapelten sich Koffer und Taschen, dazwischen lagen Berge von Kleidungsstücken, Schuhen, kurzum allem, was mittlerweile aus den Trümmern geborgen worden war. Feiner Schneegriesel trieb durch die Luft und ließ sich auf den Sachen nieder, so dass es schien, als sei alles mit einem weißen durchsichtigen Tuch bedeckt.

An der Mützelstraße überquerten sie die Schienen und stiegen die Treppe zum Stellwerk hinauf, Lebrecht (auf Heinzes Wink hin) voran. Seine Hände steckten in grauen Handschuhen. Er umfasste das Geländer und zog sich die Stufen hoch, mühsam, wie es schien. Wo er das Geländer berührte, blieb ein mit Wollflusen gefüllter Handabdruck zurück. Auf dem Absatz angelangt, stützte er die Hände auf die Knie und atmete tief durch.

Das Kopfsenken und Weggucken, das Kaum-die-Treppe-Hochkommen und Außer-Atem-Geraten … das war so kläglich, dass Wagner überzeugt war, dass er ihnen etwas vorspielte. Er tat nur so, als sei er gebrochen. Aber dann wurde er unsicher. Er war zwölf Jahre jünger als Lebrecht, der Rücken tat ihm weh, der rechte Arm … trat ihm jemand selbstbewusst entgegen, brach ihm der Schweiß aus, und er spürte, wie sein Herz zu pochen begann. Was wusste er denn, wie er sich an Lebrechts Stelle gefühlt hätte?

Als sie eintraten, sprang Lebrechts Kollege auf und trat beiseite, wie um ihm seinen Platz zu überlassen. Auf Heinzes Wink hin setzte er sich wieder und schaute hinaus. In einer Ecke, unübersehbar in seiner Uniform, hockte Zeuner und nickte Lebrecht aufmunternd zu. (Richtig, Wagner erinnerte sich, Kruse hatte erzählt – Zeuner: SA.) Aber Lebrecht reagierte nicht. Er sah über ihn hinweg und hielt die Hände an den Ofen. Da war das schwarze Telefon, da zwischen den Fenstern die wieder in ihrer Halterung hängende Handlampe.

»Nun?«, sagte Heinze.

Lebrecht starrte ihn an. Er verstand nicht, was der dicke Mann wollte. Heinze nahm den Hörer ab und drückte ihn Lebrecht in die Hand.

»Der Anruf von Bude 89. Wo haben Sie gestanden? Da?«

Lebrecht nickte, besann sich dann und machte einen halben Schritt vor.

»Wohin haben Sie geschaut?«

»Na, dahin, nach unten.«

Er drehte sich zum Fenster und beugte sich vor, den Hörer am Ohr. Wagner, der ihn die ganze Zeit über beobachtete, merkte, wie sich der Trotz in Lebrecht aufbaute, und schaute zu Zeuner hinüber, der geduckt da saß, mit abwesender Miene, aber, vermutlich, auf jedes Wort lauschte. Er überlegte, ob er ihn rausschicken sollte, aber nein, das ging nicht, und so stellte er sich zwischen die beiden, zwischen ihn und Lebrecht, um ihm die Sicht auf den Stellwerker zu versperren.

»Weiter«, hörte er Heinze sagen. »Was dann?«

Lebrecht schielte zur Handlampe. Dann endlich begriff er. Seine Hand fuhr nach oben (so schnell, dass sie beinahe Heinzes Kopf getroffen hätte) und riss die Lampe herab. Dann öffnete er mit der anderen das Fenster und machte die kreisenden Armbewegungen, von denen er bei seiner Befragung gesprochen hatte.

Das Ganze war eine Farce. Nachdem Lebrecht zugegeben hatte, dass er den falschen Zug angehalten haben könnte (das Schlupfloch ließ er sich: die Dunkelheit), konnte nichts Neues dabei herauskommen. Und doch schrieb Wagner am Nachmittag in sein Tagebuch, es sei interessant gewesen, Lebrecht zu beobachten. Das Protokoll war getippt, die Haube über der Schreibmaschine geschlossen, durchs Fenster sah er (in der Dämmerung gerade noch erkennbar) den bei jedem Voranschreiten zitternden Zeiger der Bahnhofsuhr.

Er saß da und schaute hinaus, und als Heinze einen Moment auf den Flur ging, schraubte er die Kappe vom Füllfederhalter, beugte sich über das bereits aufgeschlagen vor ihm liegende Heft und notierte, woran er seit dem Vormittag gedacht hatte: die Gleichzeitigkeit.

»… das Ding, um das wir theoretisch wissen, uns aber nur ausnahmsweise bewusst machen, wie es im Moment der Katastrophe auf die Spitze getrieben wird. Plötzlich kommt alles zusammen: Unten die sich rasch nähernden Züge, oben Lebrecht. Jetzt droht, was normalerweise nebeneinander geschieht, ineinander zu fallen, und soll, damit es weiter nebeneinander geschehen kann, von diesem Männchen auseinander gehalten werden, und als Handwerkszeug hat er nicht mehr als seinen Arm und eine kleine Lampe … im Übrigen hat er mit Anklage zu rechnen, während die beiden, die ihm das eingebrockt haben, Lokführer und Heizer des D 180, hinter ihren Verletzungen in Deckung gegangen sind.

Auf dem Rückweg beobachtet, wie die havarierte Lok vom Kran auf die Schienen gesetzt und anschließend aus dem Bahnhof gezogen wurde … der Tender war abgerissen, und die Speichenräder schienen wohl wegen der nach oben gebogenen Bleche ungewöhnlich hoch und zerbrechlich … bei unserer Rückkehr Überraschung: In der Bahnhofshalle brannte der Weihnachtsbaum. Jentzsch hat ihn, wie er erzählt, schon vor einer Woche aufstellen lassen, und heute Mittag nun hat er, trotz aller Bedenken, dem als Hausmeister fungierenden Pensionär den Auftrag erteilt, die Kerzen aufzustecken und anzuzünden.«

Es war gegen fünf, als Kruse Kaffee hereinbrachte. Er kam mit dem Tablett, stellte es auf den Aktenwagen und ging wieder hinaus. Wagner schenkte sich ein, und als er die Tasse an den Mund führte, begann er zu zählen, eins, zwei, drei, und bei vier angekommen, stellte er fest, dass er gerade den ersten Schluck genommen hatte, er behielt die Tasse in der Hand und dachte daran, wie Lebrecht im Stellwerk die Handlampe aus der Halterung gerissen, das Fenster geöffnet und den Arm kreisen gelassen hatte.

Wagner stellte die Tasse ab, und als er den Füllfederhalter aufschraubte, zählte er wieder bis vier. So ging es weiter, den halben Nachmittag und den ganzen Abend über. Anfangs war es eine Art Spiel oder – besser – ein Versuch, die Zeit in winzige, mit Bewegungen und Tätigkeiten ausgefüllte Abschnitte zu zerlegen, um sie danach als unwiderruflich geschehen zu begreifen. Mit der Ermittlung hatte das nichts zu tun, aber es schien ihm nützlich zu wissen, dass es vier Sekunden waren, die er vom Schreibtisch bis zur Tür brauchte, vier Sekunden, um ein Blatt Papier zusammenzufalten. Ein Spiel oder ein Selbstversuch. Doch als er am Abend mit Heinze bei Tennsfeld saß, zählte er noch immer, wobei er zum ersten Mal die linke Hand unter den Tisch hielt und die Finger abspreizte. Vier Sekunden dauerte es, bis Heinze ein Streichholz aus der Schachtel genommen und angerissen hatte, vier Sekunden … er glaubte, Heinze merke es nicht, aber er irrte sich. Heinze blickte ihn durch die Qualmwolke hindurch an und sagte etwas, das er nicht verstand.

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