Geschichte der deutschen Literatur. Band 3

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2.4 Revision des Epochenschemas

Lessing der Vorkämpfer einer „deutschen Nationalliteratur“?

Ein erstes problematisches Moment im überkommenen Bild der Epochenfolge, das hier nur gestreift werden kann, ist die Vorstellung von Lessing als dem großen Propheten und Vorkämpfer einer deutschen Nationalliteratur in Zeiten der Aufklärung. Wohl hat sich Lessing in seiner „Hamburgischen Dramaturgie“ (1767–1769) und einigen anderen

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Schriften gegen das „französische Theater“ ausgesprochen und ihm das Theater Shakespeares als Gegenmodell entgegengehalten, aber was meinte er konkret mit diesem zu überwindenden französischen Theater? Es war das Theater von Corneille, Racine und ihren Nachfolgern, das Theater des Klassizismus aus den Zeiten Ludwigs XIV. (1638–1715), also aus jener Epoche, die man im Blick auf die deutsche Literatur als Barock bezeichnet. Was Lessing dagegen vorzubringen hat, ist im Kern die Kritik eines Aufklärers an der Literatur des Barock. Und bei solcher Kritik stützt er sich ausdrücklich auf gleichgerichtete Bestrebungen französischer Zeitgenossen, insbesondere auf die Theater­schriften von Denis Diderot (1713–1784), dem er in Sachen Poetik ausdrücklich einen ähnlichen Rang zuerkennt wie Aristoteles.29 Im übrigen kann das Eintreten für den englischen Autor Shakespeare wohl kaum als Plädoyer für eine spezifisch deutsche „Art und Kunst“ gewertet werden. Lessing – das ist Aufklärung gegen Barock und nicht so sehr deutsche gegen französische „Art und Kunst“.

2.4.1 Sturm und Drang und Aufklärung

Spätaufklärung

Ein zweiter Kritikpunkt betrifft die Vorstellung vom Sturm und Drang 30 als einer besonderen Epoche, als der Epoche, in der die Aufklärung ein- für allemal „überwunden“ und durch etwas typisch Deutsches abgelöst worden sei. Als die große Zeit des Sturm und Drang werden vor allem die Jahre 1770 bis 1775 genannt. Nun sind aber viele Hauptwerke der Aufklärung erst später entstanden, Lessings berühmtestes Schauspiel „Nathan der Weise“ zum Beispiel erst 1781. Auch die meisten Arbeiten des Aufklärers Wieland, der zu seiner Zeit einer der meistgelesenen zeitgenössischen Autoren in Deutschland war, sind erst nach 1770 geschrieben worden. Die siebziger, achtziger Jahre sind eigentlich die Jahre der großen Wirkung von Wieland und Lessing, und mit dieser verglichen war und blieb die Resonanz

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dessen, was die Stürmer und Dränger – der Straßburger Kreis um Herder, der „Göttinger Hain“ – schufen, deutlich begrenzt, mit den beiden Ausnahmen von ­Goethes „Götz“ und „Werther“. Um dem Rechnung zu tragen, ist inzwischen für die siebziger und achtziger Jahre des 18. Jahrhunderts der Begriff der Spätaufklärung 31 eingeführt worden. Von ihm aus erscheint der Sturm und Drang als eine literarische Bewegung, der es keineswegs gelungen ist, einer ganzen Epoche ihren Stempel aufzudrücken; den Grundcharakter der Epoche hat weiterhin die Aufklärung bestimmt.

Empfindsamkeit

Im übrigen ist zu fragen, inwieweit der Sturm und Drang überhaupt im Gegensatz zur Aufklärung des 18. Jahrhunderts steht, ob in ihm nicht bloß eine Sonderentwicklung, eine Unterströmung der Aufklärung zu sehen ist. Der Schlachtruf des Sturm und Drang, wie er etwa in der Rede ­Goethes zum Shakespeare-Tag niedergelegt ist, der Ruf nach Natur (HA 12, 226), war ja die Losung der gesamten Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Aufgeklärt zu sein, hieß hier vor allem, „vivere secundum naturam“, hieß „take Nature’s path, and mad Opinion’s leave“ (Alexander Pope);32 es hieß, auf die Natur zu setzen, insbesondere auf das, was am Menschen Natur ist und wodurch er Teil der Natur ist, auf seine Triebnatur, seine Instinkte, seine Sinne, sein Herz und seine Einbildungskraft. Der Mensch sollte nicht mehr in einen vernünftigen und einen triebhaften, einen rationalen und einen sinnlich-emotionalen Teil aufgeteilt werden, wie das der frühmoderne Humanismus im Zeichen des christlichen Menschenbilds und des Neustoizismus getan hatte, sondern es sollte deren ständigem Ineinandergreifen nachgegangen, sollte auf das Vernünftige an Sinnlichkeit und Gefühl und auf die Offenheit der Vernunft für das Natürliche gesetzt werden. Man nennt diese grundlegenden Tendenzen der Aufklärung des 18. Jahrhunderts auch Sensualismus und Sentimentalismus.

Als der Literaturgeschichtsschreibung die Bedeutung von Sensualismus und Sentimentalismus für die Literatur der Aufklärung endlich

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aufgegangen war, hat sie dem zunächst dadurch Rechnung zu tragen versucht, daß sie diese in eine rationalistische und eine sensualistisch-sentimentalistische Richtung aufteilte und für letztere den Begriff der Empfindsamkeit einführte.33 Aber auch das war noch immer schief, denn die gesamte Literatur der Aufklärung ist durch sensualistische und sentimentalistische Impulse geprägt, ja gewinnt allein von ihnen her ihre epochale Eigenart. Immerhin konnte der Sturm und Drang so der Aufklärung zugeordnet werden, ließ er sich nun doch als eine Bewegung begreifen, die aus der Empfindsamkeit, aus dem aufklä­rerischen Sensualismus und Sentimentalismus hervorgegangen war. Es zeigte sich, daß er sein spezifisches Profil eben dadurch gewann, daß er diesen Sensualismus und Sentimentalismus auf die Spitze trieb, daß er ihnen durch die bevorzugte Darstellung großer Gefühle, großer Leidenschaften, durch die Formulierung eines Absolutheitsanspruchs des Gefühls und besonders enthusiastische Formen des Redens eine radikale Wendung gab. Damit wurde der Weg von den früheren Formen der Aufklärung zum Sturm und Drang aber aus einem quasi revolutionären Umsturz zu einem fließenden Übergang.

Irrationalismus vs. Rationalismus?

Die alte Vorstellung von der „Überwindung“ der Aufklärung durch den Sturm und Drang beruhte ja auf der Opposition Rationalismus – Irrationalismus. Der Sturm und Drang sollte eine erste Stufe auf dem Weg zur Epiphanie des deutschen Wesens darstellen, insofern er den angeblichen Rationalismus der Aufklärung als etwas Undeutsches überwunden und mit der Exponierung großer, leidenschaftlicher Gefühle den deutschen Sinn für das Irrationale, für die Tiefe, den Tiefsinn freigesetzt hätte. Aber die gesamte Aufklärung des 18. Jahrhunderts lebte von der Kritik des Rationalismus, wie er ihr durch die christliche Theologie scholastischer Prägung und den frühneuzeitlichen Humanismus, insbesondere durch dessen Neustoizismus, überliefert war; sie hat sich unausgesetzt an einer „Kritik der Vernunft“ (Kant) abgearbeitet und um die Darstellung des Menschen als empfindsames

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Individuum bemüht. Hat man sich dies erst einmal klargemacht – die Aufklärung des 18. Jahrhunderts hat keineswegs einem wie auch immer zu definierenden Rationalismus gehuldigt, ihr Schlachtruf war „Natur!“, ihr ging es um den Menschen als ganzen, insbesondere um seine sinnlich-empfindsame Seite – dann wird es vollends unmöglich, den Sturm und Drang als eine Gegenbewegung zur Aufklärung zu begreifen.

Präromantik

Ein weiteres Moment kommt hinzu. Die ältere Literaturgeschichtsschreibung wollte eine besonders gewichtige Neuerung des Sturm und Drangs darin erblicken, daß die Literatur von der neuen Begeisterung für die Natur her erstmals ein Interesse an ursprünglich-natürlichen Formen von Kultur entwickelt habe, insbesondere am Altertum der nordeuropäischen Völker, ein Interesse, das hier nun an die Stelle der humanistischen Orientierung am Altertum des Südens, an der griechisch-römischen Antike getreten sei. Überhaupt sei der Literatur hier in der Gestalt Herders erstmals der Sinn für Geschichte, für das Volksleben der nordischen Nationen und für ihre besonderen Überlieferungen aufgegangen, habe sie hier erstmals die poetischen Qualitäten des Volkslieds, der Volksballade und der Volkssage für sich entdeckt.

Aber das Interesse am Altertum des Nordens ist älter als der deutsche Sturm und Drang; es hat die Aufklärung im Grunde durch ihre gesamte Geschichte begleitet. Markante Beispiele dafür finden sich vor allem in England, sehr früh schon bei den englischen Aufklärern John Dryden (1631–1700) und Alexander Pope (1688–1744), und dann vor allem in den sechziger Jahren bei Männern wie Thomas Percy (1729–1811), der „­Reliques of Ancient English Poetry“ (1765) sammelte, und James ­Macpherson (1736–1796), der in „The Works of Ossian“ (1765) altschottische Sagen bearbeitete. Man spricht in diesem Zusammenhang von „Präromantik“,34 weil sich hier schon die Interessen bemerklich machen, die später vor allem von der Romantik gepflegt worden sind. Wer über den Tellerrand der deutschen Literaturgeschichte hinausblickt, der weiß, daß sich das präromantische Interesse an Geschichte, nordischem Altertum und

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nordischem Volksleben nicht im deutschen Sturm und Drang, sondern in der englisch-schottischen Aufklärung Bahn gebrochen hat.

Montesquieu und Rousseau

Und nicht nur in der englischen Aufklärung, auch in der französischen fand der deutsche Sturm und Drang entscheidende Anknüpfungspunkte. So hat Herder das Programm, mit dem er zu einem der großen Mentoren des Sturm und Drang werden sollte, zu einem frühen Zeitpunkt, im „Journal meiner Reise im Jahr 1769“, einmal in die Formel gefaßt: „mit dem Geist eines Montesquieu sehen, mit der feurigen Feder Rousseaus schreiben“.35 Er wußte noch sehr genau, daß er mit seinem neuen Sinn für die Geschichte, die Vielfalt der Kulturen und der Formen des Volkslebens einen Weg beschritt, der von ­Montesquieu gebahnt worden war, und daß entscheidende Impulse für die „neue Beredsamkeit der Leidenschaften“ (­Goethe) von Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) ausgegangen waren, daß der Sturm und Drang hierin also den neuesten Entwicklungen der französischen Literatur verpflichtet war. Übrigens wurde auch Diderot, der schon für Lessing so große Bedeutung hatte, nach ­Goethes Zeugnis im Straßburger Kreis um Herder eifrig studiert (HA 9, 487).

 

­Goethes „Werther“ ein Roman der Empfindsamkeit

Der Sturm und Drang war eine literarische Bewegung, die keineswegs einer ganzen Epoche ihren Stempel hat aufdrücken können, wie von der nationalistischen Literaturgeschichtsschreibung behauptet, deren Spuren sich vielmehr bald in anderen Entwicklungen verloren, während die aufklärerisch-empfindsamen Impulse, auf denen sie beruhte, weiterwirkten, ja ihre Potentiale erst in der Zeit von Klassik und Romantik voll entfalteten. ­Goethe ließ auf seinen Sturm-und-Drang-„Götz“ von 1773 gleich im nächsten Jahr 1774 den „Werther“ folgen, und das ist eben ein empfindsamer Roman, der wie alle Werke der Empfindsamkeit ein empfindsames Individuum auf der Suche nach dem Natürlichen zeigt und ebensowohl vom Glück des Gefühlslebens wie von den Problemen des Gefühlsüberschwangs, den Gefahren der „Schwärmerei“ handelt. Das vermag man unschwer zu erkennen, wenn man den „Werther“ mit seinen Vorbildern und Anregern aus dem Raum der englischen und der französischen Empfindsamkeit

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vergleicht, mit den Romanen von Samuel Richardson (1689–1761) und Rousseau,36 oder auch mit dem Bürgerlichen Trauerspiel als einer besonders markanten Gattung der empfindsamen Literatur.37 Dem Sturm und Drang mag am „Werther“ allenfalls noch die Art und Weise zuzurechnen sein, wie der Anspruch des Gefühls in ihm auf die Spitze getrieben wird und in eine zerstörerische Leidenschaft umschlägt; Werther endet ja im Selbstmord.

Die Themen Selbstmord und Kindsmord

Doch selbst die literarische Behandlung des Themas Selbstmord im „Werther“ gehört ganz der Aufklärung an. Sie verweist auf eine Diskussion zurück, die sich durch das gesamte 18. Jahrhundert verfolgen läßt. Die Aufklärer wollten im Selbstmord nicht mehr nur eine Todsünde erblicken, wie es der christlichen Tradition entsprach, sondern auch den Ausdruck einer seelischen Notlage, deren „natürliche Ursachen“ sich ergründen ließen, bei dem es also auf ein Verständnis ankäme, das mit Mitteln der Psychologie und Soziologie der Lage und den Motiven des Selbstmörders nachginge.38 Ähnliches gilt übrigens von einem zweiten Lieblingsthema des Sturm und Drang, das noch in ­Goethes „Faust“, in der sogenannten „Gretchentragödie“ eine wesentliche Rolle spielt, dem Thema des Kindsmords, der Tötung eines unehelich geborenen Kinds durch seine Mutter. Auch hier will sich der Aufklärer nicht mit einem metaphysischen Verdammungsurteil begnügen, wie es der Tradition des Christentums entspricht, will er versuchen, die Lage und die Motive der Kindsmörderin von ihren „natürlichen Ursachen“ her psychologisch und soziologisch aufzuhellen.39

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Vom Sturm und Drang zur „Weimarer Früh­klassik“

Was nun die sogenannte Weimarer Frühklassik 40 der Jahre 1775 bis 1786 bzw. 1794 anbelangt, so läßt sie sich ohne wesentliche Einbußen unter die Begriffe der Aufklärung und der Empfindsamkeit abbuchen. Daß einige aus der kleinen Gruppe von Literaten, die die Bewegung des Sturm und Drang bildeten, nun die gesamte Palette aufgeklärt-empfindsamer Themen und Formen für sich entdeckten, wie sie von der Literatur um sie herum kultiviert worden war, kann wohl kaum dazu herhalten, eine neue Epoche auszurufen. Die Kulturpolitik des Weimarer Hofs um die Herzoginmutter Anna Amalia und den Herzog Carl August, die Schaffung eines „Musenhofs“ durch die Berufung großer Geister wie Wieland, ­Goethe und Herder war ja ein typisches Projekt aufgeklärter Fürstenpolitik. ­Goethe und Herder arbeiteten, nachdem sie in Weimar angekommen waren, sofort eng mit Wieland zusammen, unbeschadet der Kontroversen und Irritationen, die zuvor ihr Verhältnis zu Wieland bestimmten; es stellte sich heraus, daß es zwischen ihnen keinen grundsätzlichen Dissens gab. Und wenn man ein Hauptwerk der „Weimarer Frühklassik“ wie ­Goethes „Iphigenie auf Tauris“ (1787), eine Arbeit, die Wieland intensiv begleitet und begeistert begrüßt hat, oder Herders „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ (1784–1791) und „Briefe zur Beförderung der Humanität“ (1793–1797) zur Hand nimmt, wird man unschwer feststellen, daß in Weimar damals nichts anderes als die Sache der Aufklärung und der Empfindsamkeit verhandelt wird.41

2.4.2 Das „klassische Jahrzehnt“

Von der „Frühklassik“ zur „Hochklassik“

Die nächste epochale Stufe in der Entwicklung der deutschen Literatur soll nun mit dem Übergang von der „Weimarer Frühklassik“ zur „Hochklassik“, zum „klassischen Jahrzehnt“ der Jahre 1794 bis 1805 erreicht sein. In diesem Jahrzehnt soll der Scheitelpunkt des Entwicklungsbogens zu sehen sein, der Gipfel der deutschen

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Literaturgeschichte. Hier soll sich die Epiphanie des deutschen Wesens vollendet haben, in einer Literatur, die den Deutschen ein- für allemal ihre Identität offenbart, sie auf unüberbietbare, eben klassische Weise mit sich selbst bekannt gemacht und zum Bewußtsein ihrer selbst gebracht hätte. Drei Ereignisse sollen den Aufstieg zu dieser höchsten Stufe markieren: 1. ­Goethes italienische Reise von 1786 bis 1788, seine erste authentische Begegnung mit dem „klassischen Boden“ Italiens, wie sie ihm eine vertiefte Annäherung an den Geist und die Formkultur der Antike ermöglicht habe, 2. die Französische Revolution seit 1788/89, und 3. der Anschluß Schillers an ­Goethe im Jahr 1794.42

Werke des „klassischen Jahrzehnts“

Als Kernbereich der Hochklassik wird das „klassische Jahrzehnt“ angesehen; das soll die Zeit gewesen sein, in der die „göttlichen ­Dioskuren“ ­Goethe und Schiller in enger Zusammenarbeit den Deutschen die klassischsten ihrer klassischen Werke geschenkt hätten. Im Gespräch mit Schiller schließt ­Goethe 1795/96 seinen Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ ab, das Muster des deutschen Entwicklungs- und Bildungsromans, und fördert seinen „Faust“, die „Bibel der Deutschen“ (Heine), bis dahin, daß er 1808 „der Tragödie ersten Teil“ veröffent­lichen kann. Schiller schreibt seine großen philosophisch-ästhetischen Abhandlungen „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ (1795) und „Über naive und sentimentalische Dichtung“ (1795/96) und entwickelt anschließend von ihnen aus das Modell seiner klassischen Dramen, von „Wallenstein“ (1800) über „Maria Stuart“ (1801), „Die Jungfrau von Orleans“ (1802) und „Die Braut von Messina“ (1803) bis zu „Wilhelm Tell“ (1804). Gemeinsam arbeiten ­Goethe und Schiller an ihren Balladen, an theoretischen Entwürfen wie dem Aufsatz „Über epische und dramatische Dichtung“ (1797), an den satirisch-kulturkritischen Epigrammen der „Xenien“ (1797) und an literarischen Zeitschriften, mit denen sie den Deutschen ihr klassisches Kunstprogramm nahebringen.

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Das Konstrukt einer „Deutschen Klassik“

Die Konstruktion des „klassischen Jahrzehnts“ ist wahrhaft abenteuerlich und geht in einer Weise an den historischen Realitäten vorbei, die sich an Verdrehtheit kaum überbieten läßt. In einer doppelten Konfrontation also soll der deutsche Volksgeist hier zu sich selbst gekommen sein: in der authentischen Begegnung mit der altgriechischen Kunst und Kultur und in der kritischen Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution. Und das Ergebnis soll nun eben eine durch und durch deutsche Literatur gewesen sein, eine Literatur, die in der Gegenwendung gegen die oberflächlich aufgeklärte, rationa­listische Kultur der Franzosen und den politischen Aktionismus ihrer Revolutionäre den deutschen Tiefsinn, den Sinn für das Irrationale zur Geltung brächte, um neuerlich zu den ewigen Fragen der Menschheit vorzudringen und die Prinzipien der Humanität in einer Vollendung der Formen zu gestalten, wie sie zuvor allenfalls den Griechen gegeben gewesen wäre. Die Deutschen sollen so als einzige unter den modernen Nationen dahin gelangt sein, den Geist des Griechentums, seine Humanitäts- und Formkultur nicht nur nachzuahmen, sondern bis in ihre tiefsten Regungen hinein zu erfassen und unter den Bedingungen der Moderne neuerlich produktiv zu machen, sie in die moderne Welt hinein wiederaufleben zu lassen – die Deutschen allein, weil der deutsche Geist, wie man hier glaubt, dem der Griechen wesensverwandt sei.

Die Rezeption der griechischen Kultur

So viel ist an diesem Bild immerhin richtig, daß sich die Autoren der „­Goethezeit“ in jeder erdenklichen Form mit der Kultur der Griechen und der Französischen Revolution auseinandergesetzt haben und daß diese Auseinandersetzung für ihre Arbeit konstitutiv war. Freilich hatte man die Kultur der Griechen während des gesamten 18. Jahrhunderts schon immer mit im Blick, dafür mußte nicht erst ein ­Goethe nach Italien fahren. Seit den Zeiten des frühneuzeitlichen Humanismus war das Erbe der griechisch-römischen Antike allgegenwärtig, und gerade im Zeitalter der Aufklärung hatte sich das Interesse mehr und mehr von der römischen auf die griechische Antike verlagert, als auf die ursprünglich-natürlichere Schicht der antiken Kultur. So finden sich auch unter den Aufklärern schon zahllose Gräkomanen – man denke nur an Wieland, oder an den für Wieland und ­Goethe so wichtigen Kunsthistoriker Johann Joachim Winckelmann (1717–1768) – und dies nicht nur in Deutschland, sondern überall im aufgeklärten Europa.

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Die Wirkung der Französischen Revolution

Neu war nun freilich die Französische Revolution, war die Art und Weise, wie Kunst und Literatur bis in die innersten Bezirke der künstlerischen Produktivität hinein von aktuellen politischen Ereignissen in den Bann geschlagen wurden. Denn die Revolution hat alle namhaften Autoren der Zeit bewegt, unausgesetzt und in der persönlich aufwühlendsten Weise. Das gilt für einen altgedienten Aufklärer wie Wieland genauso wie für den alten Klopstock, den Abgott des Sturm und Drang. Wieland begleitete die Ereignisse in Frankreich mit einer Serie von Artikeln in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift „­Teutscher Merkur“, und Klopstock dichtete eine Reihe von Revolutionsoden, mit denen die moderne politische Lyrik in Deutschland beginnt. Die Revolution beschäftigte ­Goethe und Schiller, sie beschäftigte die Frühromantiker, die Brüder Schlegel und Novalis, und ihren philosophischen Mentor Fichte, und sie beschäftigte einen Jean Paul nicht weniger als einen Kleist oder Hölderlin.

Bei ­Goethe hatte der Ausbruch der Revolution zur Folge – und das kommt in dem alten Epochenschema und seinem Bild von der Hochklassik durchaus nicht zur Geltung – daß das Erlebnis Italiens und die Begeisterung für die Antike, wie er sie 1788 aus Italien mitgebracht hatte, in ihm zunächst wie ausgelöscht waren; sein ganzes ­Denken und Schaffen kreiste um das beunruhigend-faszinierende Ereignis der Revolution. Er mochte seine klassische „Iphigenie“ von 1787 nicht mehr sehen, Versuche, antike Autoren wie Sophokles wiederzulesen, empfand er nun geradezu als einen „höheren Grad von Folter“ (HA 10, 310–311), und die literarische Aufarbeitung der Italienreise, der Plan einer Reise­beschreibung, aus dem dann die berühmte „Italienische Reise“ hervorgegangen ist, blieb bis 1816 liegen, also bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Phase der kriegerischen Unruhe durch den Wiener Kongreß zum Abschluß gekommen war.

­Goethe war nie weniger klassisch als im Übergang zum „klassischen Jahrzehnt“, hat sich nie weniger am Geist und an der Kunst der alten Griechen orientiert als in eben den Jahren, die von der älteren Literaturgeschichtsschreibung als Übergang zur Hochklassik verbucht worden sind. Er schreibt Werke wie die politisch-satirischen Komödien „Der Groß-Cophta“ (1792), „Der Bürgergeneral“ (1793), „Die Aufgeregten“ (1794), wie die aufklärerisch radikalen, schneidend kritischen „Venetianischen Epigramme“ (1791) und die „Xenien“ (1796), wie den epischen

 

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Zyklus „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“ (1794/95), in dem er die verschiedensten Gattungen und Formen des Erzählens durchprobiert und den man auch wie einen berühmten Text von Brecht „Flüchtlingsgespräche“ nennen könnte, wie die eigentümlich zwischen Epos, Idylle und Zeitgeschichte angesiedelte Verserzählung „Hermann und Dorothea“ (1796). Und da geht es überall ausdrücklich um die Revolution und ihre Folgen; auf die Antike und ihre Kunst hingegen verweist an diesen Werken nur wenig. Ähnliches gilt von den Hauptwerken dieser Zeit, von „Wilhelm Meisters Lehrjahren“ (1795/96) und „Faust I“ (1808); denn auch bei ihnen finden sich kaum Spuren der Antike.

­Goethe ist offensichtlich durch die Französische Revolution und ihre Folgen zutiefst verunsichert. Es beginnt für ihn eine Phase des Suchens und Herumtastens, in der er es mit allen möglichen Themen und Formen versucht, insbesondere mit solchen, von denen er hofft, daß sie es ihm erlauben würden, „dieses schrecklichste aller Ereignisse in seinen Ursachen und Folgen dichterisch zu gewältigen“ (HA 13, 39). Er erprobt die verschiedensten Gattungen, modelt sie um und mischt sie mit anderen – fast möchte man von einem Experimentieren sprechen – und entfernt sich so besonders weit von dem, was der Kunst der Antike an reinen, vollendet schönen, in sich ruhenden Formen, an „edler Einfalt“ und „stiller Größe“ (Winckelmann)43 zugeschrieben worden ist. Schon allein deshalb ist das Epochenetikett „Hochklassik“ für diese Jahre mehr als problematisch.

Autonomie der Kunst als Distanz zur Zeit­geschichte?

Ein weiteres problematisches Moment der Doktrin von der „Hochklassik“ liegt in der Vorstellung, ­Goethe und Schiller hätten sich hier, um die Autonomie der Kunst, die geistige Unabhängigkeit des Künstlers von institutionellen und ideologischen Bindungen weiter voranzutreiben, zu dem Grundsatz bekannt, die Kunst solle sich von Zeitgeist und Zeitgeschehen fernhalten; große, klassische Kunst, Kunst von bleibender Bedeutung könne nur dort entstehen, wo der Künstler aktuelle politische Fragen meide und sich ausschließlich auf Formprobleme, auf die ordnende Arbeit der Formgebung konzentriere.

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Zweifellos bezeichnet das Ringen um Autonomie, um eine Kunst, die der freien Entfaltung des Denkens Raum gäbe und sich nur an die Gesetze gebunden fühlte, die sie sich selbst gäbe, eine grundlegende Tendenz in der Arbeit von ­Goethe und Schiller.44 Doch zeigt die große Zahl von Werken, die sich der Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution verdanken und die diese Auseinandersetzung bald mit großer Direktheit und bald auf eine mehr indirekte Weise bezeugen, daß dies für sie keineswegs bedeutet, jederzeit gegenüber dem aktuellen Zeitgeschehen Distanz wahren zu müssen. Autonomie heißt hier nach Ausweis von ­Goethes und Schillers eigener literarischer Praxis, daß der Künstler, wenn ihm danach ist, durchaus politisch werden kann, daß er es aber nicht muß, wenn ihm nicht danach ist; daß er weder einer moralischen Verpflichtung noch einem geschichtlichen Zwang unterliegt, mit politischen Leitartikeln in poetischer Form auf das Zeitgeschehen einzugehen.

­Goethe ist wie Schiller noch weit von dem Prinzip „l’art pour l’art“ entfernt, von dem Gedanken, Kunst nur um der Kunst willen zu schaffen. Die Position des „l’art pour l’art“ hat sich ebenso wie die Gegenposition einer engagierten Kunst, einer „art engagée“, erst nach ­Goethe und ohne sein Zutun herangebildet; als ein Mann der Aufklärung hätte er mit ihr nicht viel anfangen, ja sie womöglich gar nicht verstehen können. Man hat sie aber, nachdem sie einmal da war, im Rückblick gerade ihm als einem Klassiker zugeschrieben. Zu den ersten, die damit begannen, gehört Heine (s. Kap. 4.5); aber hier irrte Heine. Die Idee des „l´art pour l´art“ kommt ebenso wie die einer „art engagée“ erst in der Generation Heines auf; was ­Goethe und Schiller sich unter autonomer Kunst vorstellen, hat damit noch kaum etwas zu tun.

Nationalismus vor 1806?

Ein weiterer Schwachpunkt im überlieferten Bild der Epoche der „Hochklassik“ ist, daß die Stellungnahmen zur Französischen Revolution hier zwar immer kritischer werden, vor allem im Blick auf die „Terreur“ der Jahre 1793 und 1794, daß diese Kritik an der Revolution zunächst aber noch kaum unter nationalem Vorzeichen steht. Man

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beklagt, daß die Ziele der Aufklärung im revolutionären Taumel mehr und mehr verrutschen und verlorengehen, aber man sucht die Ursachen dafür noch nicht primär in einem typisch französischen Unwesen, um dem typisch deutsche Werte entgegenzuhalten. Diese Sicht der Dinge gewinnt erst nach dem Ende des „klassischen Jahrzehnts“ 1805 die Oberhand, genauer gesagt: nach 1806, nach dem Sieg ­Napoleons über Preußen und Österreich, in der „Franzosenzeit“, der Zeit der französischen Vorherrschaft in Deutschland; sie ist im Kreis um ­Goethe und Schiller noch kaum wahrzunehmen.

Es waren vor allem die Verhältnisse in der Zeit der französischen Besatzung, die dem nationalistischen Denken zum Durchbruch verhalfen; erst die französische Fremdherrschaft hat den modernen deutschen Nationalismus ausgebrütet. Und zwar wurde er zunächst, in den Jahren 1806 bis 1813, besonders in den Kreisen der Gebildeten kultiviert, von den Intellektuellen, denen nun plötzlich etwas Tiefsinniges zum Begriff der „Deutschheit“ einfiel. Erst in den sogenannten Befreiungskriegen von 1813 bis 1815 konnte er schließlich auch von der in kriegerische Aktion versetzten breiten Masse der Bevölkerung Besitz ergreifen.

Die Zentren dieses neuen Denkens waren in erster Linie Universitätsstädte, Städte wie Heidelberg, wo Joseph Görres in nationalromantischem Sinne auf die junge Generation einwirkte und 1808 die „deutschen Volksbücher“ herausgab, und Berlin, wo Johann Gottlieb Fichte – ebenfalls 1808 – „Reden an die deutsche Nation“ hielt und wo eine „christlich-deutsche Tischgesellschaft“ den nationalen Gedanken pflegte. Hinzu kamen Epizentren wie Dresden, wo der Kleist-Freund Adam Müller im Winter 1806/07 „Vorlesungen über deutsche Wissenschaft und Literatur“ hielt; übrigens hat sich auch Kleist selbst zeitweise von der nationalistischen Propaganda in die Pflicht nehmen lassen. Aber das alles geschah eben erst nach 1806. Der Revolutionsdiskurs wird also gerade nicht im „klassischen Jahrzehnt“, sondern erst danach, in der Zeit der Heidelberger und Berliner Romantik, zu einer Plattform für Spekulationen über das französische und deutsche Wesen und für die Verpflichtung der deutschen Literatur auf dieses deutsche Wesen.

Aufbrechen des Gegensatzes von Klassik und Romantik

Vollends schwierig wird es mit der Vorstellung von einer Epoche namens „Hochklassik“, wenn man sich klarmacht, daß sich die deutsche Kultur, Kunst und Literatur im „klassischen Jahrzehnt“ gerade

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nicht auf jenes Ziel zu bewegt, in jene Verfassung hinein entwickelt haben, die sie laut Klassik-Doktrin eben hier erreicht haben sollen: daß nämlich alle, die an dieser Kultur produktiv teilhaben, nun endlich von ein und demselben Geist ergriffen, durchdrungen und zusammengebracht worden wären; daß die Vielfalt und Gegenwendigkeit der Bestrebungen, die „Zersplitterung des geistigen Deutschland“ im kollektiven Innewerden nationaler Eigenart an ihr Ende gekommen wäre. Daß die Deutschen nun zum vollen Bewußtsein ihrer selbst als Deutsche gelangt sein sollen, müßte doch eigentlich heißen: alle Unsicherheit in Identitätsfragen hört auf, überall kann sich ein ähnlich gerichtetes Denken, Fühlen, Wollen und Handeln breitmachen. Aber das Gegenteil ist richtig; die „Zersplitterung des geistigen Deutschland“ geht in eine neue Runde. Denn gerade damals tut sich in der deutschen Kultur, Kunst und Literatur ein neuer Gegensatz auf, eine ganze neue Welt von Widerspruch und Streit, nämlich der Gegensatz von Aufklärern und Gegenaufklärern, zugespitzt im Gegensatz von Klassik und Romantik.