Geschichte der deutschen Literatur Band 4

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Nicht jeder vermag bekanntlich bei der Modernisierung gleich gut mitzuhalten. Früher oder später kommt auch der flexibelste Mensch in seinem Leben an einen Punkt, wo ihm der ständige Wandel der Lebensverhältnisse, die permanente Transformation des Wissens, der Anforderungen der Gesellschaft, der sozialen Beziehungen, der Arbeitswelt und des Alltags über den Kopf wachsen und er nicht mehr mitgehen kann und will – die anthropologische Grenze der Modernisierung. Denn zur Grundausstattung des Menschen gehört nicht nur die Neugier; er ist nicht nur „rerum novarum cupidus“, auf Neues begierig, und insofern auf Erneuerung hin angelegt. Er ist auch ein Gewohnheitstier; Gewohnheit ist, wie schon Aristoteles wußte, seine zweite Natur. Und dieses Gewohnheitstier im Menschen beginnt sich zu wehren, wenn es sich durch die Modernisierung überfordert fühlt, beginnt [<<17] zumindest von der „guten alten Zeit“ zu träumen, als von einer Zeit, in der noch weniger Bewegung in der Welt gewesen wäre, in der die Welt überhaupt noch in Ordnung gewesen wäre und man sich leichter in solche Ordnung hätte finden können.

Historismus

Und so hat das 19. Jahrhundert wie die Zukunftsvisionen des Fortschrittsglaubens, so auch den Blick zurück in die Geschichte kultiviert,1 in der Hoffnung, der Gegenwart als einem „System der Unordnung“ (GS 2, 71) entkommen und in einer besseren, weniger unruhigen, weniger konfliktgeladenen und bedrohlichen Welt ankommen zu können. Das Interesse richtete sich vor allem auf Modelle einer stabileren gesellschaftlichen Ordnung, auf Modelle, deren Wiederbelebung dazu verhelfen sollte, dem Fortschritt Zügel anzulegen und ihn auf Menschenmaß zu bringen, ihn nämlich auf das Maß an Veränderung zu reduzieren, das das Gewohnheitstier im Menschen allenfalls noch würde verkraften können. Das ist das zentrale Motiv des Historismus.

Dieser Historismus wurde zu einer Quelle immer neuer Projekte und Moden, wie er überhaupt seinerzeit die tollsten Blüten trieb. Das 19. Jahrhundert liebte das historische Kostüm. Wenn Borsig in Berlin eine neue Fabrik für Lokomotiven baute oder wenn in einer der ständig wachsenden Städte ein neuer Bahnhof errichtet wurde, dann gab man diesen Gebäuden eine Fassade, die bei einem gotischen Dom, einem Palazzo der Renaissance oder einem Lustschloß des Rokoko abgeguckt war. Die Werke des Fortschritts wurden historisch maskiert, damit sie noch irgendwie nach etwas Menschlichem, dem Menschen Gemäßen aussähen. Am deutlichsten zeigt sich dieses eigentümlich zwiespältige Verhältnis zum Fortschritt in der Architektur und der Bildenden Kunst. Da finden sich nebeneinander sämtliche Stile des alten Europa wieder, Romanik und Gotik, Renaissance und Barock, Rokoko und Klassizismus, und womöglich nicht nur nebeneinander, sondern an ein und demselben Objekt. Man denke nur an Gebäude wie den Reichstag in Berlin oder die alten Hauptbahnhöfe der großen Städte. Ein früher Vertreter dieses Historismus war der preußische Staatsbaumeister [<<18] Karl Friedrich Schinkel (1781–1841), ein Architekt, der sich sowohl auf die neuesten, fortschrittlichsten Bautechniken verstand als auch die Kunst beherrschte, einem Gebäude jedes gewünschte historische Kostüm anzumessen.

1.4 Literatur und Modernisierung im 19. Jahrhundert

Die Welt wird modern. Die Modernisierung nimmt Fahrt auf und entfaltet eine Dynamik, die nach und nach das gesamte Leben verändert. Hier macht sie es leichter, da erschwert sie es, die einen läßt sie Karriere machen, die anderen stürzt sie ins Elend. So versetzt sie die Menschen bald in Begeisterung und bald in Angst und Schrecken. Und so arbeitet man sich unausgesetzt an ihren Folgen ab, sei es daß man sich im Sinne des Progressismus darum bemüht, den Fortschritt immer fortschrittlicher zu machen, oder daß man ihn im Sinne des Konservatismus mit Mitteln des Historismus einzuhegen und zu zähmen versucht. Damit haben wir nun einen ersten großen Komplex von Fragen vor uns, der die Literatur des 19. Jahrhunderts „im Innersten bewegt“. Demgemäß finden sich in ihr auch die beiden Grundhaltungen zur Modernisierung wieder, und zwar, vereinfacht gesprochen, der Progressismus als Realismus und der Konservatismus als Romantizismus.

Romantizismus

Die Ausbildung des Denkens, das die Probleme der Modernisierung im Sinne von Konservatismus und Historismus angeht, ist eng mit der Geschichte der romantischen Bewegung verknüpft. Ein Grundimpuls der Romantik2 ist die Vorstellung, daß die moderne Welt im Grunde nicht zum Ansehen sei, daß sie in ihrem Mangel an Schönheit, in ihrer monströsen Häßlichkeit nur schwer zu ertragen sei und daß Kunst und Literatur dem modernen Menschen vor allem dann etwas würden geben können, wenn sie ihn anderes schauen ließen als diese moderne Welt, wenn sie ihn wenigstens in der Phantasie Verhältnisse erblicken [<<19] ließen, die nicht vom Wirbel der Modernisierung erfaßt wären und bei deren Schönheit er sich beruhigen und wieder zu sich kommen könnte.

Solche Verhältnisse will der Romantizismus vor allem in zwei Bereichen entdecken: in der Natur, genauer: in der von der Modernisierungsdynamik noch nicht erfaßten, der „unberührten“, „freien Natur“; und in der Geschichte, wie sie den modernen Menschen mit den wohlgeordneten Verhältnissen einer „guten alten Zeit“, mit vormodernen, traditionalen Gesellschaften bekanntmacht. Bei letzterem denkt der romantisch Gestimmte vor allem an das Mittelalter, als an eine Zeit, in der das gesellschaftliche Leben noch in eine stabile Ordnung eingegossen gewesen wäre, mit Kaiser und Reich, Gott und Vaterland, und in der die Menschen noch keine Kapitalisten, Karrieristen und Intellektualisten gewesen wären, sondern schlicht, fromm und tugendhaft. So etwa hat Novalis das Mittelalter in seiner Rede über „Die Christenheit oder Europa“ (1799) dargestellt.

Realismus

Demgegenüber läßt sich die Bewegung des „bürgerlichen“ oder „poetischen Realismus“3 als ein Versuch von Kunst und Literatur verstehen, mit der modernen Welt ihren Frieden zu machen, wie immer sie im einzelnen aussehen und zu bewerten sein möge. Die Modernisierung ließ sich ja doch nicht aufhalten, der Fortschritt nicht wieder einfangen; er ließ sich allenfalls kritisch begleiten, und vielleicht mitgestalten und über solcher Mitgestaltung zum Guten wenden. Hier sollte also nicht mehr versucht werden, den Blick gegen die modernen Verhältnisse abzuschirmen und zu Natur und Geschichte hinüberzulenken. Vielmehr sollte ihn die Kunst nun dahin bringen, auf der Gegenwart, auf den „zivilisatorischen Realitäten“ (Gottfried Benn) der Moderne zu verweilen, ja sich den neuen Lebensformen – der modernen Arbeitswelt und Ökonomie, dem modernen Leben, den Großstädten, den sozialen Problemen in Stadt und Land, den Problemen einer modernen Bildung – überhaupt zu stellen, sich ihnen in jenen Formen gesteigerter Aufmerksamkeit und Bewußtheit zuzuwenden, die die Sache der Kunst ist. [<<20]

Zu einer solchen Ausrichtung der Literatur auf die moderne Welt kam es zuerst in Frankreich und in England, als den beiden avanciertesten Ländern in Europa.4 Für Frankreich ist hier vor allem Honoré Balzac (1799–1850) zu nennen, für England vor allem Charles Dickens (1812–1870), von denen der eine um 1830, der andere um 1840 zu einem neuartigen Realismus fand, jeder auf seine Weise. Bei Balzac zieht die Literatur erstmals ohne Wenn und Aber in die moderne Großstadt ein, um sich deren Boulevards und Plätze zu erobern und ihre verschiedenen Lebensbereiche zu erkunden, von den Palästen der alten und neuen Reichen bis hin zu den Elendsquartieren der alten und neuen Armen, ja um die gesamte moderne Gesellschaft von oben nach unten und von unten nach oben zu durchmessen. Sie begibt sich in die Zentren der Macht, an die Börse und in die Unterwelt, in die Fabriken und auf das verarmte Land; sie läßt den Minister, die Marquise und den Großkapitalisten ebenso ihre Auftritte haben wie den Kleinkrämer, den Bauern und den Arbeiter. Die deutsche Literatur vermag dem nur mit einer gewissen Verzögerung zu folgen, vor allem weil es in Deutschland erst später als in England und Frankreich zu jenen Formen von Modernisierung kam, die die Literatur des Realismus in den Blick nahm; weil die neuen Realitäten hier noch nicht Gestalt angenommen hatten oder jedenfalls noch nicht mit der gleichen Deutlichkeit sichtbar geworden waren wie dort.

Übergangs- und Zwischenformen

Geht man näher auf die Literatur des 19. Jahrhunderts ein, zeigt sich freilich, daß sich der romantische und der realistische Grundimpuls kaum je in Reinkultur und keineswegs in einem deutlichen Nacheinander Geltung verschafft haben, daß sie vielmehr nebeneinander zur Wirkung gelangt sind und dabei die verschiedensten Verbindungen eingegangen sind. Und wie sollte es anders sein, da Literatur, wenn sie denn wirklich Kunst ist, wenn sie einmal ein gewisses gedankliches und ästhetisches Niveau erreicht hat, nie einseitig ist; was ihre Zeitgenossen an Einseitigkeiten kultivieren, wird von ihr aufgegriffen und in Gebilden verarbeitet, die die unterschiedlichsten Motive in ein spannungsreiches Beziehungsleben einstellen. So hat der Romantizismus durchaus progressive Züge anzunehmen vermocht, wie sich der [<<21] Realismus auch konservativ hat gebärden können. Daraus sind eine Reihe von Übergangs- und Zwischenformen entstanden, die ein Gutteil, wenn nicht das Gros der Literatur des 19. Jahrhunderts ausmachen.

Biedermeier

Zu diesen Übergangs- und Zwischenformen zählen mitunter ganze kulturelle Bewegungen, denen man wie dem Biedermeier oder der „jungdeutschen“ Literatur des Vormärz den Status einer epochalen Tendenz zugesprochen hat. Der Biedermeier5 der Zeit von 1820 bis 1850 zieht seinen Kopf ein, damit er ihm im scharfen Wind der Modernisierung nicht davonfliegt, und verdrückt sich in die geschichtsfernen Zonen seines unmittelbaren Lebensumfelds. Dieser seiner Lebenswelt wendet er sich aber nicht nur zu, um sie im Sinne der Romantik zu „poetisieren“; er faßt sie auch mit einem geschärften Realitätssinn ins Auge, der auf den Realismus der zweiten Jahrhunderthälfte vorausweist. Man denke nur an Autoren wie Annette von Droste-Hülshoff (1797–1848), Eduard Mörike (1804–1875) und Adalbert Stifter (1805–1868), wie sie, jeder auf seine Weise, den Abschied von der Romantik und Übergang zum Realismus markieren.

 

Vormärz

Etwas Ähnliches findet sich bei den Autoren des Vormärz,6 beim „Jungen Deutschland“7 und bei Heinrich Heine. Wenn sie auch mit einem unerbittlichen Realismus die Probleme der Gesellschaft ihrer Zeit analysieren und einen Fortschritt einklagen, der diesen Namen verdient hätte, so bleiben sie doch „mit dem Herzen“ und mit ihren Ansprüchen der Poesie der Romantik verhaftet. Es ist das blutende Herz des Romantikers, wie es Heine in „Deutschland. Ein Wintermärchen“ zur Darstellung bringt (HS 7, 592–595), was sie zu Kritikern der Verhältnisse macht.

Historischer Roman

Und auch einige der beliebtesten Gattungen leben gleichermaßen aus romantischen und realistischen Impulsen heraus, so zum Beispiel der Historische Roman seit Walter Scott (1771–1832) und die [<<22] Dorfgeschichte seit Berthold Auerbach (1812–1882). Im Historischen Roman8 huldigt der Realismus, der doch eigentlich seinen Frieden mit der Gegenwart machen und die moderne Welt zur Darstellung bringen will, dem Historismus, indem er sich ältere Zeiten zum Schauplatz wählt. Während aber die Romantik bewußt ein poetisch unscharfes Bild von den älteren Zeiten gepflegt hat, ein Bild, das sich in seiner poetischen Unschärfe leichter idealisieren und zur „guten alten Zeit“, zum „Goldenen Alter“ stilisieren ließe – man denke nur an Novalis und seinen Roman „Heinrich von Ofterdingen“ (1802) – geht der Historische Roman des Realismus den geschichtlichen Verhältnissen mit der faktenbesessen-antiquarischen Attitüde des Historikers nach, bemüht er sich darum, ein möglichst getreues, detailgenaues Bild von der Vergangenheit zu zeichnen – aber eben ein Bild der Vergangenheit und nicht der Gegenwart. In diesem Sinne haben die meisten der großen Realisten auch historische Romane und Erzählungen geschrieben; einer von ihnen, Conrad Ferdinand Meyer, hat überhaupt nur Historisches verfaßt.

Dorfgeschichte

Und in der Dorfgeschichte,9 wie sie mit Auerbachs „Schwarzwälder Dorfgeschichten“ von 1843 in Mode kam, sucht der Realist in der Landschaft der Gegenwart Lebensformen auf, die noch nicht von der Modernisierung erfaßt und umgekrempelt worden sind, „grüne Stellen“ (Friedrich Theodor Vischer),10 die weithin noch durch die Nähe zur Natur und durch traditionale Lebensformen geprägt sind. Da will er des Menschen auf eine Weise ansichtig werden, die ihm in der modernen Großstadt nicht mehr möglich scheint, und er widmet sich diesem im Grunde romantischen Unternehmen durchaus mit dem geschärften Blick des Realisten, ja vielfach mit einer fast schon wissenschaftlich zu nennenden ethnologisch-volkskundlichen Akribie. Dabei muß er sich freilich darüber hinwegsetzen, daß das Landleben inzwischen weithin dem Pauperismus anheimgefallen ist und die Landflucht eingesetzt hat, der Zug der Menschen in die Städte, [<<23] die ihnen ein besseres Leben verheißen. Am Dorfeingang rennen sich sozusagen der moderne Intellektuelle, der die Lebensformen des flachen Landes sucht, und die Landbevölkerung, die vor ihnen davonläuft, wechselseitig über den Haufen.

Auf solche Weise gehen der romantische und der realistische Grundimpuls in der Literatur des 19. Jahrhunderts die unterschiedlichsten Verbindungen ein. Dessen unbeschadet sind sie aber zunächst einmal zu unterscheiden, als literarische Möglichkeiten, die aus zwei grundverschiedenen Einstellungen zur Moderne heraus erwachsen, aus dem Fortschrittszweifel und dem Fortschrittsglauben, aus der konservativen und der progressiven Haltung. Diese Haltungen zeigen sich natürlich auch in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, und sie lassen sich dort oft sehr viel deutlicher greifen als in der Literatur. Das gilt zumal für das politische Leben, dessen Diskurse anders als die literarische Rede zu plakativer Eindeutigkeit neigen. So haben die Begriffe des Progressiven und des Konservativen denn auch hier ihre scharfen Konturen erhalten.

1.5 Literatur und Politik im 19. Jahrhundert

Politisierung der Kultur

Während des gesamten 19. Jahrhunderts ist das gesellschaftliche Leben durch den Kampf zwischen den Kräften des Fortschritts – Demokratiebewegung, Liberalismus, Sozialismus – und den Mächten der Vergangenheit – Monarchie, Adel, Kirche – geprägt, ein Kampf, der sich letztlich in einem Wechselspiel von Revolutionen und Restaurationsversuchen niedergeschlagen hat. Darum verhandeln die Historiker das 19. Jahrhundert oder vielmehr seine erste Hälfte auch gerne unter der Überschrift „Revolution und Restauration“.11

Zunächst ist freilich festzuhalten, daß das 19. Jahrhundert überhaupt ein Jahrhundert fortschreitender Politisierung gewesen ist, der Politisierung sowohl immer größerer Teile der Bevölkerung als auch immer weiterer Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, einschließlich [<<24] der Literatur. Politik ist nun nicht mehr allein die Sache einer winzigen Elite, des Adels, der „Standespersonen“, der politischen Beamten; sie wird mehr und mehr zu jedermanns Sache. Ein jeder fühlt sich nun „immer mitten in der Agitation der politischen Leidenschaften inne leben“ (GS 2, 71).

Das ist vor allem ein Werk der Presse, die im 19. Jahrhundert einen gewaltigen Aufschwung erlebt. Es entstehen immer neue „Journale“, immer neue Tageszeitungen, wie sie bis heute nicht aus dem politischen Leben wegzudenken sind, und sie werden von immer mehr Menschen gelesen. Die moderne Öffentlichkeit nimmt nun endgültig eine Form an, wie wir sie kennen. Der Journalist betritt die Bühne der Geschichte, um sie nicht wieder zu verlassen, und er avanciert rasch zu einer Leitfigur des modernen Lebens. Auch viele Autoren von Literatur haben zumindest zeitweise als Journalisten gearbeitet, denn von der Literatur allein konnten die meisten von ihnen im 19. Jahrhundert noch immer nicht leben. Vor allem die Autoren des Vormärz haben sich als Journalisten versucht – man denke nur an Heine und Gutzkow – aber auch unter den Realisten haben viele noch ihr Brot mit Arbeiten für die Presse verdient, so etwa Fontane.

Politisierung und Modernisierung

Der tiefere Grund für die fortschreitende Politisierung der Menschen und des gesellschaftlichen Lebens ist natürlich die Modernisierung. Schon an der Schwelle zum 19. Jahrhundert hat einer ihrer engagierten Vorkämpfer, einer der größten Mobilmacher, den die Menschheit bis dahin gesehen hatte, der französische Kaiser Napoleon, den Ausspruch getan: „Die Politik ist das Schicksal“, und so ist es auch überall gekommen, wo sich die Modernisierungsmaschine in Gang gesetzt hat. Der Fortschritt, die unausgesetzte Mobilisierung von Menschen und Dingen, natürlichen und kulturellen Ressourcen, der große Verschiebebahnhof der Moderne verlangt nach Organisation und Steuerung, und er verlangt nach ihnen in einem Maße, das alles in den Schatten stellt, was die Menschheit zuvor an Organisations- und Steuerungsbedarf erlebt hat. Die Folgen zeigen sich zum einen im Anschwellen der Verwaltungsapparate – das 19. Jahrhundert ist auch die Zeit eines exponentiellen Wachstums der Bürokratie – und zum andern eben in der Politisierung. Denn Politik ist ja nichts anderes als die Gesamtheit der Diskurse, mit denen eine Gesellschaft die Prozesse zu steuern versucht, in denen sie sich organisiert. [<<25]

Was es mit alledem auf sich hat, hatte sich in der Zeit der Revolution von 1789 mit aller wünschenswerten Deutlichkeit gezeigt. Da trat mit einem Schlag das ganze Panorama der modernen Politik vor die staunenden Augen der Welt: das große Forum des Parlaments, das Drama der Wahlen, die Parteipolitik, die kritische Begleitmusik der Presse, die professionelle Bearbeitung der Öffentlichkeit, die Typen des Berufspolitikers, des Politingenieurs und des politischen Journalisten. Politik wurde hier für alle sichtbar zum parteipolitischen Kampf zwischen Modernisierern und Modernisierungsgegnern, zwischen Erneuerern und Bewahrern, und hier wiederum zwischen radikalen und moderaten Erneuerern – Revolutionären und Reformern – und zwischen moderaten und radikalen Bewahrern – Konservativen und Reaktionären. Hier entstanden übrigens auch die Begriffe von „linker“ und „rechter“ Politik, abgeleitet von der Sitzordnung der Französischen Nationalversammlung.

Das Wechselspiel von Revolution und Restauration

Seinen deutlichsten Ausdruck fand der politische Kampf um den Fortschritt aber eben im Wechselspiel der Revolutionen und der Restaurationsversuche. So bezeichnen Revolutionen die wichtigsten Daten im politischen Leben des 19. Jahrhunderts. Die erste in der langen Reihe ist die Französische Revolution von 1789, eine Revolution, die auch für Deutschland die größten Folgen gehabt hat, obwohl es hier nur in einem einzigen Fall zur Gründung einer Republik gekommen ist, in Mainz, und im übrigen allenfalls zu Reformen wie zur Abwicklung des „Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation“ und zu den inneren Reformen in Preußen und einigen anderen deutschen Fürstenstaaten. Die Epoche der Französischen Revolution ging mit dem Wiener Kongreß von 1814/15 zu Ende, der eine Wiederherstellung der alten Mächte Monarchie, Adel und Kirche brachte, die sogenannte Restauration von Thron und Altar. Auf dem Boden des Alten Reichs ließ er die Verhältnisse entstehen, die ihre Kritiker nach dem führenden Staatsmann Österreichs, dem Fürsten Clemens von Metternich (1773–1859), das System Metternich nannten.

Das Ziel Metternichs und seiner Mitstreiter war es, den Geist, der 1789 aus der Flasche gefahren war, wieder in die Flasche zurückzupraktizieren, und sie scheuten dabei kein Mittel der Gewalt. Spätestens seit den Karlsbader Beschlüssen der deutschen Fürsten von 1819 gab es überall in Deutschland das, was man Demagogenverfolgung nannte, [<<26] gab es eine staatliche Zensur, ein ausgedehntes Spitzelwesen und die ganze Palette repressiver polizeilicher Maßnahmen, wenn sich auch nicht alle Fürstenstaaten mit der gleichen Intensität daran beteiligten. Davon war auch die Literatur betroffen, denn gerade die Literaten hörten nicht auf, die Ziele der Französischen Revolution – „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ – und die Ziele der sogenannten Befreiungskriege von 1813/15 – „Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland“ – zu bereden, zu besingen und überhaupt in jeder erdenklichen Form präsent zu halten.

Aber der Geist des Fortschritts ließ sich nicht wieder in die Flasche zurückzwingen. Auch politisch war er weiter am Werk, nicht nur in der Literatur, so zum Beispiel in der Verfassungsbewegung, also im Ringen darum, daß sich die Fürstenstaaten Verfassungen gäben, die gewählte Parlamente vorsähen. Die Wahlen, an die man dabei dachte, waren allerdings noch keine „freien, gleichen und geheimen Wahlen“, wie wir sie kennen; nur ein kleiner Kreis wohlhabender Bürger sollte an ihnen teilnehmen können, insofern das Wahlrecht an einen „Zensus“, an Besitz und Einkommen geknüpft blieb.

Bereits 1830 kam es zu einer zweiten Revolution, der sogenannten Juli-Revolution, die freilich nur in ihrem Ursprungsland Frankreich zu einer Veränderung der politischen Verhältnisse führte; in Deutschland blieb die Unruhe überschaubar. Dafür war die Reaktion der Machthaber um so heftiger; die Zügel der „Demagogenverfolgung“, der Zensur und Repression wurden weiter angezogen, so daß viele namhafte Literaten wie Heinrich Heine und Ludwig Börne (1786–1837) nach Paris ins Exil gingen. Denn in Frankreich hatte die Juli-Revolution in der Tat ein Mehr an Freiheit gebracht, eine Stärkung des Parlaments unter dem neuen König, dem „Bürgerkönig“ Louis Philippe, und vor allem ein Mehr an Pressefreiheit.

Das dritte große Revolutionsjahr ist das Jahr 1848, das Jahr der März-Revolution. Wiederum ging die Revolution von Frankreich aus, aber sie erfaßte nun auch weite Teile Deutschlands, und sie brachte endlich die von den Liberalen ersehnten Wahlen. Das Parlament, das aus ihnen hervorging, das berühmte Parlament in der Frankfurter Paulskirche, hat sich aber nicht auf Dauer etablieren können und seine Macht bald wieder verloren. Frankreich wurde zunächst zum zweiten Mal eine Republik, um sich 1852 erneut in ein Kaiserreich [<<27] zu verwandeln, mit einem Neffen Napoleons, Napoleon III., an der Spitze. Dieses wurde 1871, nach dem verlorenen Krieg gegen Deutschland, zum Schauplatz einer vierten Revolution und überdies auch des Aufstands der Pariser Kommune, einer Revolution in der Revolution, bei der man erstmals mit dem Kommunismus Ernst zu machen suchte. Deutschland hingegen mußte bis 1918 auf die nächste Revolution warten.

 

Deutschland und Europa

Der Blick auf das Wechselspiel von Revolution und Restauration zeigt, daß man, wenn man von der politischen Geschichte Deutschlands im 19. Jahrhundert spricht, immer auch an Frankreich denken muß. Denn das politisch bewegte Deutschland schaute auf Frankreich, so wie das ökonomisch interessierte nach England, dem Land der industriellen Revolution und des Kapitalismus. Das künstlerische Deutschland zog übrigens weithin noch immer eine andere Orientierung als die nach Westen vor; es blickte – wie all die Jahrhunderte zuvor seit den Zeiten der Renaissance – nach dem Süden, nach Italien, dem Land, auf dessen „klassischem Boden“ (Goethe) man die Antike und deren künstlerisches Erbe studieren konnte. Italienreisen blieben auch im 19. Jahrhundert noch ein fester Programmpunkt in der Ausbildung des Künstlers.

Allerdings kamen nun immer mehr Reisen nach Frankreich und England hinzu, freiwillige Reisen ebensowohl wie politisch erzwungene, und das waren eben keine Reisen zur Antike mehr, sondern Reisen in die Moderne. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts, mit dem Durchbruch der ästhetischen Moderne im engeren Sinne, wird Paris schließlich vollends zur Hauptstadt der Kunst und löst damit Rom als Ziel von Künstlerreisen ab. Naturalisten wie Michael Georg Conrad (1846–1927) und Symbolisten wie Stefan George (1868–1933) machen ihre entscheidenden künstlerischen Erfahrungen nicht mehr in Italien, sondern in Paris. Das gilt es festzuhalten, denn auch darin kann man etwas von der Entwicklung von Kunst und Literatur im 19. Jahrhundert greifen; Künstlerreisen haben ja eine eigene Logik und Aussagekraft.

Bürgertum vs. Adel

Zurück zur Politik. Wenn das 19. Jahrhundert nacheinander so viele Revolutionen erlebt hat, so lag das vor allem daran, daß auf jede Revolution ein offener oder schleichender Restaurationsversuch folgte, der die revolutionären Kräfte erneut herausforderte. Restauration hieß hier vor allem, die Monarchie, das „Gottesgnadentum“ des [<<28] Souveräns zu stärken und die Position des Adels als der politisch-gesellschaftlichen Elite zu sichern. Solche Restauration der „legitimen“, durch Erbschaft zur politischen Führung berechtigten Mächte gelang jedoch nur noch in Grenzen. Denn die Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung war längst auf das Bürgertum übergegangen. Im Zuge der industriellen Revolution errang es sich vollends die ökonomische Macht, und die wollte es nun auch in politische Macht ausgemünzt sehen, schon allein um die Rahmenbedingungen seines Wirtschaftens mitbestimmen zu können. Das Prinzip der Monarchie wurde durch den Verfassungsgedanken ausgehöhlt, die Fürstenstaaten wurden konstitutionelle Monarchien mit gewählten Parlamenten. Und der Adel, dieses Relikt des mittelalterlichen Feudalwesens, dessen existentielle Basis der Landbesitz und die Gutswirtschaft waren, geriet nicht nur ökonomisch gegenüber dem potenteren Bürgertum ins Hintertreffen.

Schon der Wiener Kongreß hatte mit dem Gedanken, die „legitimen“ Mächte zurückzubringen, nicht wirklich Ernst gemacht. Von den an die dreihundert staatlichen Gebilden des Alten Reichs blieben gerade einmal 37 übrig, die anderen wurden „mediatisiert“, von größeren Nachbarstaaten geschluckt. Viele fürstliche Familien waren also auf Dauer entmachtet und saßen nun frustriert und scheeläugig auf den Schlössern herum, die ihnen geblieben waren; und je weniger sie noch zu sagen hatten, desto mehr bestanden sie auf ihren Privilegien und desto verbissener kultivierten sie ihre Prätentionen. Aber auch so und gerade so blieb der Adel ein gesellschaftlich bedeutsamer Faktor; nach wie vor wurde er bei Hofe, beim Militär und im Staatsdienst bevorzugt und beanspruchte er überall im gesellschaftlichen Leben besondere Beachtung. So stellt sich die Gesellschaft im 19. Jahrhundert zwar nicht mehr als eine Ständegesellschaft dar wie noch im 18. Jahrhundert, wohl aber als eine Dreiklassengesellschaft, wie sie Karl Marx seinerzeit analysiert und beschrieben hat, bestehend aus den Klassen des Adels, des Bürgertums und des großen Rests, der Bauern, Tagelöhner, Handwerker und Industriearbeiter.

Einen guten Einblick in diese Verhältnisse gewähren die Romane von Karl Immermann. Zugleich erhellt aus ihnen, in welchem Maße und auf welche Weise sie die zeitgenössische Literatur beschäftigt haben. Deshalb sollen sie hier als Leitfaden für eine erste Annäherung an die Lebenswelt des 19. Jahrhunderts dienen. [<<29]

1 Friedrich Jaeger, Jörn Rüsen: Geschichte des Historismus. München 1992. – Annette Wittkau: Historismus. Göttingen 1992. – Moritz Baßler u. a. (Hrsg.): Historismus und literarische Moderne. Tübingen 1996.

2 Helmut Schanze (Hrsg.): Romantik-Handbuch. Stuttgart 1998. – Detlef Kramer: Romantik. Stuttgart Weimar 2001. – Ernst Müller: Romantisch/Romantik. In: Ästhetische Grundbegriffe. Bd. 5. Stuttgart 2003, S. 315–344.

3 Hugo Aust: Realismus. Lehrbuch Germanistik. Stuttgart Weimar 2006. – Bernd Balzer: Einführung in die Literatur des Bürgerlichen Realismus. Darmstadt 2006. – Christian Begemann (Hrsg.): Realismus. Epochen – Autoren – Werke. Darmstadt 2007.

4 Reinhard Lauer (Hrsg.): Europäischer Realismus. Wiesbaden 1980.

5 Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. 3 Bde. Stuttgart 1971–1980.

6 Peter Stein: Epochenproblem Vormärz. 1815–1848. Stuttgart 1974. – Walter Jaeschke (Hrsg.): Philosophie und Literatur im Vormärz. 2 Bde. Hamburg 1995. – Martina Lauster u. a. (Hrsg.): Vormärzliteratur in europäischer Perspektive. 3 Bde. Bielefeld 1996–2000.

7 Helmut Koopmann: Das Junge Deutschland. Eine Einführung. Darmstadt 1993.

8 Hugo Aust: Der historische Roman. Stuttgart Weimar 1994.

9 Jürgen Hein: Dorfgeschichte. Stuttgart 1976. – Uwe Baur: Dorfgeschichte. München 1978.

10 Friedrich Theodor Vischer: Ästhetik. 3 Teile. Reutlingen Stuttgart 1846–1857. Teil 3, S. 1305.

11 Dieter Langewiesche: Europa zwischen Restauration und Revolution. 1815–1849. München 2007.