Geschichte der deutschen Literatur Band 4

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„Wunderbare Gedanken und Träume beherrschen die Menschen“, sagte Hermann. „Trotz alles Redens von der praktischen Richtung des Zeitalters laufen die Vorstellungen und Dinge weit auseinander, und der Wahn hat eine furchtbare Macht gewonnen.“ (…)

„Wiederum sind auch die außerordentlichsten Glücksfälle gedenkbar“, versetzte Wilhelmi. „Eigentum und Besitz haben ihre schwere tellurische Natur aufgegeben; sie streichen, gasartig verflüchtigt, durch die Lüfte, und niemand von uns weiß, ob nicht auch er in den Bereich eines solchen ziehenden Schwadens kommen werde. Kurz, Freund, es kann an deiner und es kann an meiner Stirn mit unsichtbarer Schrift das Wort Millionär geschrieben stehn, so wenig Anschein die Sache auch jetzt für sich haben mag.“ (IW 3, 415–417)

Die „Übergangsperiode“ versetzt den Menschen auf eine Weise in Bewegung, die ihn daran hindert, tieferreichende emotionale Bindungen auszubilden und zu pflegen; er soll nach dem Urteil Immermanns hier schon zu dem werden, was der moderne Soziologe Richard Sennett im Blick auf die Verhältnisse am Ende des 20. Jahrhunderts den „flexiblen Menschen“ genannt hat.16 Zugleich lösen sich die religiös-weltanschaulichen Bindungen; eine „innere Unruhe“ macht sich breit, über der noch der letzte „Halt“ verlorengeht. An ihre Stelle tritt die Verheißung [<<44] des ökonomischen Erfolgs; da im Zeichen des neuen Kapitalismus „Eigentum und Besitz“ ihren „tellurischen“ Charakter – ihre Bindung an Grund und Boden – verloren haben und nicht weniger mobil geworden sind als alles andere, scheint nun jedem die Karriere vom Tellerwäscher zum Millionär offenzustehen.

Epigonentum als Leben aus zweiter Hand

„Wir können nicht leugnen, daß über unsre Häupter eine gefährliche Weltepoche hereingebrochen ist. Unglücks haben die Menschen zu allen Zeiten genug gehabt; der Fluch des gegenwärtigen Geschlechts ist aber, sich auch ohne alles besondre Leid unselig zu fühlen. Ein ödes Wanken und Schwanken, ein lächerliches Sichernststellen und Zerstreutsein, ein Haschen, man weiß nicht, wonach, eine Furcht vor Schrecknissen, die um so unheimlicher sind, als sie keine Gestalt haben! Es ist, als ob die Menschheit, in ihrem Schifflein auf einem übergewaltigen Meere umhergeworfen, an einer moralischen Seekrankheit leide, deren Ende kaum abzusehen ist.

Man muß noch zum Teil einer andern Periode angehört haben, um den Gegensatz der beiden Zeiten, deren jüngste die (Französische) Revolution (von 1789) in ihrem Anfangspunkte bezeichnet, ganz empfinden zu können. Unsre Tagesschwätzer sehen mit großer Verachtung auf jenen Zustand Deutschlands, wie er gegen das letzte Viertel des vorigen Jahrhunderts sich gebildet hatte und noch eine Reihe von Jahren nachwirkte, herab. Er kommt ihnen schal und dürftig vor; aber sie irren sich. Freilich wußten und trieben die Menschen damals nicht so vielerlei als jetzt; die Kreise, in denen sie sich bewegten, waren kleiner, aber man war mehr in seinem Kreise zu Hause; man trieb die Sache um der Sache willen, und, daß ich bei der Schutzrede für die Beschränkung mit einem recht beschränkten Sprüchlein argumentiere: der Schuster blieb bei seinem Leisten. Jetzt ist jedem Schuster der Leisten zu gering, woher es auch rührt, daß kein Schuh mehr uns bequem sitzen will.

Wir sind, um in einem Worte das ganze Elend auszusprechen, Epigonen und tragen an der Last, die jeder Erb- und Nachgeborenschaft anzukleben pflegt. Die große Bewegung im Reiche des Geistes, welche unsre Väter von ihren Hütten und Hüttchen aus unternahmen, hat uns eine Menge von Schätzen zugeführt, welche nun auf allen Markttischen ausliegen. Ohne sonderliche Anstrengung vermag auch die geringe Fähigkeit wenigstens die Scheidemünze jeder Kunst und Wissenschaft zu erwerben. Aber es geht mit geborgten Ideen wie mit geborgtem Gelde: wer mit fremdem Gute [<<45] leichtfertig wirtschaftet, wird immer ärmer. Aus dieser Bereitwilligkeit der himmlischen Götter gegen jeden Dummkopf ist eine ganz eigentümliche Verderbnis des Worts entstanden. Man hat dieses Palladium der Menschheit, dieses Taufzeugnis unsres göttlichen Ursprungs, zur Lüge gemacht, man hat seine Jungfräulichkeit entehrt. Für den windigsten Schein, für die hohlsten Meinungen, für das leerste Herz findet man überall mit leichter Mühe die geistreichsten, gehaltvollsten, kräftigsten Redensarten. Das alte schlichte Überzeugung ist deshalb aus der Mode gekommen, und man beliebt, von Ansichten zu reden. Aber auch damit sagt man noch meistenteils eine Unwahrheit; denn in der Regel hat man nicht einmal die Dinge angesehn, von denen man redet und womit beschäftigt zu sein man vorgibt.“ (…)

„Ich muß Ihnen gestehn, daß mich die Betrachtung der allgemeinen Schwätzerei oft der Verzweiflung nahe gebracht hat. Wenn ich rings um mich nichts als das lose, lockre Plaudern vernahm, wenn ich Kunstvereine mit pomphafter Ankündigung von Leuten stiften sah, die kalt an den Werken des Raffael vorübergehn würden, zeigte man ihnen diese, ohne den Namen des Meisters zu nennen; wenn ich hörte, da habe wieder einmal einer, vom innern Drange getrieben, das katholische Glaubensbekenntnis abgelegt, von dem ich recht wohl wußte, daß es mit dem religiösen Bedürfnisse bei ihm betrübt stand, daß er nur ein leichter, nachgiebiger Weltcharakter war; wenn die Schneeflocken des politischen kalten Brandes mir aus dem Munde solcher entgegenstäubten, von denen ich voraussehen konnte, sie würden nicht der kleinsten Aufopfrung für ein Gemeinwesen fähig sein: dann, mein junger Freund, hatte ich Momente, in denen ich mir hätte das Leben nehmen können! Ich betastete mich und fragte: Bist du nicht auch ein Schemen, der Nachhall eines andern selbständigen Geistes? Ich grub in die letzten Tiefen meiner Seele und suchte nach der Affektation (Affektiertheit), die, das wußte ich wohl, in irgend einem verborgnen Winkel bei mir ebenfalls lauern mußte. Ich sah ja alles verfälscht, vom armseligen Journalisten und seinem Handlanger an, die beide mit entwendetem Tiefsinn und geraubtem Scharfblick nur ihr trostloses Leben fristen und ihre winzige Persönlichkeit bemerkbar machen wollen, bis hinauf zum Fürsten, dem ein faselnder Minister allerhand unregentenhafte Kostbarkeiten in den Mund legt. Sollte ich denn allein eine Ausnahme machen?“

„Sie sind eine!“ rief Hermann begeistert, Wilhelmin feurig die Hand drückend. „Wir leben in einer erbärmlichen Welt, und man möchte mit Feuer und Schwert darein wüten!“ (IW 3, 135–137) [<<46]

Immermanns Krisendiagnose

In solchen Szenen entwirft Immermann in den „Epigonen“ ein weitgespanntes, aspektreiches Panorama der Prozesse, die wir heute unter den Begriff der Modernisierung zusammenfassen. Was er dabei an Phänomenen des sozialen Wandels benennt, ist für ihn durchweg krisenhafter Natur, gilt ihm als Ausdruck einer einzigen großen Krise, die alle Bereiche des menschlichen Lebens erfaßt hat. Sie betrifft in seiner Sicht nicht nur die politisch-gesellschaftliche Sphäre, äußert sich nicht nur in den Kämpfen zwischen den Kräften des Fortschritts und den Mächten der Beharrung, zwischen der neureichen Bourgeoisie und dem alten Adel, den Vorkämpfern der Revolution und den Zwingherrn der Restauration, den Progressiven und den Konservativen. Sie reicht für ihn bis in das seelisch-geistige Leben des Individuums hinein, um es in seinen Vorstellungen von der Welt und von sich selbst zu verunsichern und in seinen Beziehungen zu den anderen Individuen und zur Gesellschaft insgesamt zu verstören, um seine Welt- und Selbstverhältnisse in all ihren Dimensionen von Grund auf zu erschüttern, bis dahin, daß es auch sich selbst nur noch als einen „Schemen“ erleben kann. Und sie prägt und bestimmt damit nach seiner Auffassung auch die Entwicklung von Kunst und Literatur: „Alle diese Übel hat die Kunst mitgelitten“ (IW 4, 52).

Im folgenden soll Immermanns Zeitdiagnose unter drei Aspekten vertieft werden, die für die Literatur von besonderer Bedeutung sind. Der erste Aspekt ist das Bewußtsein, ein Epigone zu sein, der Gedanke, sich als Mensch des 19. Jahrhunderts nurmehr als Nachfahre einer gerade vergangenen „großen Bewegung im Reiche des Geistes“, als „Nachhall eines andern selbständigen Geistes“ begreifen zu können, eben jenes Moment, das von Immermann bereits im Titel seines Romans als zentral herausgestellt wird. Sodann soll näher untersucht werden, was man die Ambivalenz der Individualisierung nennen könnte. So wie Immermann den Prozeß der Modernisierung darstellt, eröffnet dieser dem Einzelnen zwar immer größere Spielräume für seine Selbstverwirklichung, gibt er ihm mehr und mehr die Möglichkeit zu leben, „wie er Lust hat“, setzt er ihn damit zugleich aber den Gefahren eines neuen „Nomadentums“ aus, den Gefahren der Entwurzelung, der äußeren Bindungs- und inneren Haltlosigkeit.

Und schließlich soll dem weiter nachgegangen werden, was Immermann „moralische Seekrankheit“ nennt. Die „Restauration von Thron [<<47] und Altar“ – so Immermanns Diagnose – hat den Prozeß der Säkularisation nicht aufhalten können, hat nicht verhindern können, daß sich die alten religiösen Bindungen weiter lockerten und eine eigentümliche Beweglichkeit in allen Fragen der Weltanschauung und der Ethik aufkam, die ein permanentes Wechselspiel mehr oder weniger beliebiger „Ansichten“ an die Stelle fester „Überzeugungen“ treten ließ. Näherhin will Immermann eine ständig wachsende Skepsis gegenüber dem beobachten, was in der abendländischen Tradition „Geist“ und „Seele“ genannt wird, und damit gegenüber allem, was die Zeitgenossen und die Erben von Goethe und Schiller in die Formel vom „Wahren, Guten und Schönen“ zu fassen pflegten, ein Prozeß, den er als Weg vom Idealismus zu Materialismus und Nihilismus begreift und den die Philosophiegeschichte im Rückblick als Weg „von Hegel zu Nietzsche“ beschrieben hat.17

2.2 Klassikglaube und Epigonenbewußtsein

„Wir sind Epigonen.“ Wenn Immermann den Begriff des Epigonen18 in den Mittelpunkt seiner Zeitdiagnose rückt, so benennt er damit ein Moment, das in der Tat als ein Schlüssel zum Selbstverständnis des 19. Jahrhunderts gelten kann. Das Bewußtsein, ein Epigone, ein Nachgeborener von Zeiten zu sein, die in allen Bereichen der Kultur Erstklassiges geleistet und Vorbilder von unübertrefflicher Vollkommenheit aufgestellt hätten, und der Zweifel daran, mit den eigenen Leistungen dem Niveau dieser Vorbilder entsprechen zu können, findet sich bei fast allen kreativen Köpfen des 19. Jahrhunderts. Er findet sich auch und gerade bei den Autoren, auf deren Werke wir heute als auf die Spitzenleistungen seiner Literatur zurückblicken. Hiervon ist allenfalls Georg Büchner auszunehmen, der zu wenig mit der Kunst der Vergangenheit und zu sehr mit den Fragen der Gegenwart beschäftigt [<<48] war, um sich lange bei dem Gedanken aufzuhalten, er sei womöglich ein Epigone.

 

Das Verhältnis des 19. Jahrhunderts zur Kunst

Das 19. Jahrhundert war zwar ein kunstgläubiges Jahrhundert, aber es hat an die Kunst, die es selbst hervorbrachte, nicht recht glauben können. Die Kunst stand im Zenit ihres gesellschaftlichen Ansehens. Die Eliten der Gesellschaft, insbesondere weite Teile des Bildungsbürgertums huldigten dem, was die Romantik und die idealistische Ästhetik „Kunstreligion“19 genannt hatten, verbrachten so viel Zeit wie möglich mit Bildender Kunst, Musik und Literatur, und das ersetzte ihnen vielfach das Leben in den Formen einer an die alten christlichen Kirchen gebundenen Religiosität. Der Wunsch nach „Erhebung“ über die Malessen und Quisquilien des Alltags, nach Selbstvergewisserung, Bildung und Orientierung, nach Auskunft in den letzten Fragen des Menschenlebens, das Verlangen nach „Glauben, Hoffnung und Liebe“ suchte man nun nicht mehr so sehr in der Religion als vielmehr in der Kunst zu stillen.

So war denn jeder, der es sich leisten konnte, bestrebt, seinen Lebensraum – seine Wohnung, sein Anwesen, seine Stadt – so reich wie möglich mit Werken der Bildenden Kunst und des Kunstgewerbes auszustatten. Man trieb Hausmusik, versammelte sich zu Chorgesang, pflegte literarische Zirkel, legte – so wie die Herzogin in Immermanns „Epigonen“ – in den Gesellschaftsräumen seines Hauses Bücher aus und machte sie zum Gegenstand kultivierter Konversation, unterhielt einen ausgedehnten, ästhetisch ambitionierten Briefverkehr, schrieb Tagebücher und Gedichte und nutzte jede Gelegenheit, um ein Theater, eine Oper oder ein Konzert zu besuchen. In manchen Kreisen gewöhnte man sich daran, jeden Abend ins Theater oder in die Oper zu gehen, so wie in früheren Zeiten jeden Morgen in die Messe. Es wurde üblich, schon seine Kinder, zumal seine Töchter, durch Zeichen- und Klavierlehrer in die Anfangsgründe der Malerei und des Musizierens einführen und damit eine Art ästhetischer Konfirmation durchmachen zu lassen. Und so wurden nun überall Theater-, [<<49] Opern- und Konzerthäuser, Museen, Bibliotheken, Kunstakademien und Konservatorien errichtet, Bauten, für deren repräsentative Ausgestaltung kein Aufwand groß genug schien. Keine Zeit hat der Kunst so viele Tempel gebaut wie das 19. Jahrhundert.

Ausrichtung auf das „klassische Erbe“

Dieser Kult der Kunst hat sich aber eben weniger an der Kunst der Gegenwart als an der der Vergangenheit entzündet, suchte sich vor allem auf die große Kunst früherer Zeiten zu gründen, auf das, was man als das klassische Erbe der Nation begriff. Bei der Literatur war das in erster Linie das Erbe der jüngstvergangenen „Goetheschen Kunstperiode“ (Heine), einer Epoche, die im Laufe des 19. Jahrhunderts immer entschiedener zur Deutschen Klassik stilisiert wurde. Schon in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts war der Gedanke aufgekommen, die deutsche Literatur sei mit dem Auftreten von Autoren wie Goethe und Schiller in eine „Blütezeit“, ein „Goldenes Alter“ eingetreten, ihre Entwicklung habe mit ihnen eine Phase „klassischer Vollendung“ erreicht, die sich kaum noch übertreffen ließe und die sich mit dem „Goldenen Alter“ jeder anderen Nationalliteratur messen könne. Diese Vorstellung hatte sich in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts weiter befestigt, und sie wurde für viele vollends zur Gewißheit, als der letzte lebende Protagonist und Inbegriff der „großen Bewegung im Reiche des Geistes“, als Goethe 1832 starb.20

Denn beim Tod Goethes ging eine Welle der Betroffenheit durch die Nation, über der sich jeder, der am kulturellen Leben teilhatte, dessen bewußt wurde, daß eine große Zeit unwiderruflich vorbei war und daß diese womöglich das Beste umfaßte, was die deutsche Literatur bis dahin gesehen hatte. Aus dem Wunsch, nichts von dem, was da an geistigen Schätzen zusammengekommen war, wieder zu verlieren und sich ein möglichst umfassendes Bild von ihnen zu machen, erwuchsen erste Arbeiten zur Neueren Deutschen Literatur, Werke, die sich wie die „Romantische Schule“ von Heine schon ein Jahr nach Goethes Tod an einem Überblick über die „Goethesche Kunstperiode“ versuchten oder diese wie die „Geschichte der poetischen Nationalliteratur der [<<50] Deutschen“ von Georg Gottfried Gervinus (1805–1871), die ebenfalls seit 1833 entstand und in fünf Bänden von 1835 bis 1842 erschien, sogar als triumphales Schlußtableau in ein Gesamtbild der Geschichte der deutschen Literatur einzustellen suchten, das eigens zu diesem Zweck entworfen wurde.

Damit waren die Weichen für eine Erinnerungskultur gestellt, die das Erbe der Goethezeit unter das Vorzeichen des Klassischen rückte und mit den entsprechenden Verheißungen und normativen Ansprüchen im kulturellen Leben präsent hielt. Gemäß der Tendenz des 19. Jahrhunderts zur Akademisierung allen gesellschaftlichen Wissens wurde dieser Erinnerungskultur bald schon ein wissenschaftliches Rückgrat eingezogen. Das Ergebnis war eine neue akademische Disziplin, die Neugermanistik, die Wissenschaft von der Neueren Deutschen Literatur, die es denn auch lange Zeit als ihre erste und vornehmste Aufgabe begriff, den Nachgeborenen das Erbe der „Deutschen Klassik“ nahezubringen.

Eine ähnliche Bedeutung wie Goethes Tod für die Literatur hatte der Tod Ludwig van Beethovens (1770–1827) für die Musik und der Tod Georg Wilhelm Friedrich Hegels (1770–1831) für die Philosophie. Mit Beethoven war nach Wolfgang Amadeus Mozart (1756–1791) und Joseph Haydn (1732–1809) die letzte Größe der Wiener Klassik, mit Hegel nach Immanuel Kant (1724–1804) und Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) der letzte bedeutende Kopf der klassischen deutschen Philosophie gestorben, genauer gesagt: der vorletzte, denn der jüngste der Großen, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775–1854), lebte noch; dieser schien sich allerdings bereits überlebt zu haben, spielte in den aktuellen philosophischen Debatten kaum noch eine Rolle, jedenfalls keine, die sich mit der Hegels messen konnte. Gerade daß drei so unterschiedliche Persönlichkeiten wie Goethe, Beethoven und Hegel, die jede auf einem anderen Feld der Kultur über viele Jahrzehnte hindurch eine führende Stellung innegehabt hatten und da jeweils zur Leitfigur einer „Blütezeit“ geworden waren, hintereinander weg von der Bühne des kulturellen Lebens abgetreten waren, überzeugte die Zeitgenossen von dem Gedanken, am Ende einer Epoche angelangt zu sein.

Klassikglaube und Epigonenbewußtsein

Die alte Zeit war vorbei, eine große Zeit, wie jeder zu wissen meinte, eine Zeit schier unfaßbarer Produktivität, die in fast allen Bereichen [<<51] des kulturellen Lebens Großartiges geleistet und der Entwicklung neue, zukunftsweisende Impulse gegeben hatte, die eine kaum zu überblickende Menge von hochbedeutsamen „klassischen“ Werken hervorgebracht hatte; nun konnte Neues kommen und mußte Neues kommen. Und da stellte sich eben heraus, daß es mit dem Neuen schwierig wurde, nachdem man sich von der jüngsten Vergangenheit einmal eine so hohe Meinung gebildet hatte.

Zunächst mochte man es freilich als komfortabel empfinden, eine große Zeit hinter sich zu wissen und mit ihren Schätzen wirtschaften zu können. Für jedes kulturelle Bedürfnis schien sich hier zu finden, was ihm Befriedigung verschaffen konnte, für jedes Anliegen ein autoritatives Sprachrohr, für jedes Vorhaben ein Vorbild und für jedes Problem eine Lösung. Die Wege schienen gebahnt; man schien auf einem festen Fundament zu stehen und sich dem Gefühl sicheren Besitzes hingeben zu dürfen. Auf die Dauer konnte jedoch nicht verborgen bleiben, daß man sich selbst, eben indem man die jüngste Vergangenheit in den Rang einer Klassik erhoben hatte, die undankbare Rolle eines Nachgeborenen zugewiesen hatte, ja daß man – wie bei Immermann zu sehen – damit die eigene Existenz geradezu durch das Nachgeborensein definiert hatte. Das Bewußtsein, ein Epigone zu sein, war der Preis, der für den Glauben an eine Klassik zu entrichten war, die sich durch Erbschaft in Besitz nehmen ließe. Und zu solchem Epigonenbewußtsein gehörte nun einmal die Allgegenwart der bangen Frage, ob die eigenen Leistungen vor dem Maß der klassischen Vorbilder bestehen und es an innovativer Kraft mit ihnen aufnehmen könnten.

Idealisierung und Harmonisierung der Goethezeit

Diese Frage verlor nun keineswegs mit den ersten Erfolgen der neuen Generation an Bedeutung, wurde vielmehr im Laufe des 19. Jahrhunderts immer dringlicher, insofern die große Zeit mit der wachsenden Distanz immer größer und ihr Erbe immer klassischer wurde. Hatte man in den dreißiger Jahren noch eine Vorstellung davon, daß Männer wie Goethe, Beethoven und Hegel zu ihrer Zeit durchaus umstritten waren, daß gar nicht so wenige ihrer Werke zunächst auf Widerstand gestoßen und beim breiten Publikum durchgefallen waren, daß die Goethezeit überhaupt eine Zeit widersprüchlicher Bestrebungen gewesen war, die sich in endlosen Kontroversen aneinander gerieben hatten – so hatten etwa die Romantiker eine Dauerfehde mit Goethe und seinem Kreis ausgetragen, hatten sie zuletzt noch versucht, das [<<52] Erbe des Sturm und Drang und selbst des Goethefreunds Schiller gegen Goethe in Stellung zu bringen, und waren viele der späten Werke Goethes, zum Beispiel der „West-östliche Divan“ (1819), der zweite Teil des „Wilhelm Meister“, die „Wanderjahre“ (1821), und der zweite Teil des „Faust“ (1833), sowohl bei der Literaturkritik als auch beim breiten Publikum auf Unverständnis, wenn nicht auf offene Ablehnung und Spott getroffen – so war all das bis zur Jahrhundertmitte weithin vergessen. Der Lärm der Schlachten war verklungen, die Kontrahenten rückten im Blick aus der Ferne immer näher zusammen, und ihre in so unterschiedliche Richtungen weisenden Aktivitäten wurden mehr und mehr im Sinne eines in sich geschlossenen Gesamtbilds der Epoche harmonisiert, so als hätten seinerzeit alle an einem Strang gezogen, alle das gleiche große Projekt verfolgt.

Das gilt vor allem für die Bestrebungen von Weimarer Klassik und Romantik. Selbst wer um deren jahrzehntelangen Streit noch wußte wie die Vertreter der allmählich sich formierenden Neugermanistik, ging davon aus, daß man hier wie dort letztlich ein und dasselbe große Ziel vor Augen gehabt hätte, das Ziel einer spezifisch deutschen, alle Möglichkeiten des Ästhetischen ausschöpfenden quasireligiösen Kunst, und war allenfalls bereit zuzugeben, daß man jeweils auf verschiedenen Wegen in das eine Himmelreich der Kunst- und Nationalreligion gelangt wäre – kein Wunder, wenn die Konturen der beiden literarischen Bewegungen mehr und mehr verschwammen, zumal beim breiten Publikum! So meinte man zum Beispiel, die romantische Dichtung nun von jenem pantheistischen Naturgefühl her verstehen zu können, das Goethe und die Spätaufklärung kultiviert hatten und das gerade die Romantik im Namen des Übernatürlichen hatte überwinden wollen, ja dieses Naturgefühl wurde nun überhaupt zum Inbegriff des Romantischen. Und so sah man überall bei Goethe eben die Kunst- und Nationalreligion am Werk, die das Spezifikum der Romantik gewesen war und die Goethe immer abgelehnt hatte, mit dem Ergebnis, daß Goethe schließlich als deren Inbegriff dastand.

Folgen für die Kunst des 19. Jahrhunderts

Mit dieser Harmonisierung der Kultur der Goethezeit tat man freilich sich selbst ebensowenig einen Gefallen wie dem Verständnis von Klassik und Romantik, denn damit machte man sich allererst wirklich zu Epigonen. Indem man der Epoche ihre innere Widersprüchlichkeit nahm, ihre Kontroversen einebnete und all das nach Kräften aus dem [<<53] Blick entfernte, was auch sie in all den Kämpfen an Schiefem und Unfertigem, Halbheiten und Mißerfolgen gesehen hatte, hob man sie auf einen Sockel, auf dem man nun in der Tat nicht mehr an sie heranreichte, beraubte man sich der Möglichkeit, sich auf produktive Weise mit ihrem Erbe auseinanderzusetzen, nämlich ihr Unausgetragenes aufzugreifen und auf eigene Rechnung, mit eigenen Mitteln zu bearbeiten.

 

Wo man sich vollends diesem Klassik-Kult ergab, blieb im Grunde nur noch der Weg, das in den klassischen Mustern Niedergelegte zu wiederholen, es zu variieren und zu kombinieren. Daß die Texte, die auf dieser Basis entstanden, hinter den Vorbildern zurückblieben, daß sie nach all den Harmonisierungsbemühungen im Vergleich zu diesen blaß und spannungsarm ausfielen, kann nicht verwundern. Literarhistorisch interessant sind an ihnen oftmals nur die unfreiwilligen Risse und Brüche, an denen kenntlich wird, daß hier zusammenwachsen sollte, was nicht zusammengehörte.

„Epigonenlyrik“

Das alles läßt sich wohl nirgendwo besser studieren als am Werk des Autors, der in der zweiten Jahrhunderthälfte zum beliebtesten deutschen Lyriker wurde und in dem man schon bald nach seinem Tod den Inbegriff dessen erblickte, was nun ausdrücklich „Epigonenlyrik“ oder auch „Professorenlyrik“ genannt wurde, am Werk von Emanuel Geibel (1815–1884).21 Obwohl die meisten seiner Gedichte im Gestus des Goetheschen Erlebnisgedichts daherkommen, also so tun, als seien sie spontan dem ureigensten Erleben des Autors entsprungen, verdanken sie sich letztlich vor allem der gelehrten Lektüre, dem versierten Arbeiten aus einem Fundus. Dieser Fundus umfaßt sämtliche Möglichkeiten der klassischen und romantischen deutschen Lyrik vom jungen Goethe bis zum alten Eichendorff, ja selbst noch solche aus vorklassischen Zeiten, wie sie etwa im protestantischen Kirchenlied konserviert sind. Fast für jedes Motiv, jede sprachliche Wendung, jedes Bild und jedes formale Mittel läßt sich bei Geibel ein Vorbild nachweisen.

Von diesen Vorbildern unterscheidet sein Gedicht vor allem eines: der selbstsichere, selbstgewisse Ton; die tiefe existentielle Unruhe, der so viele große Gedichte ihre Wirkung verdanken, ist in ihnen wie [<<54] weggeblasen. Solche Selbstsicherheit erwächst offensichtlich zunächst aus dem Bewußtsein, mit lyrischen Schätzen zu wirtschaften, die ihre Bedeutung schon längst und auf allgemein anerkannte Weise unter Beweis gestellt hätten, und sodann aus dem Zutrauen, deren Qualitäten im eigenen Gedicht zusammenführen, ja eine Art Quintessenz aller Möglichkeiten der deutschen Lyrik geben zu können.

Morgenwanderung

Wer recht in Freuden wandern will,

Der geh’ der Sonn’ entgegen;

Da ist der Wald so kirchenstill,

Kein Lüftchen will sich regen;

Noch sind nicht die Lerchen wach,

Nur im hohen Gras der Bach

Singt leise den Morgensegen.

Die ganze Welt ist wie ein Buch,

Darin uns aufgeschrieben

In bunten Zeilen manch ein Spruch,

Wie Gott uns treu geblieben;

Wald und Blumen nah’ und fern

Und der helle Morgenstern

Sind Zeugen von seinem Lieben.

Da zieht die Andacht wie ein Hauch

Durch alle Sinnen leise,

Da pocht ans Herz die Liebe auch

In ihrer stillen Weise,

Pocht und pocht, bis sich’s erschließt,

Und die Lippe überfließt

Vor lautem, jubelndem Preise.

Und plötzlich läßt die Nachtigall

Im Busch ihr Lied erklingen,

In Berg und Tal erwacht ihr Schall

Und will sich aufwärts schwingen, [<<55]

Und der Morgenröte Schein

Stimmt in lichter Glut mit ein:

„Laß uns dem Herrn lobsingen!“22

Bei aller Virtuosität im Formalen, insbesondere in den Fragen der Metrik, kann Geibels Gedicht nicht verbergen, daß ein Kombinieren von lyrischen Modellen, über dem sich deren Konturen auflösen, noch kein Zusammenführen und Vereinigen ist; daß ein Erlebnisgedicht im Stil Goethes eher an Kraft und Plausibilität verliert, wenn es wie hier immer wieder ins Romantisch-Stimmungslyrische, Aufklärerisch-Gedankenlyrische oder Kirchenliedhafte changiert oder wenn sich das Reden von den „ew’gen Dreien Gott, Natur und Liebe“ bald pantheistisch, bald kunstreligiös, bald nationalreligiös und bald religiös im überkommenen kirchlich-christlichen Verständnis gebärdet, handelt es sich dabei doch jeweils um Optionen, die im Grunde einander ausschließen.

Trotzdem oder vielmehr gerade so sind Geibels Gedichte aber zu einem großen Erfolg geworden; so erreichten die „Gedichte“ von 1840 bis 1905 130 Auflagen. Das Publikum konnte mit ihnen seinen kunst- und nationalreligiösen Neigungen frönen, konnte sich in ihnen dem Geist der Großen nahefühlen, ohne sich der Radikalität des Fragens aussetzen und in die beunruhigenden Auseinandersetzungen hineinbegeben zu müssen, aus denen deren Werke hervorgegangen waren und die diese selbst ihren Lesern zugemutet hatten. Dank des Klassikglaubens sind bei Geibel alle Kämpfe von Anfang an bereits gewonnen, ist alles „Wahre, Gute, Schöne“ immer schon zu sicherem Besitz geworden – „Erhebung“ light.

Bildende Kunst

Bei der Bildenden Kunst liegen die Verhältnisse übrigens etwas anders als bei der Literatur, der Musik und der Philosophie. Hier war das 19. Jahrhundert keineswegs auf die Goethezeit fixiert. Das heißt freilich nicht, daß man nicht auch hier seine klassischen Vorbilder gehabt und mit ihnen einen Kult getrieben hätte, der geeignet war, das Epigonenbewußtsein zu nähren. In der Malerei zum Beispiel [<<56] hatte man gleich zwei Epochen vor Auge, ohne deren Vorbild man nicht meinte auskommen zu können, die italienische Renaissance, die Zeit Raffaels (1483–1520), dessen Name auch in Immermanns „Epigonen“ als Inbegriff großer Kunst figuriert, und das „Goldene Alter“ der Niederländer, die Zeit von Rubens (1577–1640) und Rembrandt (1606–1669). Diese beiden Epochen der Kunstgeschichte waren in der Kultur des 19. Jahrhunderts so präsent, daß sie geradezu zu Namensgebern für allgemeine Stilbegriffe wurden. So wurde der Begriff des „Italienischen“ auch in der Literatur zu einem Synonym für einen Darstellungsstil, der die Gegenstände idealisiert und verschönert, und der des „Niederländischen“ zu einem Synonym für alle Formen eines Realismus, der das Häßliche nicht scheut.

Der Widerspruch von Epigonenbewußtsein und Fortschrittsglauben

Aus heutiger Sicht ist kaum noch nachzuvollziehen, wie sehr das 19. Jahrhundert vom Epigonenbewußtsein angefochten war, in welchem Maße es sich dem Klassikglauben hingab und an seiner eigenen Kunst zweifelte. Was die erste Garde seiner Autoren, was ein Heine oder Büchner, Stifter, Keller oder Fontane schrieb, bleibt ja doch keineswegs an Originalität und innovativer Kraft hinter den Werken von Klassik und Romantik zurück, läßt wohl überhaupt kaum etwas von dem vermissen, was man von großer Literatur erwarten mag. Und dennoch haben selbst Autoren dieses Kalibers sich immer wieder gefragt, ob sie mit ihrer eigenen Kunst vor den Klassikern bestehen könnten, mit unabsehbaren Folgen für ihr Schreiben, wenn auch anderen als bei Geibel. Im übrigen hat natürlich die Goethezeit schon ihre Geibels gehabt und nicht nur Goethes und Schillers hervorgebracht; epigonale Dichtung ist keineswegs ein Sonderproblem des 19. Jahrhunderts.

Die Frage, die sich uns heute vor allem stellt, ist, wie das Epigonenbewußtsein mit dem Fortschrittsglauben zusammengegangen sein mag, den das 19. Jahrhundert in so vielen anderen Bereichen der Kultur an den Tag legte. In Sachen Kunst blickte man seinerzeit immer nur zurück, huldigten nicht allein die Konservativen und die Reaktionäre, sondern selbst die entschiedensten Fortschrittler dem Historismus. Daß hier ein Problem lag, ein Problem nicht nur für das literarisch-ästhetische Leben, sondern für das Selbstverständnis der Gesellschaft insgesamt als einer Gesellschaft, die sich als modern begriff, haben die führenden Köpfe der Zeit von Anfang an gesehen, und es hat sie unausgesetzt beschäftigt. Vor allem die philosophische [<<57] Ästhetik hat sich mit großem Einsatz darum bemüht, die Vorstellung von einem allgemeinen geschichtlich-gesellschaftlichen Fortschritt mit einem Denken in den Kategorien von Klassik und Epigonentum zusammenzubringen, ja man sagt wohl nicht zuviel, wenn man behauptet, daß sie hierin eine ihrer vornehmsten Aufgaben erkannte.