Die Jungfrauen Sammelband

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Sein Gesicht war nah, so nah, dass ich die dunklen Stoppeln an seinen Wangen sehen konnte, die kleine silberne Narbe an seiner rechten Augenbraue, die dunkleren blauen Sprenkel in seinen Augen. Ich musste lachen.

Ich hielt mir die Hand vor den Mund und wollte es ersticken, konnte es aber nicht. Er machte großen Augen, denn mit dieser Reaktion hatte er wohl nicht gerechnet. Aber wie sollte ich sonst reagieren? Er sagte, dass er von einem anderen Planeten kam. Er war tatsächlich verrückt. Und einen Moment lang brach dieser Gedanke mir das Herz.

Der erste Mann, den ich wahrhaftig begehrt hatte, der erste Mann, dem ich gestattet hatte, mich zu berühren und er hatte sich als ein Verrückter herausgestellt. Gott, das war mal wieder typisch, oder? Als ob eine Waise und eine Witwe zu sein nicht schon ausreichte. Jetzt hatte ich mich auch noch von einem Verrückten verführen lassen.

Aber mit den Berührungen, den Küssen oder—sonstigem war jetzt Schluss.

Tränen stiegen mir in die Augen, als ich zwei Schritte zurückging und meine Hände vor mich hielt. “Maddox, ich gehe einfach in die Pension zurück und mache mich an die Arbeit. Ich werde vergessen, dass wir dieses Gespräch geführt haben. Dass du denkst, dass du von … woanders herkommst.”

“Ich sage die Wahrheit,” entgegnete er.

Die Beteuerung ließ mich unbeeindruckt. “Na schön. Nehmen wir an, ich glaube dir. Wie kommt es, dass du Englisch sprichst? Ich habe zwar noch nie diese Gegend verlassen, aber Leute aus anderen Ländern sprechen auch andere Sprachen. Du kannst mir nicht weismachen, dass die Leute auf … auf—”

“Everis,” fügte er für mich hinzu.

“—Everis Englisch sprechen.”

Er schüttelte den Kopf, dann drehte er den Kopf und deutete auf einen kleinen Knopf, er war nicht größer als ein Marienkäfer, hinter seinem Ohr. Er drückte einmal drauf und eine seltsame, mir unbekannte Sprache ertönte zwischen uns. Er tippte erneut auf den Knopf und ich hörte Französisch, eine Sprache, die ich von einigen Fallenstellern und Bergarbeitern, die durch die Stadt kamen, kannte. Noch ein Tippen und es wurde wieder still und er senkte die Hand und blickte mir in die Augen. “Das ist ein Osteo-Kommunikationsimplantat. Wir nennen es O-C. Der Rest der Flotte benutzt eine neuere Technik, die neurale Prozessionseinheit, aber auf Everis passen wir uns nur langsam an. Wir sind eine uralte Rasse mit noch älteren Bräuchen und wir mögen keine Veränderungen.”

“Was ist das? Ich verstehe nicht.” Ich hob meine Hand an sein Ohr und zog sie wieder zurück. Wollte ich das Ding anfassen? Ihn anfassen? Nein.

“Es ist ein Übersetzungsgerät, das mir erlaubt, mit allen bekannten Spezies im Universum zu kommunizieren. Damit kann ich alle bekannten Sprachen der Erde und aller Mitgliedsplaneten verstehen und sprechen.”

Ein Übersetzer? Er konnte Englisch und jede andere Sprache der Erde sprechen? Jede Sprache des Universums? Ich biss mir auf die Lippe, damit ich nicht wieder zu lachen anfing. “Was du da sagst, ist völlig lächerlich. Ich bin nicht sicher, ob du einfach nur grausam bist oder es tatsächlich glaubst.” Ich deutete zum Himmel, der jetzt ziemlich hell war. “So oder so … ich muss los. Herr Anderson wundert sich bestimmt schon, wo ich bleibe. Ich muss Kaffee kochen und die Biskuits backen.”

Ich machte auf den Hacken kehrt und marschierte davon. Ich traute mich nicht, zu rennen, denn dann würde er wissen, dass ich ihm nicht nur kein Wort glaubte, sondern dass ich außerdem Angst vor ihm hatte.

Ich war auf der leichten Anhöhe der Prärie angekommen, als er mir nachrief: “Die Markierung an deiner Hand, Cassie.”

Ich rieb mit den Fingern über die Stelle, die sogar jetzt noch kribbelte und hielt an, drehte mich aber nicht um.

“Es ist ein Paarungsmal. Als ich hierhergekommen bin, in deine Nähe, ist es aufgewacht.”

Davon wollte ich nichts hören und lief weiter. Ich wollte nicht einmal daran denken, dass er die Wahrheit sagen könnte.

“Fünf Tage,” brüllte er. “Vier Träume.”

Bilder der lebhaften Träume kamen mir in den Sinn.

“Ich habe sie auch. Diese Träume, die Markierung in meiner Handfläche. Ich weiß, dass du auf der rechten Hüfte ein kleines Muttermal hast. Am linken Ellbogen hast du eine kleine Narbe. Ich weiß, wie du dich anhörst, wenn du kreuz und quer auf meinem Schwanz kommst.”

Seine intimen Kenntnisse über mich ließen mich aufschrecken. Meine Haut heizte sich auf, denn es stimmte, was er da sagte. Ich wusste, wie sich sein Schwanz anfühlte.

“Du kannst versuchen vor der Wahrheit davonzurennen, aber die Träume werden nicht lockerlassen. Und ich genauso wenig.”

Darauf schlug ich die Flucht ein. Ich packte den Saum meines Kleides und rannte über den Hügel. Ich hielt erst an, als ich die Hintertür erreichte. Mir war klar, dass er mir folgte und so sehr ich mich auch dafür hasste, verlangsamte ich mein Tempo, damit ich nicht alleine nach Hause zurückkehrte. Maddox’ verrückte Worte hatten mich zwar verwirrt, aber Nerons allzu-intensiver Blick hatte mich auf eine Art beunruhigt, die ich nicht einmal nachvollziehen konnte.

An der Hintertür angekommen blieb ich stehen und machte mein Haar zurecht, es hing jetzt lose über meine Schultern, nachdem die Haarnadeln sich in der Eile verabschiedet hatten und jetzt kreuz und quer in der Prärie verstreut lagen. Ich drehte es im Nacken zu einem Knoten. Ich war verschwitzt und völlig außer Atem. Als ich runterblickte, bemerkte ich, dass die oberen Knöpfe an meinem Kleid noch offen waren. Hastig machte ich mich zurecht, ehe ich die Küche betrat. Herr Anderson sollte von der Sache mit Maddox nichts erfahren. Es war ein Geheimnis. Wie konnte ich auch jemandem davon erzählen? Nicht einmal ich glaubte diese Geschichte. Ich konnte nicht erklären, was er alles wusste und woher er es wusste.

Ich atmete tief durch und ging in die Küche. Sie war eigenartig still. Der Ofen war kalt, die Kaffeekanne leer. Herr Anderson war zwar kein Koch—er ließ sogar Wasser anbrennen—, aber er wusste sehr wohl, wie man Kaffee brühte.

Ich konnte die Uhr über dem Kaminsims im Salon ticken hören. “Hallo?” rief ich laut. Ich ging durch die Schwingtür ins Esszimmer, der Tisch war ungedeckt, der Raum leer. Dann ging ich um die Ecke und sah, dass die Vordertür offen war und ich ging durch den Flur, um sie zu schließen und plötzlich stand Maddox vor mir. Er trat herein und ich drehte ab und lief zurück Richtung Küche. Gerade als ich das Esszimmer verlassen wollte, erblickte ich den gestiefelten Fuß eines Mannes im Flur. Ich machte noch einen Schritt und konnte das Bein sehen. Es sah aus, als ob er am Fuße der Treppe eingeschlafen war. War Herr Anderson etwa gestürzt? Der alte Mann war gebrechlich. War er die Treppe heruntergefallen?

Ich ging näher und hielt mir die Nase zu, als der dicke, metallische Geruch von frischem Blut mich traf. Herr Anderson war nicht die Treppe runtergefallen. Da war Blut, sehr viel Blut, das sich wie eine Decke unter ihm ausbreitete. Seine Augen waren weit aufgerissen, sein Kopf war unnatürlich nach hinten gewinkelt und seine Kehle war aufgeschlitzt worden, ein grausiger Schnitt, der in der Mitte ein klaffendes Loch enthüllte. Der Mord war brutal, sein Kopf war wie an einem Scharnier nach hinten geklappt. Das Blut sickerte weiter aus seiner Gurgel und rann über sein Fleisch, um mit dem dunklen Fleck auf dem Holzboden zu verschmelzen.

Der Mann, der für mich wie ein Vater gewesen war, blickte mit blinden Augen zur Decke hoch. Seine Haut war fahl wie Asche, die Falten auf seinem Gesicht waren geglättet und sein Mund geöffnet mit einem stummen Schrei.

“Oh Gott. Herr And—”

Meine Kehle schnürte sich zu und ich konnte nicht einmal seinen Namen herausbringen; nicht, dass das von Bedeutung war. Jemand war für das hier verantwortlich. Irgendjemand war in die Pension gekommen und hatte Herr Anderson angegriffen. Ihn ermordet.

“Oh nein,” keuchte ich. Ich drehte ab und rannte zurück durchs Esszimmer, dabei bemerkte ich, wie sich neben mir etwas bewegte. Ich stieß die Küchentür auf und stieß gleichzeitig mit einem harten Körper zusammen. Ein starkes Paar Arme umpackte mich und hielt mich fest.

Ich wehrte mich, schlug auf ihn ein. “Nein! Verschwinde! Lass mich in Ruhe!” Er würde mich ebenfalls töten. Aufschlitzen und auf dem Küchenboden zurücklassen. “Nein!”

“Cassie,” sprach der Mann. “Cassie!” wiederholte er mit tiefer Stimme. Er packte meine Schultern und schüttelte mich. Als er den Kopf auf meine Höhe senkte, sah ich seine Augen, seine hellblauen Augen. “Ich bin’s, Maddox. Wir müssen weg hier.”

Ich zitterte von Kopf bis Fuß. “Wie bist du hierhergekommen? Du warst am Eingang … “ Ich ließ den Gedanken einfach fallen, denn die Einzelheiten waren jetzt egal und mein Magen drehte sich um, als ich an Herrn Andersons Kehle dachte. Einmal hatte ich zugesehen, wie eine Kuh geschlachtet wurde, wie man ihr mit einem langen Messer die Kehle durchgeschnitten und sie getötet hatte. Sie hatte ausbluten lassen. Den Anblick hatte ich nie mehr vergessen und danach hatte ich einen ganzen Winter lang kein Rind mehr gegessen. Aber das hier …

Ich konnte nicht sprechen, also deutete ich mit zittriger Hand über meine Schulter. “Er ist tot.”

“Es tut mir leid.” Maddox’ Blick wanderte über mein Gesicht, ehe er den Kopf hob und wie ein Bluthund die Luft witterte. Mit zusammengekniffenen Augen schleifte er mich hinter sich her. “Bleib hinter mir. Lass mich nicht aus den Augen.”

6


Cassie

 

Er ließ mich los und ich konzentrierte mich auf seine breiten Schultern, auf die schwarze Seide seines langen Haars, dort, wo er es im Nacken zusammengebunden hatte. Ich blickte nicht auf Herrn Anderson. Ich brauchte ihn nicht so zu sehen und fürchtete jetzt schon, dass ich das Bild nie mehr vergessen könnte. Ich lauschte Maddox’ schweren Schritten, als er sich dem Körper näherte und stehen blieb. Ich starrte ausdruckslos an die Wand, auf das verblasste Muster aus dunkelgrünen Ranken und gelben Gänseblümchen auf der Tapete, die seit ich mich erinnern konnte den Flur säumte.

Mein Verstand sehnte sich nach einer Beschäftigung, nach dem Trost der Routine und ich überlegte, ob ich ein Feuer im Ofen machen sollte, denn es war weit nach sechs. Ich verknotete die Finger und verwarf die törichte Idee sogleich wieder. Das Kochen hatte sich erübrigt. Weder Kaffee noch Frühstück wurden gebraucht. Herr Anderson war tot und ich brauchte auch nichts davon.

Maddox wandte sich zu mir um und zog mich in seine Arme. Ich grub meinen Kopf in seinen Hals, als er über Herr Andersons Leichnam stieg und bis zum ersten Treppenabsatz hinauf ging. Als er mich wieder auf die Füße stellte, befahl er, dass ich in seiner Nähe bleiben sollte und zog eine seltsam geformte Pistole aus seiner Tasche. Sie war kleiner als die Revolver, die ich in der Stadt gesehen hatte und nicht schwarz, sondern glänzend silbern. Verwirrt starrte ich auf die Waffe. Ich sah kein Magazin, wo er die Kugeln laden konnte. Die Seiten waren nahtlos und glatt, eher wie die abgerundete Mitte eines hübschen Silberlöffels als eine Waffe.

Oben angekommen ließ er mich an der Treppe stehen und ich sah zu, wie er von Zimmer zu Zimmer ging. Binnen einer Minute drehte er wieder um, aber in dieser kurzen Zeit war es mit meiner Ruhe endgültig vorbei.

“Was ist mit den anderen?” wollte ich wissen. “Herr Bernot und Herr Williams waren über Nacht hier.”

“Der Typ, der dir an den Arsch gefasst hat, hat im Hotel übernachtet.” Sein Kiefer war angespannt, seine Sehnen am Hals verkrampft.

“Was?” Ich war zu durcheinander, um irgendetwas davon zu begreifen. Natürlich war Herr Bernot letzten Abend nicht abgereist. “Aber er hat für zwei Nächte zusätzlich bezahlt. Im Voraus.”

Maddox schüttelte langsam den Kopf, sein Blick war auf mich fokussiert. “Letzte Nacht, nachdem er dich angegrapscht hat, habe ich ihn zum Hotel begleitet. Er ist weg.”

Diese Mitteilung machte mich nervös und gleichzeitig wurde mir eigenartig warm. Bis dahin hatte niemand wirklich auf mich aufgepasst. Niemand hatte mich vor Männern mit wandernden Händen beschützt oder sonst irgendetwas. Herr und Frau Anderson hatten mich zwar großgezogen, aber wirklich geliebt hatten sie mich nicht. Nicht so, wie ich es mir gewünscht hatte. Meine Mutter hatte ihnen gegenüber zugegeben, dass ich ein uneheliches Kind war und die fromme Frau Anderson hatte es mir nie wirklich verziehen. “Was ist mit Herrn Williams?”

“Der alte Mann im zweiten Raum?” sprach Maddox und deutete mit dem Kopf in die Richtung.

“Ja.”

“Er ist auch tot. Falls es dich irgendwie tröstet, er hat wohl geschlafen und nichts davon mitbekommen.”

Und doch war sich Herr Anderson seines Angreifers und Ablebens nur allzu bewusst gewesen.

Kopfschüttelnd schob ich mich an ihm vorbei und lief zu Herr Williams’ Schlafzimmertür. Die Tür stand leicht offen und noch ehe ich den Griff fassen konnte, strömte bereits der Blutgeruch auf mich ein. Ich stoppte, unfähig die Tür aufzuschwingen. Ich wollte nicht noch mehr sehen. Ich hatte bereits genug gesehen. Und dieser Geruch—noch mehr Blut—

In diesem Moment drehte sich mir endgültig der Magen um. Ich rannte den Flur entlang zur Hintertreppe und stürmte zur Hintertür hinaus. Ich fiel im Gras auf die Knie, beugte mich vorwärts und entleerte spontan meinen erbärmlichen Mageninhalt. Viel war es nicht, schließlich hatte ich seit dem Abend nichts mehr gegessen, nicht einmal Kaffee hatte ich getrunken.

Auf dem Gras bildete sich ein Schatten, ehe Maddox hinter mir in die Hocke ging und mit den Knien meinen Körper umklammerte.

Seine Hand landete auf meinem Nacken und er reichte um mich herum und bot mir ein Stofftuch an.

Ich wischte mir den Mund damit ab und versuchte durchzuatmen. “Hat dieser Mann das getan?” sprach ich und fuhr mit den Fingern über die hohen Grashalme. “Neron? Der Mann, auf den du Jagd machst?”

“Ja.” Maddox’ Stimme klang tief und verbittert. “Das hier ist eine weitere Nachricht. Eine sehr viel tödlichere, die seinem Wesen sehr viel mehr entspricht.”

“Warum geschieht das alles?” Ich sog die frische Luft in meine Lungen, aber der Geruch von vergossenem Blut lag mir immer noch in der Nase. “Warum hat er das getan? Meinetwegen? Ich bin eine einfache Frau, die in einer Pension arbeitet. Ich habe keine Familie, keinen Schwarm, keine Perspektiven oder Geld. Ich bin ein Niemand.”

Maddox legte den Arm um meine Taille, zog mich hoch und drehte mich um, sodass ich ihm gegenüber stand. Seine Finger hielten mein Kinn und ich blickte ihn an.

“Du bist kein Niemand,” entgegnete er energisch. “Du bist meine Partnerin. Du gehörst zu mir. Du bist nicht allein. Was Neron getan hat, diese Männer abschlachten—” er deutete mit dem Kinn aufs Haus, “—ist genau dasselbe, was er meiner Schwester angetan hat. Was er dir antun will.”

Mir rutschte das Herz in die Hose und ich verlor das Gleichgewicht, sodass ich mich komplett auf Maddox’ Arm lehnen musste. “Warum? Warum ich? Er kennt mich doch gar nicht. Er weiß überhaupt nichts über mich.”

“Er weiß, dass du mir gehörst, Cassie. Er weiß, dass er mir wehtun kann, indem er dir wehtut.”

Ich riss den Kopf von seiner Hand. “Dann verschwinde! Geh und nimm die Gefahr mit dir mit. Du bist schuld an deinem Problem, meinem Problem. Deinetwegen musste Herr Anderson sterben!”

Er schüttelte langsam den Kopf. “Neron ist ein Psychopath. Er wird alles und jedem auf seinem Weg töten. Was das Verschwinden anbelangt, ja. Wir müssen verschwinden. Aber ich habe dir bereits gesagt, dass ich nicht ohne dich gehen werde. Ich kann nicht.”

Er biss den Kiefer zusammen und um seinen Mund und seine Augen bildeten sich feine Linien, als er aufblickte und sich umsah. Er tröstete mich, beschützte mich, und zwar während da draußen womöglich ein Killer lauerte, uns beobachtete. Maddox hatte mich nicht zurückgelassen. Selbst jetzt schirmte er mich vom Wind ab und setzte sein Leben aufs Spiel, um an meiner Seite zu bleiben. “Ist er immer noch hier? Beobachtet er uns?”

“Nein, Cassie.” Der Arm um meinen Rücken gab mir einen ermutigenden Kniff. “Nein. Er ist weg. Er ist bösartig, aber er ist nicht dumm. Wenn er noch hier wäre, dann hätte ich ihn erledigt. Er schlägt zu und macht sich davon, ganz dem Feigling nach, der er nun mal ist.”

“Dann solltest du einfach verschwinden. Er wird dir folgen. Alles kommt wieder in Ordnung,” erwiderte ich. Auch wenn ich wusste, dass nichts wieder in Ordnung kommen würde. Auch wenn Maddox verschwinden würde, würde ich nicht einfach wieder reingehen und Herrn Anderson dabei antreffen, wie er gerade sein Ei aufschlug. Ich würde seinen leblosen Körper in einer Blutlache vorfinden.

“Nein, wird er nicht. Nicht jetzt, nachdem er dich gefunden hat. Du kannst nicht hierbleiben, Cassie. Wenn ich gehe, dann wird er nicht mir folgen, sondern dir. Er wird dich töten.”

Ich schüttelte den Kopf und anstelle von Übelkeit verspürte ich jetzt Todesangst, eine Kälte, die meine Glieder zu Blei werden ließ und meinen Geist seltsam leer machte. “Du bist verrückt. Ihr beide seid verrückt.”

Hysterie machte sich in mir breit, wie ein Dutzend Babyklapperschlangen, die sich in meinem Bauch eingenistet hatten. Meine Hände wurden klamm und meine Sicht wurde ganz schwammig.

“Du stehst unter Schock, Cassie.”

“Schock? Aber ja, ich bin schockiert.”

Seine Hände umfassten meine Schläfen und ich blickte in seine hellen Augen. Das war alles, was ich sehen konnte, als er sprach.

“Nein, dein Körper reagiert auf das Trauma, weil du die beiden Toten drinnen gesehen hast. Atme. Ja, so ist gut. Nochmal. Gut, nochmal.”

Als die Schwärze sich zurückzog, als ich mich wieder beruhigt hatte, seufzte er und zog mich in seine Arme. Mir fehlte die Kraft, um mich zu widersetzen, also sackte ich einfach vorwärts und erlaubte ihm, mein Ohr an sein Herz zu drücken. Sein gleichmäßiger, pochender Herzschlag beruhigte mich für lange Minuten. Als ich schließlich das Gefühl hatte, wieder alleine stehen zu können und dass mein Körper mir eventuell gehorchen würde, stupste ich ihn an. Bereit, in die Gänge zu kommen. Bereit, zu rennen.

Ich musste den Sheriff holen, aber ich wusste nicht, wie ich ihm die Sache erklären sollte … wer es getan hatte. Irgendjemand würde die Leichen säubern müssen—das Gesudel drinnen. Ich war nicht in der Lage dazu. Vielleicht würde der Sheriff sich bereiterklären oder eine der Damen aus der Kirche?

Was auch immer geschehen würde, ich musste einen klaren Kopf bewahren. Schluss mit den Gedanken an Küsse und Liebe machen. Schluss mit dem Gerede von Mord und Totschlag. Schluss mit dem Geschwätz über Kopfimplantate, Raumschiffe und andere Planeten. Dummes Geschwätz würde uns nirgendwo hinbringen. Der Sheriff würde mir nicht glauben, sollte ich ihn von Männern erzählen, die … woanders herkamen. Die Pension gehörte jetzt bestimmt mir, aber was, wenn Herr Anderson sie jemand anderem vermacht hatte? Wie würde ich dann überleben? Was, wenn ich obdachlos und allein zurückblieb? Ich weigerte mich auch nur daran zu denken, bei Madame Maryanne in der Stadt anzuheuern.

Ich zog die Schultern zurück und wägte meine Optionen ab. Also würde ich stattdessen heiraten. Letztes Jahr hatte ich zwei Anträge von zwei älteren Herren aus der Kirche abgelehnt. Beide waren weiterhin Junggesellen. Alles wäre besser, als eine von Maryannes Huren zu werden.

Gott. Ich musste unter Schock stehen. Meine Gedanken waren dermaßen irrational und pervers.

“Ich … ich muss den Sheriff holen,” sprach ich leise und stieß mich von ihm weg.

“Du kommst mit mir.”

Ich blickte in Maddox’ Augen auf und weigerte mich, die Sehnsucht, die durch mich hindurch strömte anzuerkennen. Maddox war gefährlich und voller abstruser Ideen, die keine vernünftige Frau glauben konnte. “Tut mir leid. Das geht nicht. Ich muss in die Stadt und den Sheriff holen.”

Er regte sich und wir standen uns gegenüber, aber er hielt weiter den Arm um mich gelegt. “Vergiss den verdammten Sheriff, Cassie. Du musst mit mir mitkommen. Du hast keine andere Wahl.”

“Doch, das habe ich,” konterte ich und verschränkte die Arme vor der Brust. “Und ich wähle in die Stadt zu gehen.”

Er schüttelte den Kopf. “Das ist zu gefährlich.”

“Warum? Warum? Ich habe es schon tausendmal gesagt. Wenn du verschwindest, dann wird er dir folgen. Das ist die logische Schlussfolgerung.”

Maddox schüttelte sanft meine Schultern, gerade stark genug, damit ich den Kopf heben und ihm in die Augen blicken musste. “Und auch ich habe es dir schon tausendmal gesagt,” sprach er. “Neron weiß, dass du mir etwas bedeutest. Falls er noch nicht mitbekommen hat, dass wir markierte Partner sind, dann wird es nicht mehr lange dauern.”

Ich versuchte mich aus seinem Griff zu befreien. “Ich bin überhaupt nichts. Lass mich los.”

“Das kann ich nicht. Will ich nicht. Du gehörst mir und ich gehöre dir. Ich bin der Einzige, der dich retten kann. Die einzige Person auf der ganzen Welt, im ganzen Universum, die für dich bestimmt ist.”

Ich ließ die Arme hängen; die Diskussion war einfach zwecklos. “Niemand ist für eine andere Person bestimmt. Und ich glaube auch nicht, dass du … woanders herkommst.”

Darauf hob er seine freie Hand und streckte sie mit der Handfläche nach oben vor mir aus. Dort, genau an derselben Stelle wie bei mir, erblickte ich ein Geburtsmal. Es sah genauso aus wie meines.

“Das ist ein Geburtsmal, Cassie. Du hast recht. Aber es hat einen Zweck, es verbindet uns miteinander. Es ist ein Mal, das beweist, dass du zu mir gehörst. Meine Markierung,” sprach er.

Eine Markierung. Die ganze Zeit hatte ich es für etwas anderes gehalten, etwas Gutartiges.

Vorsichtig nahm er mein Handgelenk und hob meine rechte Hand hoch, dann blickte er auf meine Handfläche. “Die Markierungen. Sie sitzen an derselben Stelle und pulsieren warm. Meine jedenfalls. Deine auch, Cassie?”

Ich schaute zwischen unseren Markierungen hin und her, betrachtete das blasse Zeichen, das ich seit ich noch ein Mädchen war, immer wieder studiert hatte, das erhabene Fleisch, das mir immer so harmlos vorgekommen war. Schon immer hatte ich mich über mein seltsames Geburtsmal, die hypnotischen Wirbel gewundert. Nie hätte ich gedacht, dass die Narbe etwas anderes sein könnte, bis vor fünf Tagen die Träume begonnen hatten. Die Träume. Und Maddox.

 

Als ich nicht auf seine Frage antwortete, legte er unsere Handflächen aufeinander und verschränkte die Finger in meine.

Ich musste nach Luft schnappen, denn mein Körper wurde von diesem kleinen Kontaktpunkt ausgehend mit Hitze überflutet. Meine Brüste wurden schwer und meine Mitte zog sich zusammen und wollte von ihm berührt werden. Beinahe sprang mir das Herz aus der Brust und ich konnte den Blick nicht mehr von seinen Lippen losreißen. Meine Hand umklammerte seine, sie wollte verzweifelt mehr Kontakt. Ich blickte auf und ich bemerkte den Puls seiner Halsschlagader, seine angespannten Kiefermuskeln, als er die Zähne zusammenbiss und mit der Beherrschung rang. Als ich schließlich in seine Augen blickte, raubten seine dunklen Pupillen und das überwältigende Verlangen dort mir den Atem.

Er glaubte jedes einzelne seiner Worte. Würde ich es wagen, ihm ebenfalls zu glauben? Wie konnte ich das nicht tun, wenn der Beweis unserer Verbindung meinen Körper wie ein flüssiger Blitz durchzuckte? “Ich verstehe das nicht,” flüsterte ich.

“Ich weiß. Deine Mutter hätte es dir erzählen sollen, als du alt genug warst. Du hättest von deiner Abstammung erfahren sollen, man hätte dir die Wahrheit über deine Markierung erzählen sollen, aber du warst verwaist und deine Eltern haben die Wahrheit mit ins Grab genommen. Ich werde dir noch alles darüber erzählen, aber jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt. Du musst mir vertrauen. Ich muss dich von hier fortschaffen. Wir müssen zu meinem Schiff gehen, in Sicherheit. Nirgendwo sonst auf diesem Planeten bist du vor Neron sicher, jedenfalls nicht, solange ich ihn nicht ausgeschaltet habe.”

“Du meinst, bis du ihn getötet hast.”

Maddox blickte zum Haus zurück und das Bild von Herr Andersons Leiche kam mir mit voller Wucht wieder in den Sinn. “Hat er Geringeres verdient?” wollte er wissen.

“Nein.” Wenn er für den Mord an Herrn Anderson verantwortlich war, dann verdiente er schlimmeres als den Tod. Ich war zwar nicht sicher, ob Maddox wirklich ein magisches Schiff besaß, das mich beschützen würde, aber bestimmt war ich mit ihm sicherer, als wenn ich alleine bleiben würde. Der Rest? Unsere Markierungen? Diese Partner-Geschichte? Damit würde ich mich später befassen. Ich blickte zum Haus rüber und die Angst lief mir wie ein kalter Finger die Wirbelsäule runter.

“Das Schiff ist sicher versteckt. Es ist zu weit, um dorthin zu laufen. Hast du ein Pferd?” wollte er wissen.

“Ja.”

“Dann bist du einverstanden? Du kommst mit mir mit?”

“Aber Herr Anderson.” Ich dachte an den Mann, der mich so gut wie möglich großgezogen hatte, der seine Frau und seinen Sohn überlebt hatte. Er war ein guter Mann gewesen und man hatte ihn abgeschlachtet. Ich würde ihn einfach in einer Blutlache auf dem Boden zurücklassen.

“Dein Verlust tut mir leid, Cassie. Er—und der Gast oben—hatten das nicht verdient. Aber du möchtest nicht als Nächste dran sein. Das werde ich nicht zulassen.”

Ich schaute ihn an, sah die Entschlossenheit, die tödliche Absicht in seinen Augen.

“Ja. Aber nur so lange bis Neron tot ist. Ich komme nicht als deine Partnerin … oder wie du mich genannt hast und ich erwarte von dir, dass du die Finger von mir lässt.”

Unter Einsatz extremster Willensstärke zog ich meine Hand aus seiner und brach unsere Verbindung. Das raue Gefühl seiner Handfläche, des Geburtsmals—nein, der Markierung—bewirkte zwar, dass ich ihn weiter berühren wollte, aber mein Kopf und mein Herz standen in Konflikt. Ich konnte nicht einfach meinem lüsternen Verlangen nach diesem Mann nachgeben, diesem Fremden. Ich konnte nicht wie meine Mutter damals meinen neuentdeckten niederen Trieben nachgeben. Das Verlangen war zwar da, aber so auch die Komplikationen. Ich wusste nichts über Maddox, vor allem nicht, woher er stammte. Er wusste viel zu viel über mich. Ich hatte ihm bereits intime Freiheiten zugestanden, wie sie sich nicht einmal Charles mit mir genommen hatte.

Maddox war möglicherweise labil und ein überaus zwielichtiger Mann hatte es auf ihn abgesehen. Und mich. Maddox musste diesen Neron schnappen, damit ich in Ruhe mein Leben weiterleben und in die Pension zurückkehren konnte. Herr Anderson war tot und die Pension war alles, was ich hatte und kannte. Mein Verlangen für Maddox würde sich schon wieder verflüchtigen, sobald er aus meinem Leben verschwunden war. In der Zwischenzeit musste ich einfach enthaltsam bleiben.

Allerdings hatte er mich nicht einfach angegrapscht und angeglotzt, so wie Herr Bernot und einige andere Männer. Er hatte mich zwar geküsst—und was für Küsse das waren! —, aber er hatte mich nicht bedrängt. Er war eifrig gewesen, ja, aber nicht aufdringlich. Ich konnte nicht einmal daran denken, wie begierig ich auf seine Avancen eingegangen war. Also zog ich meine Hand weg und kappte die Verbindung, denn zumindest in dieser Hinsicht waren mein Kopf und mein Körper anderer Meinung.

Er versuchte nicht mich zu stoppen, seine Schultern aber entspannten sich und ich fragte mich, ob er einfach erleichtert war, weil ich eingewilligt hatte ihn zu begleiten oder ob er jetzt bereute, dass er mich überhaupt gefragt hatte.