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Blick nach Osten: Eine regionale Betrachtung

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Sari: Big Ideas #14
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DIE HERAUSFORDERUNGEN: INNOVATION, DEMOGRAFISCHE ENTWICKLUNG UND KLIMAWANDEL

Unter den Herausforderungen für die Länder Mittel- und Osteuropas und ihre Regionen steht die Frage nach ihrer Wettbewerbsfähigkeit auf den Weltmärkten weit vorne. Wie Analysen zeigen[18], ist das Niveau ihrer technologischen Entwicklung generell relativ niedrig. Fortschritte wurden bislang hauptsächlich durch die Übernahme von Technologien aus dem Westen erzielt, während das heimische Potenzial zur Hervorbringung von Innovationen nach wie vor schwach ist und sich vor allem auf die größten Städte konzentriert. Regionen in Randlage leiden unter einem besonders geringen Innovationspotenzial, und die bisherigen Anstrengungen können nicht als zufriedenstellend angesehen werden.

Einige Herausforderungen betreffen aber speziell bestimmte Regionen in Mittel- und Osteuropa. Die wichtigste scheint die demografische Entwicklung zu sein. In allen mittel- und osteuropäischen Ländern schrumpft die Bevölkerung. Am stärksten sind die bereits erwähnten strukturschwächsten Regionen (die „Nachzügler“) betroffen.

Der Bevölkerungsrückgang ist vor allem auf zwei Faktoren zurückzuführen: Abwanderung und eine geringe Fertilitätsrate, wobei letztere stark von ersterer beeinflusst wird. Die Fertilitätsrate (die Anzahl der pro Frau geborenen Kinder) darf nicht kleiner als 2,1 sein, wenn die Bevölkerung – unter sonst gleichen Bedingungen – wachsen soll. Für die mittel- und osteuropäischen Länder insgesamt liegt die Fertilitätsrate bei 1,25. Dass dieser Wert so niedrig ist, hängt auch damit zusammen, dass das Erstgeburtsalter in den vergangenen dreißig Jahren kontinuierlich von 23 auf 28 Jahre gestiegen ist. In den Randregionen ist die Geburtenrate zwar etwas höher, doch wird sie von einer starken Abwanderung überlagert. Verglichen mit den städtischen Gebieten befinden sie sich in einer schlechteren demografischen Lage, da sie – anders als diese – keinen Zuzug jüngerer Menschen verzeichnen, was ihre Entwicklungschancen weiter verringert.


Abb. 6. Veränderung der Bevölkerungszahl in den NUTS-2-Regionen zwischen 1990 und 2017 (in Prozent des Werts von 1990)


Abb. 7. Gesamtfertilitätsrate, NUTS-2-Regionen, 2015


Quelle: Fihel A. und Okólski M., „Demographic change and challenge”, in: Gorzelak G. (Hrsg.), Social and Economic… ebd., S. 101-132.

Anlass zur Sorge gibt auch die Lage der Umwelt in den mittel- und osteuropäischen Ländern. Trotz erheblicher Fortschritte bei Energieerzeugung, Energieverbrauch und Umweltschutz ist die Luftqualität in vielen Regionen und Städten Mittel- und Osteuropas sehr schlecht (Abb. 8 und 9). Die Abhängigkeit von individuellen, mit minderwertiger Kohle betriebenen Heizsystemen ist in mehreren Ländern noch immer ein Problem (insbesondere in Polen, wo man dem Umstieg auf andere Energiequellen ablehnend gegenübersteht). Entsprechend schlecht ist die Luftqualität in der Heizperiode.


Abb. 8. Jährliche Benzo(a)pyren-Konzentration in der EU im Jahr 2018


Quelle: Air quality in Europe – 2019 report, Europäische Umweltagentur, Luxemburg 2019

Abb. 9. Luftverschmutzung in Europa, Anfang März 2018


Quelle: https://www.careourearth.com/air-pollution-in-europe-in-early-spring/


SOLARPARK IN KAUNAS, LITAUEN

Die Abhängigkeit von Kohle, dem klimaschädlichsten Brennstoff, ist in einigen Ländern Mittel- und Osteuropas noch immer sehr hoch: In Polen liegt sie bei knapp 80 Prozent, in Bulgarien und Tschechien bei ungefähr 40 bis 50 Prozent. Die baltischen Staaten Litauen und Lettland sind dagegen vollständig und Estland nahezu vollständig von Kohle unabhängig. Generell nimmt die Abhängigkeit von Kohle in den meisten mittel- und osteuropäischen Ländern ab.

Polen weigerte sich im Jahr 2020 als einziges Land, das 2019 von der Europäischen Union beschlossene Ziel der Klimaneutralität der EU bis 2050 zu unterstützen. Der Übergang zu einer grünen Wirtschaft, die hauptsächlich erneuerbare Energien nutzt, wird in den meisten Ländern Mittel- und Osteuropas viel Zeit, Mühe und Investitionen erfordern. Aber natürlich werden die Länder einiges tun, um saubere Energiequellen zu erschließen. Dabei hilft ihnen der technische Fortschritt bei der Energieerzeugung und beim Energieverbrauch (modernere Heizungen in Privathäusern; Umstieg auf Erdgas und erneuerbare Energien).

Im Januar 2020 verkündete die Europäische Kommission den sogenannten Just Transition Mechanism, der als Teil des Grünen Deals und des Investitionsplans für ein zukunftsfähiges Europa für einen gerechten Übergang sorgen soll. Nach den Kommissionsplänen sollen über diesen Mechanismus maßgeschneiderte finanzielle und praktische Hilfen (mindestens 100 Milliarden Euro) mobilisiert werden, um den am stärksten vom Kohleausstieg betroffenen Regionen bei den notwendigen Investitionen unter die Arme zu greifen.[19]

Der Übergang zu einem nachhaltigeren Wirtschaftsmodell ist möglich. Einige Regionen und Städte haben bereits erfolgreich einen Prozess der Erneuerung und Wiederbelebung durchlaufen, beispielsweise Kattowitz in Schlesien. Das Stadtzentrum der ehemaligen Industriestadt wurde in den letzten zehn Jahren völlig neu gestaltet. Heute beherbergt es neben dem Schlesischen Museum eine Konzerthalle für das nationale Symphonieorchester des polnischen Rundfunks sowie ein Kongresszentrum. Investitionen in die kulturelle Aufwertung und Stadtentwicklung haben nicht nur die lokale Wirtschaft beflügelt, sondern auch die Attraktivität der Stadt gesteigert. Kattowitz gilt heute als aufstrebende Metropole.[20] In der tschechischen Region Karlsbad wurde eine Kooperation zwischen dem Kurort und dem Industrietourismus auf den Weg gebracht. Die ungarische Initiative VisitFactories unterstützt die Entwicklung postindustrieller Städte, und mehrere Initiativen in Rumänien zeigen, wie Industriestandorte eine neue, positive Rolle bei der Förderung der materiellen Kultur übernehmen können.[21]


DIE KOHÄSIONSPOLITIK IN MITTEL- UND OSTEUROPA: AUFGABEN UND ERFOLGE

Seit es die moderne Regionalpolitik gibt, war sie überwiegend vom Prinzip der „Gerechtigkeit“ und selten von „Effizienz“-Zielen geleitet. Insbesondere die Regionalpolitik der Europäischen Union war lange Zeit vorrangig darauf ausgerichtet, das Niveau der regionalen Entwicklung anzugleichen und weniger darauf, das Wachstum eines bestimmten Mitgliedstaates oder der EU als Ganzes zu fördern. Erst in jüngerer Zeit ergänzen neue Ziele den „traditionellen“, auf Ausgleich gerichteten Ansatz. Beispiele sind etwa die Förderung der Wettbewerbsfähigkeit und die effiziente Nutzung eingesetzter Ressourcen.

Der Beitritt der mittel- und osteuropäischen Länder zur Europäischen Union (Estland, Lettland, Litauen, Tschechien, Slowakei, Polen, Ungarn und Slowenien im Jahr 2004; Rumänien und Bulgarien im Jahr 2007; Kroatien im Jahr 2013) hat ihre Regionalentwicklung und Regionalpolitik um eine neue Dimension erweitert. In finanzieller wie inhaltlicher Hinsicht wurden diese Politikbereiche fast vollständig der Kohäsionspolitik untergeordnet, zu deren Hauptnutznießern die neuen Mitgliedstaaten wurden. Obwohl die am wenigsten entwickelten Regionen dem Kohäsionsgedanken zufolge den größten Teil der Mittel erhalten sollten, richteten sich die Zuweisungen doch überwiegend nach den Bevölkerungsanteilen dieser Gebiete. Abweichungen gab es nur selten und in geringem Umfang, und sie begünstigten meist abgelegene, strukturschwache Regionen.[22] Das Ziel, mit Hilfe der Struktur- und Kohäsionsfonds das Gefälle zwischen den Regionen zu verringern, wurde folglich nicht immer erreicht, weil die Fähigkeit zur Inanspruchnahme der EU-Mittel in den weniger entwickelten Regionen geringer war als in den Ballungszentren. In der ersten Phase der Mitgliedschaft sah man es als die Hauptaufgabe der Verwaltungsbehörden an, für die Ausschöpfung dieser Mittel zu sorgen, später wurde jedoch die Ausgabenlogik wichtiger – d. h. die effiziente und zweckgerichtete Verwendung der Mittel.

 

Die Abhängigkeit der öffentlichen Investitionen von den Mitteln aus dem Kohäsionsfonds war hoch. Zeitweilig erreichte sie bis zu 90 Prozent der gesamten öffentlichen Investitionen (beispielsweise in Portugal und Griechenland). In mehreren neuen Mitgliedstaaten lag sie konstant auf einem Niveau zwischen 30 Prozent (Slowenien) und 60 Prozent (Kroatien).

Der Beitritt zur Europäischen Union hat den mittel- und osteuropäischen Ländern sichtbare Vorteile gebracht, für die ökonomischen ebenso wie für die institutionellen Strukturen.[23] Das Wachstum ihrer Wirtschaft nahm unbestritten Fahrt auf, und dies hat die Konvergenz mit den westeuropäischen Ländern gefördert. Aber dieser Effekt könnte auch in erster Linie auf die zusätzlich bereitgestellten Mittel zurückzuführen sein („Nachfrageeffekt“). Ob dies zu dauerhaften wirtschaftlichen Effekten führt, beruhend auf einer stetigen Steigerung der wirtschaftlichen Effizienz der Volkswirtschaften („Angebotseffekt“), muss sich erst noch zeigen. Die zivilisatorischen Effekte – vor allem die Verbesserungen der Infrastruktur, der Umweltqualität und anderer Aspekte der Lebensqualität – sind gleichwohl unverkennbar, und dies gilt für die meisten (wenn nicht gar alle) Städte und Dörfer in den neuen Mitgliedstaaten.