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Blick nach Osten: Eine regionale Betrachtung

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Sari: Big Ideas #14
Märgi loetuks
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Positiv hat sich die Mitgliedschaft in der Europäischen Union auch auf einige systembezogene Merkmale ausgewirkt, die die Regionalpolitik in Mittel- und Osteuropa prägen. Positiv sind eindeutig folgende Aspekte:

• Verstärkte Bedeutung eines strategischen Denkens auf allen territorialen Ebenen – national, regional und lokal – als notwendige Voraussetzung für die Umsetzung des Programmplanungsprinzips der Kohäsionspolitik

• Einführung der Evaluation als routinemäßiger Bestandteil der Programmplanung, Umsetzung und Wirkungsbewertung der von der EU kofinanzierten Projekte sowie kontinuierliche Fortschritte beim Aufbau einer „Evaluationskultur“, die auch auf andere, nicht unbedingt mit EU-Programmen in Zusammenhang stehende Bereiche öffentlicher Interventionen überspringt

• Breite Einführung transparenter Regeln für die öffentliche Auftragsvergabe und die Einhaltung von Wettbewerbsprinzipien, die die Korruption im öffentlichen Sektor verringert (aber nicht völlig beseitigt) haben

• Stärkung der Kompetenzen der territorialen Verwaltungen, was Dezentralisierungs-reformen in den neuen Mitgliedstaaten ermöglicht hat

• Information über die Grundsätze, Regeln und Anforderungen der Kohäsionspolitik, im Hinblick auf die Verfahren, aber auch auf die Ziele und Grenzen der Regionalpolitik


DIE „FREIHEITSSTATUE“ AM PARLAMENTSGEBÄUDE IN BRATISLAVA

Allerdings sind auch einige negative Effekte eingetreten:

• Nationale Präferenzen werden den Anforderungen der europäischen Institutionen untergeordnet, sowohl bei der Wahl der Prioritäten für eine Intervention als auch bei den finanziellen Mitteln, die die Staaten ergänzend zu den EU-Mitteln aufbringen müssen, um dem Prinzip der „Zusätzlichkeit“ zu genügen (d. h. EU-Gelder müssen immer durch öffentliche oder private Mittel ergänzt werden)

• Fixierung auf „Mittelabsorption“ und „Ordnungsmäßigkeit“ als Hauptkriterien, um die Qualität der Umsetzung der von der EU kofinanzierten Projekte zu bewerten. So wurden beim Kompetenzaufbau die meisten Fortschritte dort erzielt, wo es darum ging, formale verfahrenstechnische oder operationelle Vorschriften und Anforderungen der EU streng zu befolgen, vor allem bei der Finanzverwaltung und -kontrolle, mitunter zulasten des eigentlichen Zwecks der Verwendung der EU-Mittel.[24]

Studien haben gezeigt[25], dass die institutionellen Reformen noch nicht vollständig abgeschlossen sind und die mittel- und osteuropäischen Länder im Hinblick auf das Niveau der Regierungsführung noch immer hinter Westeuropa zurückbleiben. Die jüngsten Rezentralisierungsprozesse, vor allem in Ungarn und Polen, aber auch in Tschechien und der Slowakei, können eine effiziente Ausarbeitung und Umsetzung innovativer Regionalentwicklungsstrategien gefährden. Mit zentralisierten Institutionen wäre es schwierig (wenn nicht unmöglich), regionale und lokale Verwaltungsstrukturen als glaubwürdige, handlungsfähige Stellen (wieder-) aufzubauen; es wäre fraglich, ob sie auf die Bedürfnisse und Potenziale der Regionen zugeschnittene Strategien entwickeln und umsetzen könnten.


VANSU-BRÜCKE, RIGA. DIE HAUPTSTADT LETTLANDS VERFÜGT ÜBER EINE MODERNE VERKEHRSINFRASTRUKTUR UND ERZEUGT MEHR ALS 50 % DES BIP DES LANDES

REGIONALE ENTWICKLUNG: WIE GEHT ES WEITER?

Die Zukunft der Regionalentwicklungs- und Regionalpolitik in den Ländern Mittel- und Osteuropas ist noch ungewiss. Die Finanzierung durch die Kohäsionspolitik der EU hat in den meisten mittel- und osteuropäischen Ländern ihren Höhepunkt überschritten. Die Europäische Union scheint nun entschlossen, ihren Haushalt verstärkt auf neue Themen wie Innovationsentwicklung, Klimawandel, Migration und eine stärkere Integration in der Eurozone auszurichten. In den Hintergrund treten Ausgabenziele, die den neuen Mitgliedstaaten stets am wichtigsten waren (Unterstützung strukturschwacher Regionen, Aufbau einer Basisinfrastruktur und Verbesserung der Umwelt). Der Grund sind die Reformen der Kohäsionspolitik: Diese haben die nationalen Regionalpolitiken der neuen Mitgliedstaaten dominiert und die regionalen und lokalen Entwicklungsprozesse hochgradig geprägt.

Wie den jüngsten Diskussionen zu entnehmen ist, könnte die traditionelle Unterstützung der weniger entwickelten Regionen gekürzt werden. Stattdessen sollen andere Bereiche im Kohäsionsbudget deutlich aufgestockt werden: Innovation, Forschung und Entwicklung, kleine und mittlere Unternehmen, Wettbewerbsfähigkeit, Klimaschutz, nachhaltige Energie, soziale Teilhabe und Armutsbekämpfung. Auch die Kürzungen im Bereich der GAP dürften die weniger entwickelten Regionen stark treffen, weil die Landwirtschaft eine relativ wichtige Rolle spielt. Davon könnten jene Ballungszentren in Mittel- und Osteuropa profitieren, die am besten auf die Entwicklung wissensbasierter Dienstleistungen vorbereitet sind. Der jüngste Trend zur regionalen Angleichung würde dadurch wieder umgekehrt. Diese veränderten EU-Prioritäten könnten auch für jene mittel- und osteuropäischen Länder schwierig sein, die es noch nicht geschafft haben, eine solide F&E-Basis aufzubauen und ihre Innovationskraft zu stärken, denn sie würden von den Mitteln für diese Ziele entsprechend wenig profitieren.


JULI 2020: GESCHÄFTSZENTRUM VON VILNIUS IN DER PANDEMIE. DIE HAUPTSTADT LITAUENS IST TOP-STANDORT FÜR FINANZTECHNOLOGIEN

Viele der am wenigsten entwickelten Regionen Mittel- und Osteuropas sind bei der Finanzierung ihrer Infrastruktur stark von Transferzahlungen der Europäischen Union abhängig (in einigen strukturschwachen Regionen machen diese Zahlungen mehr als 10 Prozent ihres jährlichen BIP aus). Die bevorstehende Kürzung dieser Gelder könnte sie also besonders hart treffen, und sie erschwert es ihnen auch, die demografische Krise zu bewältigen, die in einigen dieser Regionen droht. Wenn diese Regionen ihr wirtschaftliches Wachstum fortsetzen sollen, müssen die nationalen Regierungen neu darüber nachdenken, wie sie die EU-Mittel auf die Regionen verteilen.

Die obigen Ausführungen stammen aus der Zeit vor der Corona-Epidemie. Wie sich der Zustand der Weltwirtschaft und die Lage der EU sowie ihrer Mitgliedstaaten entwickeln, lässt sich noch nicht absehen. Alle Szenarien sind denkbar. Ganz gleich jedoch, welches Szenario eintritt, die EU-Politik muss von Grund auf umgestaltet und an die neuen, vielleicht dramatischen Herausforderungen und die dringenden Bedürfnisse der Gesellschaften und Volkswirtschaften der Union angepasst werden. Jedenfalls steht fest: Die Bedürfnisse und Interessen der mittel- und osteuropäischen Länder werden nicht mehr in der gleichen Weise priorisiert wie in der ersten Phase ihrer Mitgliedschaft. Das könnte die Bedenken nur noch weiter untermauern, die hinsichtlich der künftigen Stellung dieser Länder in der EU geäußert wurden.