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Blick nach Osten: Eine regionale Betrachtung

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Sari: Big Ideas #14
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DAS ENDE DER GESCHICHTE?

In den Jahren 2004 bis 2007, nach dem Beitritt der mittel- und osteuropäischen Länder zur EU, war man vielerorts vom „Ende der Geschichte“ überzeugt. Viele Menschen in diesen Ländern glaubten, der Weg zu einer reifen Demokratie und einer effizienten Marktwirtschaft sei geradlinig und könne von den neuen Mitgliedstaaten ohne größere Umwälzungen beschritten werden. Dieser Glaube geriet erstmals während der Finanzkrise 2008–2010 ins Wanken, als die Wirtschaftsleistung in einigen mittel- und osteuropäischen Ländern um bis zu 20 Prozent schrumpfte. Dann folgte die Migrationskrise von 2015 und 2016, die von Populisten in der Politik genutzt wurde, um die Prinzipien der europäischen Solidarität infrage zu stellen. In einigen Ländern (vor allem Ungarn und Polen) befeuerte dies bereits vorhandene Tendenzen zur Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit und der Grundlagen einer deliberativen, liberalen Demokratie.

Für diese Entwicklungen gibt es verschiedene Erklärungen. Einige Erklärungsversuche verweisen auf globale Trends. Es wird vermutet, dass die Globalisierung bei vielen Menschen eine Verunsicherung ausgelöst hat, in der ihnen die einfachen Erklärungen der Populisten plausibler scheinen als differenzierte Analysen. Demnach folgen die mittel- und osteuropäischen Länder lediglich einem globalen Trend, und wegen der Schwäche ihrer relativ jungen demokratischen Institutionen haben sie dem Druck des Populismus nichts entgegenzusetzen. Anderen Erklärungen[26] zufolge sind die mittel- und osteuropäischen Gesellschaften der Nachahmung des Westens überdrüssig geworden, oder sie zweifeln zunehmend daran, ob westliche Werte überhaupt zu ihren Gesellschaften passen. Sie mögen diese Werte vielleicht nicht gleich in Bausch und Bogen verdammen. Aber sie glauben mittlerweile vielleicht, dass sie westliche Standards ohnehin nie erfüllen, und zweifeln sie deshalb wie zur Selbstverteidigung an. Frustration und das Gefühl, ausgenutzt und entwertet zu werden, könnten die Grundlage dafür schaffen, dass autoritäre Regierungen akzeptiert und der Bruch demokratischer Regeln hingenommen werden. Ressentiments könnten auch entstanden sein, weil politische Eliten den Begriff der „Nation“ und des „Nationalstaats“ zugunsten von Regionalismus und Europäertum teilweise aufgaben.[27] Einige autoritäre Regierungen in Mittel- und Osteuropa stellen nun in der Coronakrise die Rolle der EU in Frage und fordern offen eine Stärkung der Nationalstaaten.


GELLÉRT-BAD, BUDAPEST, UNGARN

Hinter der Unterstützung populistischer Haltungen kann letztlich auch das Gefühl stehen, abgelehnt zu werden oder vergessen worden zu sein — ein Gefühl, das besonders unter den weniger gebildeten Schichten der Erwerbsbevölkerung verbreitet ist, die durch die Verlagerung von Fabriken in Billiglohnländer oder durch Stellenstreichungen aufgrund von Automatisierung und Robotisierung überflüssig geworden sind.[28]

Bis zu einem gewissen Grad wird diese letzte Erklärung – zumindest teilweise – durch die Regionalforschung belegt. Einigen Beobachtern zufolge kann der Aufstieg des Populismus als „die Rache der Orte, die keine Rolle spielen“[29] oder als Reaktion auf „regionales Ressentiment“[30] angesehen werden. So ist der Rechtspopulismus in den Regionen am stärksten, die einen drastischen wirtschaftlichen Wandel erfahren haben oder an denen positive Transformationsprozesse vorbeigingen. In Westeuropa finden sich solche Einstellungen am häufigsten in Ballungsräumen. Dagegen scheinen in Mittel- und Osteuropa vor allem die Großstädte von der Transformation profitiert zu haben, und diese florierenden Städte widersetzen sich Bestrebungen, die Demokratie auszuhöhlen und autokratische Regierungen zu etablieren. Aber es gibt noch eine andere Art von „Orten, die keine Rolle spielen“ und die daher ein fruchtbarer Nährboden für solche Tendenzen sind: die am wenigsten entwickelten, peripheren Regionen (die „Nachzügler“).

Kann die Regionalpolitik diesen Herausforderungen begegnen? Der Trend zur territorialen Konvergenz, der in jüngster Zeit in den meisten mittel- und osteuropäischen Ländern zu beobachten war, deutet vielleicht darauf hin, dass „die vergessenen Orte“ gehofft hatten, ihre Chance zu bekommen. Die zu erwartenden Änderungen in der EU-Politik (auch beeinflusst durch die Coronakrise) könnten jedoch in die entgegengesetzte Richtung gehen. Und wenn Zahlungen aus dem EU-Haushalt künftig an die Einhaltung rechtsstaatlicher und freiheitlich-demokratischer Standards gekoppelt werden (wenngleich dieses Thema angesichts der Epidemie gerade in den Hintergrund getreten ist), könnten einige mittel- und osteuropäische Länder ebenfalls weniger Geld bekommen. Dann wären sie noch weniger in der Lage, ihre am wenigsten entwickelten, peripheren Regionen voranzubringen.

BIOGRAPHIE

Grzegorz Gorzelak ist Professor für Wirtschaftswissenschaften und auf regionale und lokale Entwicklungskonzepte und Strategieentwicklung spezialisiert. Von 1996 bis 2016 leitete er das Centre for European Regional and Local Studies (EUROREG) an der Universität Warschau. Er hat mehrere nationale und internationale Forschungsprojekte koordiniert, zuletzt das ESPON-Projekt TERCO über territoriale Zusammenarbeit und das FP7-Projekt „Growth – Innovation – Competitiveness: Fostering Cohesion in Central and Eastern Europe“ (GRINCOH).

G. Gorzelak hat mit der Weltbank, der OECD, der GD Regio der Europäischen Kommission, verschiedenen polnischen und ukrainischen Regierungsstellen und mit regionalen und lokalen Behörden zusammengearbeitet.

Er hat (als Autor und Herausgeber) mehr als 60 Bücher (einige in englischer Sprache) und über 260 Artikel veröffentlicht.

G. Gorzelak ist Chefredakteur der vierteljährlich erscheinenden wissenschaftlichen Zeitschrift „Studia Regionalne i Lokalne“ und ehemaliger Vorsitzender der polnischen Sektion der Regional Studies Association.


Fußnoten

[1] Für ein genaueres Bild der Makroprozesse während der Transformation siehe Orłowski W. M., „Trajectories of the economic transition in Central and Eastern Europe“, in: Gorzelak G. (Hrsg.), Social and Economic Development in Central and Eastern Europe: Stability and Change after 1990, London und New York, Routledge, 2020, S. 11-34.

[2] Konvergenz entsteht, wenn Unterschiede zwischen Ländern oder Regionen abnehmen. Divergenz bezeichnet den gegenteiligen Prozess. Siehe https://en.wikipedia.org/wiki/Convergence_(economics)

[3] Braudel F., A History of Civilizations, London, Penguin Books, 1993.

[4] Näheres zur historischen Teilung der mittel- und osteuropäischen Länder finden Sie in Gorzelak G. und Jałowiecki B., „European Boundaries: Unity or Division of the Continent?“, Regional Studies Band 36.4, 2002, S. 409-419.

[5] Wallerstein I. M., The Modern World-System I: Capitalist Agriculture and the Origins of the European World-Economy in the Sixteenth Century, New York, Academic Press, 1974.

[6] https://www.lboro.ac.uk/gawc/rb/rb248.html

[7] Szelenyi I., “Urban Development and Regional Management in Eastern Europe”, Theory and Society Band 10, Nr. 2 (März 1981), S. 169-205.

[8] Swianiewicz P., Local Government: Progress in Decentralisation, in: Gorzelak G. (ed.), Social and Economic… ebd., S. 54-74.

[9] Gorzelak G., Jałowiecki B., Kukliński A. und Zienkowski L., Eastern and Central Europe 2000 - Final Report. Luxemburg, Europäische Kommission, 1994.

[10] Gorzelak G., „Regional Policies in East-Central Europe“, in Fischer M. und Nijkamp P. (Hrsg.), Handbook of Regional Science, 2. Auflage, Springer-Verlag Berlin Heidelberg, 2020.

[11] Statistische Erhebungen zur Differenzierung hängen stark von der Abgrenzung der territorialen Einheiten und den Messgrößen der Differenzierung ab. Allgemein gilt: Je mehr Einheiten, desto größer die statistischen Unterschiede. Auch die Existenz von Stadtregionen sorgt für höhere Werte in der Differenzierungsstatistik.

[12] Die NUTS-Klassifikation (Systematik der Gebietseinheiten für die Statistik) ist ein hierarchisches System zur Untergliederung der Wirtschaftsräume der EU. Quelle: Eurostat: https://ec.europa.eu/eurostat/web/nuts/background

 

[13] https://www.lboro.ac.uk/gawc/world2018t.html

[14] Das Akronym NUTS steht für Nomenclature of Territorial Units for Statistics (Systematik der Gebietseinheiten für die Statistik). Für die NUTS-Klassifikation siehe Eurostat https://ec.europa.eu/eurostat/web/nuts/background

[15] Applica, Ismeri Europa, Ex post evaluation of Cohesion Policy programmes 2007-2013, focusing on the European Regional Development Fund (ERDF) and the Cohesion Fund (CF). Synthesebericht, Brüssel, GD Regio, 2016.

[16] Williamson J.G., “Regional inequalities and the process of national development”, Economic Development and Cultural Change, 13: 3-45, 1965.

[17] Capello R., Regional economics, London und New York, Routledge, 2007.

[18] Radosevic R., Yoruk D.E. und Yoruk E., “Technology upgrading and growth in Central and Eastern Europe”, in: G. Gorzelak (ed.), Social and Economic… ebd., S. 178-204.

[19] https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/fs_20_39

[20] Quelle: EIB, https://www.eib.org/de/press/all/2011-094-poland-eib-supports-redevelopment-of-katowice-city-centre.htm

[21] https://doi.org/10.1016/j.sbspro.2014.01.1320