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2 Spiele in der Neuzeit. Eine kurze Mediengeschichte

Spiele sind Medien, das scheint unbestritten. Dennoch wird es selten unternommen, analoge oder digitale Spiele im Kontext der Geschichte und Theorie der Medien zu situieren. Gerade die deutsche Sprache verrät dabei deutlich die gemeinsame Herkunft und fortdauernde ästhetische Nähe des Spiels zu den wichtigsten anderen Varianten audiovisueller Darstellung, die in der Neuzeit aufkamen: Vom Bühnenspiel mit seinen Untergattungen Lustspiel, Trauerspiel, Singspiel oder Festspiel führt eine klare Linie zum Lichtspiel, das um 1900 mit den beiden Varianten Spiel- und Dokumentarfilm entstand, und von dort weiter über das Fernsehspiel zum Video- und Computerspiel.

SPIELE

Moritz Lazarus bemerkte bereits 1883, »dass die sprachgeschichtliche Herkunft des deutschen Wortes ›Spiel‹ auf eine leichte, ziellos schwebende, in sich zurücklaufende Bewegung verweise [...,] also auf eine Bewegung, die nicht in einem Aktionstunnel gefangen, die nicht auf einen Zweck hin fortschreitend gerichtet ist, sondern die sich auf Hin und Her, ein Vor und Zurück zwischen polaren Positionen bezieht.«1 Eine bis heute im Deutschen verbreitete Bedeutung von ›Spiel‹, die solch zielloses Hin und Her zum Kern hat, richtet sich auf eine meist unbeabsichtigte Bewegungsfreiheit innerhalb ineinandergreifender Maschinenteile: ›Die Lenkung hat zu viel Spiel.‹ Nicht anders definieren Katie Salen und Eric Zimmerman, wie bereits zitiert, menschliches Spielen: »Play is free movement within a more rigid structure.«2 Dass also die wichtigsten audiovisuellen Medien der Neuzeit im Deutschen denselben ›Nachnamen‹ tragen, der seine Wurzel in solcher Bewegung hat, zeigt an, was sie bei aller Verschiedenheit verbindet: das Prinzip des ästhetischen Spiels. Nach Friedrich Schlegel besitzt es stets auch narrativ-repräsentierende Züge und besteht darin, mit künstlerischen Mitteln den »Schein von Handlungen« zu erzeugen.3

Die digitalen Spiele der Gegenwart stehen so deutlich in der Kontinuität neuzeitlicher Audiovisualität. Insbesondere setzt sich mit ihnen der in der Renaissance begonnene Prozess steter Rationalisierung – Beschleunigung, Vereinfachung, Verbilligung – einer auf perspektivischem Realismus beziehungsweise später auf Fotorealismus und Hyperrealismus zielenden Bild- und Tonproduktion fort: von Albertis perspektivischem Fensterblick – »una finestra aperta«4 –, der mühsam manuell konstruiert werden musste, zur echtzeitigen Bildkonstruktion mittels Real-Time 3D Engines. Wie einst die industriellen Medien Film und Fernsehen keinen radikalen Bruch mit dem vorindustriellen Medium Theater bedeuteten, sondern auf vielfältige Weise dessen ästhetische Interessen auf höherem technologischen Niveau fortsetzten – etwa die optische Funktionalisierung des Blicks oder das Jahrhunderte lange Streben nach einem audiovisuellen Gesamtkunstwerk –, so sind nun die digitalen Spielformen der Gegenwart den älteren Medien Theater, Film und Fernsehen mehr als von Ferne verwandt.

Historisch freilich geht das Spielen allen audiovisuellen Repräsentationen voraus. Denn es ist wie Chris Crawford in seiner »Phylogeny of Play« argumentiert, älter als die Menschheit:5 Spielerisch simulieren bereits viele Tierarten realweltliche Bewegungsabläufe, etwa die Jagd, um sie in einiger Sicherheit einzuüben. Auf solche Weise zu spielen und darüber hinaus kompliziertere regelbestimmte Spiele zu entwickeln, erscheint auch als ein Grundbedürfnis des Homo sapiens. Zu den frühesten Zeugnissen menschlicher Kultur gehören Brettspiele wie das SENET (Ägypten, 3100 v. Chr.) oder das KÖNIGLICHE SPIEL VON UR (Sumer, 2600 v. Chr.). Im fünften Jahrhundert vor Christus beschrieb der griechische Historiker Herodot gar, wie es angeblich 700 Jahre zuvor die kleinasiatischen Lyder, denen auch die Erfindung des Gelds zugeschrieben wird, durch Brett-, Würfel- und andere Spiele vermochten, eine langwährende Hungersnot erst über Jahre hinweg zu ertragen und dann mit einem letzten Spiel auch einer Lösung zuzuführen, die dem Überleben des Gemeinwesens diente.6 Die Game-Design-Theoretikerin Jane McGonigal vermutet in dieser historischen Funktion analoger Spiele auch die Zukunft digitaler:

»When Herodotus looked back, he saw games that were large-scale systems, designed to organize masses of people and make an entire civilization more resilient. I look forward to a future in which massively multiplayer games are once again designed in order to reorganize society in better ways, and to get seemingly miraculous things done.«7

Der positiven Nutzung wie Bewertung von Spielen korrelieren freilich ebenso durchgehend fundamentale Kritik und wiederkehrende Verbotsanstrengungen. Frans Mäyrä spricht von der »continuous history of bans or restrictions on games playing«.8 In der westlichen und christlich geprägten Neuzeit reichen sie von den vielfachen Anstrengungen britischer Könige, zwischen dem 14. und 16. Jahrhun­dert Vorformen des modernen Fußballs zu verbieten,9 über den Bann von Flipper-Automaten, der in New York zwischen den 1930er und 1970er Jahren galt,10 bis zu den in der Gegenwart immer wieder aufflackernden Verbotsrufen für so genannte »Killerspiele«. In historischer Sicht, schreibt Jesper Juul, sei »the current preoccupation with the assumed dangers of video games […] a clear continuation of a long history of regulation of games as such …«11 Der Kulturkampf ums Spielen und einzelne Spielformen bildet so den sozialen Rahmen für die theoretisch orientierte Mediengeschichte des Spiels in der Neuzeit, die dieses Kapitel skizzieren will.

Ihr kategoriales Gerüst geht auf Harry Pross' Studie zur Medienforschung zurück.12 In ihr unterscheidet Pross verschiedene Medialitäten nach »der Apparatur des Mitteilungssystems«,13 d.h. nach dem Maß des jeweiligen Technikeinsatzes. Da jedoch stetem Wandel unterliegt, welche Technologien und Techniken kulturell zur Verfügung stehen, besitzt Pross' Ansatz den Vorteil, zugleich systematisch und historisch zu operieren. Damit erlaubt seine Theorie der Medialitäten die Geschichte der Medien als einen Prozess progressiver Akkumulation und Ausdifferenzierung zu verstehen.

PRIMÄRE, SEKUNDÄRE UND TERTIÄRE MEDIALITÄT

Primäre Medien erfordern noch keinerlei Technik. Bei ihnen »kommt es darauf an, spezielle Kenntnisse in einer Person zu verschmelzen.«14 Pross nennt für die Kommunikation z.B. Gestik, Mimik sowie vorsprachliche und sprachliche Geräusche. Zu den Formen, die Ästhetisches vermitteln, gehören u.a. Rituale und Zeremonien. »Gemeinsam ist ihnen allen, daß kein Gerät zwischen den Sender und den Empfänger geschaltet ist und die Sinne der Menschen zur Produktion, zum Transport und zum Konsum der Botschaft ausreichen.«15 Von primärer Me­dialität sind nach Pross' Kriterien – auch wenn er sie nicht nennt – vortechnische Varianten des Theaters wie etwa Improvisations- und Straßentheater sowie Spiele, die ohne Technikeinsatz auskommen: etwa physische Bewegungsspiele wie FANGEN oder VERSTECKEN oder Geschicklichkeitsspiele wie SCHERE, STEIN, PAPIER.

Für sekundäre Medien gilt dann: »Der Kommunikator braucht ein Gerät.«16 Gemeint ist: um die jeweiligen Medien zu verfertigen – Bilder wie Zeichnungen, Gemälde, Karikaturen oder Fotografien, auch Münzen und Geldscheine, ebenso Schriftstücke wie Briefe, Handzettel, Flugblätter, Bücher, Zeitungen und Zeitschriften. Sekundäre Medien existierten selbstverständlich Jahrtausende vor der Renaissance. In der Neuzeit erhielten sie jedoch einen dreifachen Entwicklungsschub:

 zum einen im Bereich der Schrift durch den Buchdruck, der erstmals eine standardisierte Vervielfältigung in zudem höheren Stückzahlen ermöglichte;

 zum zweiten im Bereich des Bildes durch die mathematisch basierte Perspektivtechnik, die zu einem zuvor unbekannten visuellen Realismus führte;

 zum dritten im Bereich audiovisueller Darstellung durch die Akkumulation einer Vielzahl mechanischer Techniken in eigens errichteten Theaterbauten – u.a. perspektivisch gezeichnete und perspektivisch arrangierte Kulissen, Hebebühnen, Vorhänge, Zurichtung des Blicks durch die Sistierung des Publikums –, aus denen in der Summe ein neuer audiovisueller Realismus resultierte.

Als Gegenstück zum Kirchenschiff, dem zentralen fantasmatischen und öffentlichen Sakralraum der agrarischen Epoche, bildeten das Theater und seine Guckkastenbühne am Ende der von allmählicher Säkularisierung geprägten mechanischen Epoche den zentralen fantasmatischen und öffentlichen Profanraum individueller Sammlung, Erziehung und Selbstverständigung. Der neue Horizont, den die realistische audiovisuelle Nachahmung des Lebens eröffnete, ließ die Bühne zum Leitmedium werden:

 

»In der glänzenden Reihe von Shakespeare über Calderon bis Racine beherrschte das Drama die Dichtkunst des Zeitalters. Ein Dichter nach dem anderen verglich die Welt mit einer Schaubühne, auf der ein jeder seine Rolle spielt.«17

Zur gleichen Zeit durchlebten Spiele sekundärer Medialität – insbesondere Brett- und Kartenspiele wie SCHACH oder BLACKJACK – durchlebten einen kontinuierlichen Prozess der Standardisierung. Er gelang in Parallele zu der Fertigung der Spiele durch Druck und andere mechanische Verfahren und der Durchsetzung ihrer lokalen, regionalen, nationalen und schließlich internationalen Distribution. Vor allem in der industriellen Epoche kam es dann auch zur Erfindung einer Vielzahl neuer Spiele sekundärer Medialität – von dem sehr preußischen KRIEGSSPIEL (1824) über das sehr amerikanische MONOPOLY (seit 1933) bis zu DUNGEONS AND DRAGONS (1974). Die meisten dieser Neuschöpfungen waren zwar deutlich als Ausdruck spezifischer nationaler (Sub-) Kulturen zu erkennen, fanden aber massenhafte und interkulturelle Verbreitung.

Parallel dazu entstanden mittels industrieller Technologie gänzlich neue tertiäre Medien, »bei deren Gebrauch sowohl Sender wie Empfänger Geräte benötigen«.18 Als erstes tertiäres Medium nennt Harry Pross den elektrischen Telegrafen. Ihm folgten u.a. Telefon, Grammophon, Zeichentrick- und Spielfilm, Tonband und Video. Insbesondere die industriellen Broadcast-Medien Radio und Fernsehen veränderten nachhaltig, wie und was die Zeitgenossen spielten. Durch Live-Übertragung verwandelten sie Sport- und Wettbewerbsspiele erster und zweiter Medialität wie FUSSBALL oder WETTLAUFEN, BLACK JACK oder SCHACH aus lo­kalen Ereignissen, in denen Teilnehmer und Publikum noch in einem direkten Verhältnis standen, in nationale und internationale Ereignisse, die von Millionen Menschen passiv erlebt wurden. Darüber hinaus kreierten die Rundfunkmedien eine Vielzahl neuer Zuschauerspiele, die eigens für ihre Radio- und Fernsehübertragung inszeniert wurden.

Einige dieser Radio- und TV-Shows versuchten nicht nur die Studiogäste zu involvieren, sondern auch einzelnen Repräsentanten des ›abwesenden‹ und passiv gestellten Radio- und Fernsehpublikums medial vermittelte Partizipation zu ermöglichen. Ein besonders interessantes Beispiel gab etwa in der Bundesrepublik die Spielshow DER GOLDENE SCHUSS (1964-1970). In ihr konnten Anrufer durch Sprachkommandos eine Apparatur, die eine Kamera und eine Armbrust verband, fernsteuern und schließlich zum Abschuss bringen. Die innovative Kombination von visueller Perspektive und Interaktivität lässt sich heute als eigentümliche Antizipation von Erfahrungen erkennen, die ein paar Jahrzehnte später Online-First-Person-Shooter vermitteln sollten. Mit Übertragungen von Sportveranstaltungen oder Quiz- und Spiel­shows, deren mediale Zurichtung sie von Spielen zweiter in Spiele dritter Medialität transformierte, gelang es den Broadcast-Medien über Jahrzehnte hinweg, die größten Gemeinschaftserlebnisse industrieller Kultur zu stiften.

Die mediale Differenz von Spielen lässt sich somit im Hinblick auf ihre Repräsentationsweise bestimmen:

 Spiele primärer Medialität wie FANGEN basieren auf einer realen Simulation des Realen;

 Spiele sekundärer Medialität wie SCHACH basieren auf einer symbolischen Repräsentation des Realen;

 Spiele tertiärer Medialität wie Radio- und Fernseh-Übertragungen von Sport­veranstaltungen oder Quizshows basieren auf der medialen Repräsentation und Zurichtung von Spielen primärer und sekundärer Medialität, d.h. sie erlauben eine tele-auditive oder tele-audiovisuelle Teilhabe – überwiegend passiv und von Ferne – an montierten Simulationen des Realen sowie montierten symbolischen Repräsentationen des Realen.

Radikal differiert dabei die Rolle der Spieler beziehungsweise des Publikums: Spiele primärer und sekundärer Medialität erlauben Spielern wie den physisch anwesenden Zuschauern teils selbstbestimmte Interaktion, teils fremdbestimmte Partizipation, wobei das Verhältnis von Spielenden wie Zuschauenden bis ins frühe 20. Jahrhundert relativ ausgewogen blieb. Spiele tertiärer Medialität hingegen führen nicht nur dazu, dass ein Publikum aus Millionen wenigen Spielern zuschaut. Sie unterwerfen auch die winzige Minderheit der Mitspielenden diversen medialen Regimes – von der Selektion des zu übertragenden Sportspiels wie der Akteure in Spielshows nach massenmedialen Kriterien bis hin zur Live-Re­gie mehrerer Kameras und ihrer Perspektiven, durch die jeder Spielfluss audiovisuell fragmentiert und zugerichtet wird.

BEISPIEL FUSSBALL:

DER WEG EINES SPIELS DURCH DIE MEDIALITÄTEN

Der historische Prozess, in dem einzelne Spielformen mediale Formen akkumulieren, lässt sich am Beispiel des Fußballs demonstrieren, dem »most universal cultural phenomenon in the world«19 und zugleich einem zentralen »sector of the global entertainment industry«.20 Schätzungen des internationalen Fußballverbands FIFA besagen, dass es zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine Milliarde aktiver Fußballer sowie 50 Millionen Schiedsrichter gebe und die Gesamtlänge der weißen Linien auf sämtlichen Fußballfeldern dieser Welt 25 Millionen Kilometer umfasse – »enough to circle the earth over a thousand times«.21 Die Anfänge des Spiels waren unspektakulärer.

Vortechnische und auch größtenteils ungeregelte Varianten lassen sich noch heute beobachten, wenn Steine oder runde Früchte wie Äpfel, Orangen, Melonen oder Kürbisse getreten oder zwischen Spielern hin und her gespielt werden. Von der primären zur sekundären Medialität schritt der Sport vor rund 4000 Jahren mit der handwerklichen Fertigung erster, zunächst noch massiver Bälle aus verschiedenen Materialien, etwa Leder und Gummi, und der Ausbildung von Regelwerken fort.22 Dabei blieben die unterschiedlichen Ballspiele von Asien bis Mittelamerika eingebunden in religiöse Riten und auch kriegerische Konflikte:

»Sometimes a substitute for war, the game could also provide its denouement as defeated opponents first played the game before being sacrificed – their heads cut off or their hearts torn out.«23

Aus Vorzeit und Antike in die europäische Neuzeit kam die Vorliebe, Bälle nicht mit der Hand, sondern mit dem Fuß zu spielen, über die keltischen Kulturen, da sie im christlichen und eher spielefeindlichen Mittelalter einige Unabhängigkeit bewahrten:

»All appear to have played large-scale and often riotous ball games in large open spaces with innumerable participants divided into two teams trying to get the ball to a particular place with few formalities or restrictions.24 […] Often the games were played between two parishes or villages, the ball carried across the open fields between them.25 […] It was certainly violent enough for deaths and injuries to be recorded.«26

Der Prozess, in dem der Fußball schließlich seine moderne Gestalt fand, nahm seinen Ausgang in den britischen Public Schools des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, insbesondere Rugby und Eton. Sportliche Betätigungen und vor allem Fußball gewannen sowohl in ihrem Curriculum wie auch für ihr Selbstverständnis eine wesentliche Rolle. Erst innerschulisch, später zwischen den Schulen kam es, um Turniere zu ermöglichen, zu einer sukzessiven Kodifizierung und Standardisierung von Regeln. In einem zweiten Schritt drang dann im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts das Fußballspiel aus der Oberschicht- und Obere-Mittelklasse-Welt dieser Schulen in breitere Bevölkerungsgruppen: »Almost from the moment of its codification football was colonized by the British working classes as both players and spectators.«27

Diese Popularisierung des Fußballs folgte im Mutterland der Industrialisierung und in deren Zentren weitgehend dem Vorbild bereits etablierter, in der aristokratischen und bürgerlichen Kultur verwurzelter Sportarten wie Pferderennen, Rudern, Boxen oder Kricket: Einigung verschiedener regionaler Clubs auf gemeinsame Regeln und Prozeduren, Bildung von Ligen und Ausrichtung regionaler und nationaler Meisterschaften. Die dafür wichtige Standardisierung des Balls im Hinblick auf Größe und Beschaffenheit gelang 1872.28 Die Rolle des Feldschiedsrichters wurde 1881 eingeführt, wenn er seine heutige Funktion auch erst 1898 gewann.29 1882 erhielt das Tor eine Latte, 1892 ein Netz.30 Um die Mitte der 1880er Jahre setzte dann – trotz bestehender Verbote – die Verdrängung von Amateuren durch bezahlte Berufsspieler ein. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs bestritten in England um die 5000 Profis ihren Lebensunterhalt mit Fußball.31

Im Kontext dieser Professionalisierung des neuen Volkssports industrieller Kultur vollzog sich auch seine Medialisierung. Ein erster Schritt bestand – wie schon in der neuzeitlichen Medialisierung des Schauspiels – in der Errichtung spezialisierter Gebäude, die es immer mehr Menschen erlaubten, dem Spiel aus zumindest erträglichen Perspektiven zu folgen. Binnen weniger Jahrzehnte wuchsen diese neuartigen Fußballstadien in Großbritannien auf Kapazitäten, die das römische Kolosseum als bis dahin größten Vergnügungsbau der Geschichte mit seinen 50-80 000 Sitzplätzen erreichten und übertrafen. So fasste das 1907 fertiggestellte Stadium in Glasgow, damals für einige Zeit das größte der Welt, über 120 000 Zuschauer.32

Parallel dazu begannen vielfältige Anstrengungen, Fußballspiele und ihre Ergebnisse zumindest post festum auch denjenigen zugänglich zu machen, die an ihnen nicht persönlich teilnehmen konnten. Seit den 1880er Jahren wurden die Ergebnisse wichtiger Begegnungen per Telegraph in entfernte Städte übertragen, um sie in Postämtern und Lokalen zu verkünden.33 Zeitschriften und Zeitungen rund um den Fußball entstanden und erreichten immer höhere Auflagen. Die Wochenzeitung Scottish Referee, gegründet 1888, wurde beispielsweise im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, als Schottland fünf Millionen Einwohner zählte, in einer Auflage von 500 000 Exemplaren vertrieben.34 1907 veröffentlichte die britische Daily Mail die ersten Fotos von Fußballspielen.35

Der entscheidende nächste Schritt dieser Medialisierung bestand dann darin, Spiele live zu übertragen. Im Radio geschah dies zum ersten Mal im Januar 1927, drei Wochen nach der Gründung der BBC.36 Damit war Fußball in der tertiären Medialität angekommen. Die erste Fernsehübertragung, wiederum durch die BBC im noch experimentellen Sendebetrieb, wurde bereits ein Jahrzehnt später ausgestrahlt, im September 1937.37 In den Gründerjahren des Fernsehens, den fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts, gingen – zumindest in Großbritannien und Kontinentaleuropa – Fußball und Fernsehen eine symbiotische Beziehung ein: Neben der Übertragung von Spiel- und Unterhaltungsshows sowie der Ausstrahlung von Spielfilmen trug Fußball entscheidend dazu bei, dass die Television zum neuen Leitmedium der Epoche aufstieg. Umgekehrt sorgte die Integrierung des Sports ins tertiäre Massenmedium durch Live-Über­tragungen, Meldungen in den Nachrichtensendungen und eigene Sportschauen dafür, dass Fußball von einem proletarischen Mitmachspiel britischer Provenienz zu einem globalen, alle Klassen begeisternden Spiel wurde, das die Mehrheit der Menschen primär als Zuschauer erlebte.

Mit dem Aufkommen analog-elektronischer und dann digitaler Spiele seit den 1960er Jahren migrierte Fußball unmittelbar auch in diese neuen Medien. Das erste elektro-mechanische Fußballspiel CROWN SOCCER SPECIAL erschien 1967.38 Viele andere Arkaden- und PC-Spiele folgten. Der entscheidende Durch­bruch gelang jedoch erst mit Fußballmanager-Spielen seit Anfang der neunziger Jahre. Erfolgreich waren vor allem ANSTOSS – DER FUßBALLMANAGER (1993-2006), FIFA INTERNATIONAL SOCCER und FIFA (seit 1993) sowie PRO EVOLUTION SOCCER (seit 2001). Allein von den diversen Inkarnationen der FIFA-Serie verkaufte Electronic Arts bis 2010 nach eigener Auskunft 100 Millionen Exemplare.39 Digitale Fußballspiele leiten so eine neue Phase massenhaft aktiver, allerdings nun nicht mehr realer, sondern virtueller Teilhabe ein. Fußball scheint erneut von einem Zuschauer- zu einem Spielersport zu werden. Wer heute einen Raum betritt und Menschen vor einem HD-Bild­schirm sitzen sieht, kann sich – zumindest aus einiger Entfernung – auf Anhieb nicht mehr ganz sicher sein, ob dort ein Match ›läuft‹ und ›geschaut‹ wird oder ob die vermeintlichen Zuschauer nicht doch das Spiel selbst spielen.

 

QUARTÄRE MEDIALITÄT: VOM ZUSCHAUER ZUM SPIELER

Als Harry Pross vor einem halben Jahrhundert seine Taxonomie der Medialitäten vorlegte, war die Entwicklung des digitalen Transmediums – vor allem im Kontext europäischer Kultur – kaum absehbar. Insofern muss sie aus heutiger Sicht ergänzt und auch partiell korrigiert werden. Zwar erforderten die tertiären Medien, wie Pross erkannte, auf beiden Seiten des Kommunikationsprozesses Technik. Mit Blick auf die Digitalisierung ist diese Sende- und Empfangstechnik jedoch näher zu bestimmen. Denn die analogen Massenmedien Radio und Fernsehen erlaubten lediglich die Übermittlung fixierter und standardisierter Werke in eine Richtung: von wenigen Produzenten beziehungsweise Sendern zu vielen Konsumenten beziehungsweise Empfängern. Die Zuhörer und Zuschauer konnten nicht ›zurücksenden‹. Sie vermochten also weder mit den Anbietern der Programme oder mit dem Programmangebot selbst noch untereinander zu interagieren. Insofern lässt sich Pross' Definition tertiärer Medialität aus gegenwärtiger Sicht dahingehend ergänzen, dass es sich bei der Technik, die bei den Broadcast-Medien zum Einsatz kommt, prinzipiell um Einweg-Technik handelt: Sie ermöglicht dem Empfänger kein Rücksenden und verhindert umgekehrt, dass die Sender wie die gesendeten Werke Rückmeldungen empfangen können.40

Im Zuge der Digitalisierung entstand dann eine weitere Medialität, die wiederum auf beiden Seiten des Kommunikationsprozesses Technik einsetzt, jedoch prinzipiell über Rückkanäle verfügt – ob dieses Potential zur Interaktion den Nutzern nun zur Verfügung gestellt wird oder nicht. Denn auch unter digitalen Produktions- und Distributionsbedingungen folgen die Hersteller linearer Audiovisionen in der Regel der Tradition des Kinofilms und den künstlerischen Prä­rogativen, die sich mit ihr verbinden. Unabhängig davon, ob sie in der Tat weiterhin im Kontext der tradierten Offline-Medien Kino und Fernsehen arbeiten oder bereits für Online-Medien, präsentieren sie ihrem Publikum eine Final-Cut-Version als geschlossenes Werk. Sie reservieren also die dem Transmedium in­härenten Interaktionsmöglichkeiten für sich selbst und ihren kreativen Umgang mit den Software-Dateien. Game Designer hingegen integrieren die Befähigung, mit Elementen der jeweiligen Audiovisionen zu interagieren, in das Interface der Spiele und offerieren darüber hinaus häufig auch einen Zugang, der tiefergehende Veränderungen des Spiels erlaubt, so genannte Mods, also Modifizierungen.

Mediengeschichtlich verbinden sich daher mit quartärer Medialität41 – dem Übergang zum digitalen Transmedium und seiner technisch fundierten Mehrweg-Kommunikation – Konsequenzen sowohl für die Produktion wie die Rezeption von Audiovisionen. Zum einen kommt es zu einer Verschmelzung gestalterischer Souveränität, wie sie handwerklicher Bildlichkeit eignet, mit den Qualitäten industrieller Reproduktion. Während die technische und ästhetische Entwicklung hyperrealistischer Audiovisualität in den 1970er bis 1980er Jahren noch primär im Kontext des – amerikanischen – Spielfilms und auf der Basis von Pre-Rendering geschah, realisieren seit den 1990er Jahren so genannte Game Engines, also Software-Entwicklungsumgebungen für digitale Spiele, das Potential quartärer Medialität zur echtzeitigen Erzeugung virtueller Bilder und Töne in – nahezu – ›fo­torealistischer‹, d.h. lebensechter Qualität.42

Zum zweiten gelang auf Seiten der Rezeption eine Integration und drastische Steigerung der Rezeptionsweisen, die sich mit primärer, sekundärer und tertiärer Medialität verbinden. In der Virtualität lässt sich so erstmals dem Prinzip nach arbiträr zwischen fremdbestimmter, selbstbestimmter und interaktiver Nutzung medialer Artefakte wählen beziehungsweise wechseln. Damit scheint das digitale Transmedium einen historischen Um- oder auch Rückschwung im Hinblick auf das kulturell dominierende Verhalten gegenüber ästhetischen Artefakten einzuleiten.

Die weitgehende Stillstellung des Publikums – im Theater, im Museum, im Kino, vor Radio und Fernseher – war bekanntlich eine Leistung industrieller Kultur. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein wurden Theatersäle zum Beispiel nicht abgedunkelt. Zeitgenössische Darstellungen und Beschreibungen dokumentieren, in welch hohem Maße das Publikum, das sich sehen und beobachten konnte und den Theaterbesuch als soziales Ereignis begriff, untereinander und auch mit den Schauspielern interagierte, etwa durch anfeuernde oder schmähende Zwischenrufe. Den kollektiven Tunnelblick, der vom lichtlosen Zuschauerraum auf die Bühne fallen muss, führte erst Richard Wagner in Bayreuth ein. Das Arrangement nahm als proto-cinematische Rezeptionsform so aus Gründen ästhetischer Sammlung die Abdunkelung vorweg, die wenig später der Film aus technischen Gründen erfordern sollte.

Das frühe Kino hatte dann ebenfalls einige Mühe, das – nun eher Unter- und Mittelschichtspublikum – von allzu viel Unruhe und Unmutsäußerungen abzuhalten, insbesondere vom Bewerfen der Akteure beziehungsweise der Leinwände mit Gegenständen, wie man es von Live-Veranstaltungen her gewohnt war. Der offensichtliche Zusammenhang zwischen dem, was die neuen industriellen Medien ihrem Publikum abverlangten, und dem, was die industrielle Lebensweise generell erforderte, ist vielfach bemerkt worden.43 Von der Dressur zum physisch und kommunikativ passiven, aber äußerst aufmerksamen Verfolgen immer schneller wechselnder Situationen in Kunst und Unterhaltung führt eine relativ direkte Linie zum einen zu den Erfahrungen, welche die neuen Verkehrsmittel Eisenbahn und dann Automobil vermittelten, und zum zweiten zu den Anforderungen industrieller Arbeit, die auf einem standardisierten passiven Verhalten beruhte, das wie fremdgesteuert wirkte, aber eben selbstgesteuert sein musste.

Digitale Wissensarbeit kennzeichnet dagegen selbständiges Handeln in kreativer und durchaus auch forschender, ausprobierender, also spielerischer Manipulation von Software-Programmen und Software-Dateien und ihren virtuellen Symbolen.44 Unter dieser Perspektive verwundert es nicht, dass im selben Maße, in dem diese digital ermächtigte Wissensarbeit – insbesondere in den so genannten ›creative industries‹ – zur wichtigsten Quelle ökonomischer Wertschöpfung wird, sich auch Veränderungen im kulturellen Verhalten gegenüber ästhetischen Artefakten einstellen. Das Spielerische, das vorindustriell viel galt, drängte der Industrialismus – angesichts der Gewalt und Gefahr, die von industriellen Maschinen und Prozessen ausgeht, auch mit einigem Grund – ins Private und dort auch an die Ränder des Hochkulturen. Harry Pross etwa schrieb, das Spiel gegen das Buch absetzend: »Im zweiten Sektor, dem der Freizeit und der Inkompetenz, ist das Spiel in seinen zahllosen Formen zu Hause.«45 Von dort allerdings kehrt es nun – im Zuge eines »movement from a culture of calculation to a culture of simulation«46 – ins Zentrum postindustrieller Zivilisation zurück. Der Widerspruch zwischen Arbeitsethik und Spielethik, den industrielle Rationalität behauptete und der in Fabriken wie Verwaltungen bestand, hebt sich sukzessive auf.

Mit einiger Konsequenz findet sich daher der fantasmatische Profanraum, in dem digitale Wissensarbeiter ihre ästhetischen Erfahrungen sammeln, nicht länger in der materiellen Realität, sondern in der Virtualität. Dort vollendet sich der Prozess entmaterialisierender Entortung, der mit dem Film begann: Wo auf der Bühne noch Menschen aus Fleisch und Blut stehen, zeigt das Kino Lichtbilder. Online streifen nun nach den Darstellern auch die Zuschauer, indem sie zu virtuellen Mitspielern werden, ihre Körperlichkeit zugunsten mediatisierter Präsenz ab. Digitale Spiele profitieren so von der sich mit der gesellschaftlich notwendigen Arbeit verändernden Haltung des Publikums. Die Bereitschaft, sich über län­gere Zeiträume hinweg ausschließlich passiv unterhalten zu lassen, nimmt ab und umgekehrt steigt die Bereitschaft zu interaktiver Partizipation. Die Notwendigkeit zur eigenen Entscheidung, wie sie die meisten analogen und digitalen Spiele erfordern, nehmen Spieler eben nicht als Last wahr, sondern erleben sie lustvoll.

Zu differenzieren ist daher heute – im Doppelsinne: nach Harry Pross – zwischen Spielen primärer, sekundärer, tertiärer und quartärer Medialität. Basieren Spiele primärer Medialität auf realen Simulationen des Realen, Spiele sekundärer Medialität auf symbolischen Repräsentationen des Realen und Spiele tertiärer Medialität auf tele-auditiven oder tele-audiovisuellen Teilhaben an realen Simulationen des Realen wie symbolischen Repräsentationen des Realen, so ermöglichen digitale Spiele erstmals eine interaktive Teilhabe nicht nur an virtuell-echtzeitigen Simulationen symbolischer Repräsentationen des Realen, sondern vor allem auch an virtuell-echtzeitigen und hyperrealistischen Simulationen des Imaginären.