Der Schoppenfetzer und die Bacchus-Verschwörung

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EINE WOCHE SPÄTER

Es war kurz vor elf Uhr. Erich Rottmann und sein treuer Vierbeiner Öchsle standen an der Juliuspromenade an der Omnibushaltestelle der Linie 6 in Richtung Gartenstadt. In einer dicht gedrängten Menschenansammlung warteten sie auf den verspäteten Bus. Der ehemalige Leiter der Würzburger Mordkommission hatte sich mit einigen Bekannten und ihren Hunden auf den Weinbergshöhen verabredet, damit Öchsle wieder mal mit Artgenossen richtig herumtoben konnte. Bei dieser Gelegenheit würde der Weinkenner gleich den Stand der diesjährigen Reben begutachten, die dort an den Hängen zum Maintal gediehen.

Vor einigen Monaten war von den Würzburger Verkehrs- und Versorgungsbetrieben die Regel eingeführt worden, dass die Fahrgäste nur noch vorn in die Busse einsteigen durften. Diese Maßnahme sollte die wegen der vielen Schwarzfahrer drohende Totalpleite abwenden. Den Busfahrern hatte man damit die machtvolle Aufgabe der Fahrkartenkontrolle übertragen. Die Folge war, dass, je nach Auslegung dieser Regel durch den jeweiligen Chauffeur, vorn nur eine oder auch beide Türflügel zum Einsteigen geöffnet wurden – mit der weiteren Folge, dass sich mehr oder weniger lange Schlangen vor dieser trichterartigen Schleuse bildeten.

Da die aufmüpfigen Unterfranken in dieser Situation beileibe nicht die Gelassenheit der Engländer besaßen, kam es dabei immer wieder zu Spannungen. Auch jetzt, obwohl der Bus noch gar nicht da war, versuchten verschiedene Wartende in der Menge sich durch gezieltes Nach-vorne-Stehlen eine möglichst günstige Position für das Einsteigen zu ergattern. Andere bemerkten dies und unterbanden es, indem sie sich in den Weg stellten.

Öchsle war ebenfalls nervös, denn er wurde ständig gestoßen und hatte Mühe, seine Pfoten in Sicherheit zu bringen. Endlich kam der Gelenkbus angerauscht und der Fahrer öffnete eine Zugangspforte. Die Menschen drängten in den Bus, wobei sie im Vorübergehen ihre Fahrausweise vorzeigten. Plötzlich kam die Reihe ins Stocken.

„Können Sie nicht die andere Tür auch aufmachen“, bat eine korpulente Frau, die mit zwei vollen Einkaufstaschen unterwegs war. „Ich habe bei dem engen Eingang Probleme durchzukommen.“

Der Fahrer warf einen ärgerlichen Blick auf die Uhr, dann drückte er auf einen Knopf und der zweite Türflügel öffnete sich zischend. „Ich hätt halt noch a paar Tüte mehr mitgenomme“, brummte er leise vor sich hin. Trotzdem wurde es von einigen Leuten, auch der Betroffenen, gehört. Sie bekam einen roten Kopf.

„Jetzt awwer a weng flott des Ganze“, forderte der Buslenker laut. „Ich hab scho genuch Verspätung.“ Die Frau quälte sich durch den Eingang, dann stellte sie vor dem Fahrer ihre Taschen ab, um den Fahrausweis aus der Jackentasche zu kramen. „Flott hab ich gsacht, sonst komme mer heut überhaupt nimmer vom Fleck!“

„Aber ich hatte doch die Hände voll“, warf die Frau ein. Sie hielt ihren Fahrschein in die Höhe. Der Fahrer warf kaum einen Blick darauf und winkte sie ärgerlich weiter.

Erich Rottmann war der Letzte in der Reihe. Als er vor dem Busfahrer stand, sagte er gemütlich: „Einmal Herr mit Hund bis Endstation. Was kost des mit a bissle Freundlichkeit als Zugabe?“ Dabei kramte er sehr umständlich seinen Geldbeutel aus der Gesäßtasche seiner Breitcordhose.

„Freundlichkeit! Freundlichkeit!“, schimpfte der Fahrer. „Mir solle die Leut kontrollier und dann solle mer a no pünktlich sei. Also, rei jetz!“ Hinter Rottmann schloss sich zischend die Tür, so knapp, dass ihm fast der Hintern eingezwickt worden wäre. Gleichzeitig gab der Fahrer mächtig Gas. Rottmann wurde so heftig gegen die Absperrung zum Fahrgastraum geschleudert, dass er fast gestürzt wäre.

„Ja, sind Sie noch zu rette?“, grollte er. „Ich wäss nit, ob des Ihne uffgfalle is, awwer Sie fahre Mensche und ke Schweinehälfte vom Schlachthof!“

„Mecht zwäfuchzich“, knurrte der Fahrer, Rottmanns Bemerkung ignorierend, während er zügig in die Theaterstraße einbog und nebenbei die Fahrkarte für Rottmann aus dem Automaten neben seinem Sitz zog.

Ehe Rottmann den geforderten Fahrpreis umständlich aus seinem Geldbeutel herausgefischt hatte, trat der Fahrer schon wieder heftig auf die Bremse. Rottmann wurde diesmal in Richtung Frontscheibe geschleudert.

„Ja, verdammt …“, schimpfte er. Als er sich wieder gefangen hatte, warf er beiläufig einen Blick aus dem Fenster. Kurz vor der Einmündung Semmelstraße hatte sich an der Ampel eine Fahrzeugschlange gebildet, die trotz der Grünphase nicht von der Stelle kam. Der Grund war eine größere Menschenansammlung, die die gesamte Theaterstraße versperrte. Alle Leute starrten, teilweise wild gestikulierend, hinauf zum Glockenspiel des Bürgerspitals zum Heiligen Geist. Trotz des Motorgeräusches des Busses konnte Rottmann deutlich die Glocken hören, die gerade das Kilianslied zum Besten gaben. Er warf einen flüchtigen Blick auf seine Armbanduhr. Kurz nach elf Uhr. Rottmann wusste, dass sich immer wieder kleinere Zuschauergruppen bildeten, wenn das Glockenspiel mehrmals am Tag in Gang gesetzt wurde. Dieser Menschenauflauf da vorne war aber höchst ungewöhnlich.

Wütend starrte der Busfahrer aus dem Fenster, dann griff er zum Funkgerät und meldete den Zwangsaufenthalt an die Zentrale weiter. Währenddessen wurden die ersten Fahrgäste unruhig und murrten. Einige verlangten aussteigen zu dürfen, andere standen von ihren Plätzen auf, um besser durch die Scheiben nach vorne sehen zu können.

Der Fahrer gab ein unfreundliches Knurren von sich, dann drückte er zwei Knöpfe und die Türen des Busses öffneten sich mit einem Zischen. Ein ganzer Schwung Fahrgäste verließ das Fahrzeug. Rottmann stieg ebenfalls aus. Die Neugierde des ehemaligen Kriminalbeamten war geweckt.

Öchsle wirkte erleichtert und tänzelte fröhlich um seinen Menschen herum. Die Enge im Bus war ihm nicht geheuer gewesen.

Erich Rottmann bewegte sich langsam durch die Menschenmenge und sah dabei ebenfalls nach oben. Dabei überlegte er, was er über das Glockenspiel wusste. Wenn er sich richtig erinnerte, wurden 1956 am Giebel des Verbindungsbaus zwischen Spitalkirche und dem eigentlichen Spitalgebäude eine Uhr und 13 Glocken um die gemalten Frankenapostel angebracht. Dargestellt ist dort der Missionsbischof St. Kilian mit seinen Gefährten, die um 689 in Würzburg für ihren Glauben gestorben waren. Während die Glocken das Kilianslied spielen, ziehen Wallfahrerfiguren an den Heiligen St.Kilian, St.Kolonat und St.Totnan vorbei. Anschließend schlägt eine weiße Taube dreimal mit den Flügeln. Zum Lied Die Würzburger Glöckli drehen sich die Figuren eines Winzerzuges gleichfalls um die Frankenapostel. Zum Schluss prostet aus einem kleinen darüberliegenden Fenster ein Kellermeister den Passanten zu.

So war der gewöhnliche Ablauf. Was sich aber heute den Zuschauern und Rottmann bot, wich auf erschreckende Weise davon ab. An den Gestalten der Wallfahrer, die den Zug der vorbeiziehenden Figuren anführten, hing horizontal befestigt eine menschliche Gestalt. Soweit Rottmann sehen konnte, handelte es sich um einen Mann, der leblos, das Gesicht den Menschen auf der Straße zugewandt, in die Tiefe starrte. Der Mann war mit den Schuhen nach links und dem Kopf nach rechts angebracht. Die Schuhe hatten sich offenbar in dem breiten Spalt, in dem die vorüberziehenden Figuren üblicherweise wieder verschwanden, festgekeilt, so dass der Zug der Wallfahrer stockte. Jetzt erst bemerkte Rottmann, dass das Kilianslied bereits zum wiederholten Male gespielt wurde.

Für den ehemaligen Leiter der Mordkommission war klar, dass sich kein Mensch freiwillig in diese gefährliche Lage begab. Der Mann musste zumindest ohne Bewusstsein sein, wenn nicht gar Schlimmeres. Hier lag ganz offenbar eine Straftat vor. Als Erich Rottmann gerade sein Mobiltelefon aus der Tasche ziehen wollte, um die Einsatzzentrale von dem Vorfall zu unterrichten, kam bereits aus Richtung Mainfrankentheater eine Polizeistreife angefahren. Die Streifenbesatzung, ein Mann und eine Frau, stiegen aus und betrachteten kurz den hängenden Menschen, dann eilte der Streifenführer zu seinem Dienstfahrzeug zurück und griff zum Funktelefon.

Erich Rottmann hatte sich einem der Zuschauer genähert, der mit einem Fernglas nach oben starrte. Offenbar handelte es sich um einen Touristen.

„Entschuldigung“, sagte Rottmann und tippte ihm gegen den Arm. „Dürfte ich mal kurz durch Ihr Fernglas schauen?“

Der Mann setzte das Glas ab und musterte Rottmann verwundert. Ehe er sich’s jedoch versah, hatte ihm der Exkommissar mit einem freundlichen Nicken das Fernglas aus der Hand genommen und blickte seinerseits nach oben. Es bedurfte nur eines kurzen Blickes, dann war für Rottmann klar, dass der Mann dort oben nicht mehr lebte. Seine aufgerissenen Augen blickten starr in die Menschenmenge, die mit jeder Minute anwuchs. Rottmann blieb jedoch nicht genügend Zeit, um sich die Gesichtszüge näher anzusehen, da sein Nachbar mit einer eindeutigen Geste die Rückgabe des Fernglases forderte. Während Erich Rottmann es mit einem knappen „Danke schön“ zurückgab, hörte er in der Ferne schon das Heulen von Sirenen.

Die beiden Polizeibeamten aus dem Streifenwagen begannen damit, die Neugierigen zurückzudrängen. Eine Minute später kamen vier Einsatzfahrzeuge, ein Kleinbus und drei Lkw, der Städtischen Berufsfeuerwehr angerast. Sie hatte ihren Sitz in der Hofstallstraße, wodurch sie in extrem kurzer Zeit vor Ort sein konnte. Auf dem größeren Lkw befand sich eine ausfahrbare Drehleiter mit einem Personenkorb an der Spitze. Der Einsatzleiter sprang aus dem Kleinbus und suchte sofort den Kontakt zu den Polizeibeamten, während die anderen Feuerwehrleute abwartend neben ihren Fahrzeugen stehen blieben. Langsam wurde die Situation für die beiden Polizisten schwierig, weil die Menschen sich kaum noch zurückhalten ließen. Die Menge war noch stärker angewachsen und verstopfte alle einmündenden Straßen. Autofahrer, die nicht weiterfahren konnten, verließen ihre Fahrzeuge und mischten sich unter die Schaulustigen.

 

Erich Rottmann überlegte, was er tun konnte, um den Streifenbeamten zu helfen. In diesem Augenblick kamen jedoch schon weitere Einsatzfahrzeuge der Polizei die Theaterstraße heruntergefahren. Die Besatzungen stiegen aus und begannen sofort damit, die Menschenmenge zurückzudrängen.

Nur eine Minute später rasten zwei Zivilfahrzeuge heran. Mit quietschenden Reifen kamen sie zum Stehen. Erich Rottmann hätte auch ohne hinzuschauen sagen können, wer hier eingetroffen war. Tatsächlich entstieg Erster Kriminalhauptkommissar Sebastian Krämer dem Wagen und warf einen verärgerten Blick auf das Schauspiel.

Rottmann verzog unwillkürlich das Gesicht. Er konnte Krämer schlicht und ergreifend nicht riechen. Sein Amtsnachfolger war ihm für seine Begriffe zu opportunistisch, zu glatt und zu sehr auf Karriere programmiert. Rottmann war während seiner Dienstzeit immer der hemdsärmelige Praktiker gewesen, den Förmlichkeiten nur am Rande interessierten. Krämer hingegen legte großen Wert auf Äußerlichkeiten. Auch jetzt erschien er auf der Bildfläche, als wäre er dem Katalog eines Herrenausstatters entstiegen.

Krämer winkte einen der Streifenbeamten zu sich und befahl: „Sorgen Sie dafür, dass diese Menschen von hier verschwinden, und leiten Sie endlich den Verkehr um! Muss man sich denn um alles selbst kümmern! Sie sehen doch, dass die Straßen völlig verstopft sind!“

Der Beamte nickte, dann ging er zu seinem Fahrzeug und gab über die Einsatzzentrale die Anweisungen an die anderen Streifenwagen durch. Die Theaterstraße wurde auf Höhe Mainfrankentheater und Einmündung Semmelstraße gesperrt. Der Verkehr musste von den Polizisten über die Bahnhofstraße und Semmelstraße auf der einen Seite und über die Ludwigstraße und Spiegelstraße auf der gegenüberliegenden Seite umgeleitet werden.

Kriminalhauptkommissar Florian Deichler, mittlerweile zweiter Mann im Morddezernat, hatte sich seine Sporen als Kriminalbeamter noch während Erich Rottmanns aktiver Zeit verdient. Er saß am Steuer des Dienstfahrzeugs und stieg jetzt ebenfalls aus. Interessiert warf er einen Blick in die Runde. Rottmann, der gar nicht weit von ihm entfernt stand, hob grüßend die Hand. Deichler zeigte für einen Augenblick eine verwunderte Miene, winkte dann aber freundlich zurück. Schließlich wandte er sich ab und widmete seine Aufmerksamkeit dem Mann im Glockenspiel.

Aus dem zweiten Zivilfahrzeug, einem Kleinbus, stiegen mehrere Beamte mit schweren Taschen. Krämer hatte offenbar gleich die Spurensicherung mitgebracht.

Der Einsatzleiter der Feuerwehr trat zu den beiden Kriminalbeamten. Rottmann konnte die Frage hören, wann man den Mann herunterholen könne.

„Machen Sie schon mal die Drehleiter einsatzbereit“, ordnete Krämer an. „Ich gehe zwar davon aus, dass der Mann tot ist, trotzdem muss zuerst der Rechtsmediziner rauf und den Mann untersuchen. Ich fahre auch mit hoch, weil ich mir die Sache genau ansehen will. Danach schicken wir die Spurensicherung und den Polizeifotografen nach oben. Wenn wir fertig sind, könnt ihr ihn bergen.“

„Mehr als drei Personen können nicht gleichzeitig in den Korb“, gab der Einsatzleiter der Feuerwehr zu bedenken. „In diesem Fall müssen wir die Leiter von unten bedienen.“

„Mein Gott, dann bedienen Sie das Ding eben von unten“, gab Krämer schroff zurück. Der Mann warf Krämer einen missmutigen Blick zu, sagte aber nichts. Er gab einige Anweisungen und seine Männer fuhren die Stützausleger des Lkw aus, damit dieser festen Stand hatte.

Mittlerweile hatte sich das Geschehen am Bürgerspital auch bei der Presse herumgesprochen. Christian Schöpf-Kelle, rasender Reporter der Main-Postille, der natürlich wieder den Polizeifunk abgehört hatte, und einige andere Journalisten, die sich wohl auf dieselbe Weise auf dem Laufenden hielten, waren vor Ort und schossen fleißig Bilder. Krämer nahm es mit gerunzelter Stirn zur Kenntnis.

Inzwischen war auch der Gerichtsmediziner eingetroffen. Nach einer kurzen Besprechung mit den Kriminalbeamten und dem Leiter der Spurensicherung betraten er, Krämer und der Polizeifotograf den Korb der Drehleiter. Einer der Feuerwehrleute stand an der Bedienkonsole und fuhr den Korb schließlich so in die Höhe, dass er, direkt neben dem Glockenspiel, leicht schwankend zum Stehen kam.

Es dauerte gut zehn Minuten, bis der Arzt seine Untersuchung vorgenommen und der Fotograf mehrere Bilder geschossen hatte. Krämer stand in einer Ecke des Korbes und beobachtete alles. Als der Gerichtsmediziner fertig war, gab er ein Zeichen und die Leiter senkte sich wieder nach unten. Währenddessen unterhielt er sich mit Krämer. An seinen Gesten konnte Rottmann erkennen, dass der Mann am Glockenspiel wie erwartet tot war.

In der Zwischenzeit war ein Verantwortlicher aus der Verwaltung der angrenzenden Reha-Abteilung des Bürgerspitals erschienen. Das Entsetzen über die Vorgänge stand dem Mann ins Gesicht geschrieben. Die Beamten der Spurensicherung erklärten ihm, dass sie das Glockenspiel auch von innen untersuchen müssten. Sofort griff er zum Mobiltelefon und rief den verantwortlichen Mann des technischen Dienstes herbei.

Als der Leichenwagen des Städtischen Beerdigungsinstituts die Absperrung passierte und in die Theaterstraße einbog, fuhr der Korb mit Beamten der Spurensicherung gerade wieder nach oben. Es dauerte eine weitere knappe Stunde, dann fuhr der Korb mit zwei Feuerwehrmännern nach oben, die die Leiche, die mit mehreren starken Rebschnüren an den ungefähr achtzig Zentimeter hohen Figuren des Glockenspiels befestigt war, losbanden und auf eine Trage hoben. Auf ihr transportierten sie den Toten, quer auf dem Rand des Korbs liegend, nach unten. Von einer Decke verhüllt, die von zwei Feuerwehrleuten gehalten wurde, fand der Tote Schutz vor den neugierigen Blicken der Passanten. Die Männer des Bestattungsunternehmens betteten die Leiche in einen Metallsarg, luden diesen in ihren Wagen und fuhren zum Institut für Rechtsmedizin.

Nach dem Abtransport des Toten begann sich die Ansammlung von Neugierigen langsam zu zerstreuen. Die Feuerwehr zog die Leiter ein und rückte ab. Die Wagen der Spurensicherung fuhren in den Innenhof des Bürgerspitals. Die Untersuchung der Technik des Glockenspiels würde noch einige Zeit in Anspruch nehmen. Es gab keinen Zweifel, dass der Tote von drinnen an den Figuren des Glockenspiels festgebunden worden war. Der oder die Täter hatten sicher keine Drehleiter zur Verfügung gehabt, also musste es im Haus Spuren geben.

Einige Zeit später wurde der Verkehr auf der Theaterstraße von der Polizei wieder freigegeben. Von dem ungewöhnlichen Vorfall war nichts mehr zu bemerken.

Rottmann überlegte einen Augenblick, ob er seine Fahrt mit einem anderen Bus fortsetzen sollte, doch dann überwog seine Neugier. Er wechselte die Straßenseite und näherte sich dem Hof des Bürgerspitals. Vielleicht gelang es ihm, Florian Deichler ohne Krämer zu erwischen, so dass er ihm ein paar Auskünfte entlocken konnte. Ihn interessierte vor allen Dingen, ob jener ihm etwas über die Identität des Toten und die Todesursache sagen konnte.

Als Rottmann gerade den Hof betreten wollte, kam ihm eines der zivilen Polizeifahrzeuge entgegen. Rottmann machte einen schnellen Schritt zur Seite. Am Steuer saß Krämer. Zum Glück achtete dieser nicht auf seine Umgebung, so dass ihm die Anwesenheit Rottmanns entging. Mit grimmiger Miene lenkte er den Wagen auf die Straße hinaus. Deichler befand sich also noch am Tatort. Typisch Krämer, die lästige Kleinarbeit überließ er seinen Mitarbeitern.

Erich Rottmann betrat den Hof und ließ sich auf einer der Ruhebänke nieder. Früher oder später musste Deichler herauskommen. Öchsle setzte sich geduldig neben seinen Herrn. Es dauerte fast eine halbe Stunde, ehe der ehemalige Mitarbeiter von Erich Rottmann aus dem Haus trat. Begleitet wurde er vom Techniker des Bürgerspitals, der sehr aufgeregt wirkte.

„… und wie lange wird es dauern, bis ich das Glockenspiel wieder reparieren kann? Hoffentlich ist der Schaden nicht zu groß.“

Deichler beruhigte ihn. „Machen Sie sich keine Sorgen. Morgen können Sie wieder rein. Meine Männer haben bis dahin alles gründlich untersucht.“

„Na, Gott sei Dank“, atmete der Mann sichtlich erleichtert auf. „Hoffentlich erwischen Sie diese elenden Verbrecher, die einen Menschen auf derart perverse Weise umbringen! Einfach unvorstellbar.“ Er gab Deichler kopfschüttelnd die Hand, dann eilte er wieder ins Haus zurück.

Selbstverständlich hatte der junge Kommissar seinen ehemaligen Chef auf der Bank sitzen sehen. Er kam herüber und meinte: „Na, Erich, hast du schon wieder mal gerochen, dass es hier Arbeit für uns gibt?“ Während er sprach, hatte er Mühe, sich der Sympathiebekundungen Öchsles zu erwehren, der vor Freude ganz aus dem Häuschen war.

„Du wirst es nicht glauben, aber es war purer Zufall, dass ich dazugekommen bin. Ich saß im Bus und der kam wegen des Menschenauflaufs nicht weiter. Aber da ich schon mal hier bin … Florian, weißt du schon, wer der Tote ist?“

Florian Deichler warf einen kurzen Blick über die Schulter, ob jemand mithörte, dann erklärte er: „Der Mann hatte keinerlei Ausweispapiere oder sonstige Dinge bei sich. Seine Taschen sind leer und selbst die Etiketten sind aus den Kleidungsstücken herausgetrennt worden. Es sieht so aus, als wären hier Profis am Werk gewesen. Offenbar wollten die Täter, dass wir ihn nicht so schnell identifizieren. Mal sehen, was unsere Vermisstendatei hergibt. Ansonsten werden wir einen Aufruf an die Bevölkerung starten. Irgendjemand muss den Mann doch vermissen.“

Erich Rottmann machte ein nachdenkliches Gesicht. „Ich habe das Gefühl, dass uns dieser Tote noch einiges Kopfzerbrechen bereiten wird. Wer könnte an einer derart öffentlichen Zurschaustellung einer Leiche ein Interesse haben? Der Täter hat doch dieses öffentliche Aufsehen bewusst provoziert.“

Deichler drohte scherzhaft mit erhobenem Zeigefinger. „Von wegen ,uns‘. Du meinst, der Fall wird der Polizei Kopfzerbrechen bereiten. Vergiss nicht, dass du im Ruhestand bist und dich nicht mehr mit solchen Dingen rumschlagen musst.“

Rottmann ging auf diese Bemerkung nicht ein. „Hat der Gerichtsmediziner schon etwas zur möglichen Todesursache gesagt?“

Deichler sah seinen ehemaligen Chef kopfschüttelnd an. „Mann, Erich, du kannst es wirklich nicht lassen. Du weißt, dass ich in Teufels Küche komme, wenn ich mit dir darüber spreche. Krämer zerreißt mich in der Luft!“

Erich Rottmann winkte ab. „Dieser Wichtigtuer muss das ja nicht erfahren, oder? Ein bisschen professionelle Neugierde wird ja wohl erlaubt sein.“ Er zwinkerte Deichler zu.

Dieser atmete tief durch, dann sprach er mit gesenkter Stimme: „Es gibt keinerlei Anzeichen von äußerer Gewalteinwirkung. Wir wissen auch nicht, ob er noch gelebt hat, als man ihn dort oben aufgehängt hat. Es war nur festzustellen, dass er stark nach Alkohol roch. Aber du kennst das ja, das war selbstverständlich nur eine vorläufige Diagnose. Man muss das Ergebnis der Obduktion abwarten.“

„Mich wundert nur“, spann Rottmann den Faden weiter, „dass man die Leiche nicht schon früher bemerkt hat.“

„Das ist leicht zu erklären“, gab Deichler zurück. „Der oder die Täter haben den Toten an den Figuren befestigt, als diese sich noch im Inneren des Glockenspiels befanden und von der Straße aus nicht sichtbar waren. Als dann die Glocken um elf Uhr anfingen zu spielen und die Figuren sich zu drehen begannen, transportierten sie die Leiche mit nach vorn in den einsehbaren Bereich. Dann hat sich der Tote mit seinem Fuß im Durchlass auf der anderen Seite verhakt und die Figuren kamen zum Stillstand.“

Das kriminalistisch geschulte Gehirn Rottmanns arbeitete auf Hochtouren. Schließlich meinte er: „Meinst du, dass ein einzelner Mann das Opfer alleine nach oben schleppen und dort befestigen konnte? Und bist du sicher, dass der aufgehängte Mann durch den schmalen Durchlass passte, durch den die Figuren laufen?“

„In seinem Fall ja. Der Tote ist sehr schlank und auch nicht sonderlich groß.“ Er warf einen schrägen Blick auf Rottmanns ansehnliche Bauchregion, dann meinte er scherzhaft: „Bei dir hätte das sicher nicht geklappt.“

Erich Rottmann hatte die Anspielung auf seine gestandene Figur durchaus verstanden, ging aber nicht darauf ein. Deichler fuhr wieder ernst fort: „Zur Frage der Täter kann man nur feststellen, dass ein kräftiger Mann das schon geschafft haben könnte, da das Opfer sehr schmächtig und nicht schwer war.“

 

Rottmann nickte. Er grübelte über die möglichen Motive nach, die jemand haben könnte, einen Menschen dort oben aufzuhängen.

Florian Deichler wusste Rottmanns Miene richtig zu deuten. „Erich, vergiss es! Vergiss es ganz einfach! Ich kenne dieses Gesicht. Denk nicht mal daran! Du bist im Ruhestand. Akzeptiere das halt endlich. Wir, die Polizei, werden den Fall aufklären, nicht du.“

Rottmann nickte gedankenverloren. Er hatte offensichtlich gar nicht richtig zugehört. Unvermittelt winkte er zum Abschied und zog mit Öchsle im Schlepptau ohne ein weiteres Wort davon. Während er auf das Hoftor des Bürgerspitals zuging, zog er seine gestopfte Bruyère aus der Joppentasche und zündete sie im Gehen an.

Deichler legte die Stirn in Falten. Er kannte seinen ehemaligen Chef lange genug, um zu wissen, dass sein Ratschlag zum einen Ohr hinein und zum anderen wieder hinausgegangen war. Der alte Ermittler war ein unterfränkischer Sturkopf. Er würde auch in diesem Fall machen, was er wollte.

Der Tag war bereits in Dämmerung übergegangen. Über dem Talgrund der Retz waberten feine Nebel. Das Haus, das ein ganzes Stück außerhalb der Ortschaft lag, war unbeleuchtet.

Licht brannte nur in einem Raum, welcher das halbe Kellergeschoss des alten Gebäudes einnahm. Die Decke bestand aus massiven alten Eichenbalken, die dunkelbraun eingelassen waren und sich dadurch markant vom weißen Putz der Decke abhoben. Fenster hatte der Raum keine. An den Wänden hingen ein paar billige Gobelins, die Szenen aus der römischen Mythologie zeigten. Der Steinboden war mit Teppichen ausgelegt. Mehrere bequeme Liegen mit Kissen waren aufgestellt.

In der Mitte des Raumes war ein rechteckiges, etwa zwei mal zwei Meter großes Betonbassin in den Boden eingelassen, dessen Rand sich nur wenig über das Niveau des Fußbodens erhob. In seinem Zentrum befand sich ein kleiner Springbrunnen, der in der Mitte von einer auf einem Sockel stehenden bronzefarbenen Steinfigur von knapp einem Meter Höhe gekrönt wurde. An den Rändern des Bassins befanden sich farbige Strahler, die den vier Wasserfontänen, die mitten aus dem Becken nach oben stiegen und sich über der Figur wie ein Baldachin trafen, ein geheimnisvolles Fluoreszieren verliehen. Die Brunnenfigur stellte einen fülligen, unbekleideten, alten bärtigen Mann dar, dessen Kopf mit Efeu, Weinlaub und Weintrauben bekränzt war. In der einen Hand hielt er einen Trinkbecher, in der anderen einen Stab. Man konnte sehen, dass die Figur, ähnlich wie die ganze Einrichtung und die Elektroinstallationen, nicht sehr teuer gewesen waren. An der Decke befanden sich zwischen den Eichenbalken zahlreiche Lampen, deren indirektes Licht man dimmen konnte.

Im Augenblick verbreitete schummriges Licht eine beruhigende Atmosphäre. Die Wasserfontänen plätscherten leise. Der Raum war menschenleer. Plötzlich ertönte leise ein Gong. Wie von Geisterhand erschienen aus dem Dunkel vier Personen. Schweigend schritten sie zu den Liegen und ließen sich nieder. Alle trugen weiße Togen, die an den Säumen von aufgesticktem silbernem Weinlaub geziert wurden. Als sie sich hinlegten, war unter ihren Togen eine Tunika zu erkennen. An den Füßen trugen sie geschnürte Sandalen. Es herrschte Schweigen.

Obwohl die Kleidung der hier versammelten Männer von einem Ausstatter für Faschingskostüme stammte, wirkten sie hier in dieser Umgebung nicht deplatziert oder gar lächerlich. Ihre Gesichter waren vollständig hinter silberfarbigen Masken verborgen, die am Hinterkopf mit elastischen Bändern gehalten wurden. Die Maskenträger blickten durch schmale Sehschlitze. Alle Masken waren den Gesichtszügen der Brunnenfigur nachgebildet.

Nachdem die Männer Platz genommen hatten, ertönte aus der Tiefe des Raumes ein weiterer Gong. Ihre Aufmerksamkeit konzentrierte sich unvermittelt auf eine bestimmte Stelle im Hintergrund.

Gemessenen Schrittes trat eine schlanke männliche Gestalt in das Licht. Auch sie war in eine Toga gekleidet, deren Säume zudem mit roten Weinlaub-Ornamenten verziert waren. Der Mann trug ebenfalls eine Maske, die jedoch bronzefarben war.

„Brüder des Bacchus, ich grüße euch“, kam die Stimme des Mannes dumpf hinter der Maske hervor. Die Anwesenden gaben den Gruß murmelnd zurück. „Lasst uns zuerst Bacchus, unserem Gott des Weines und der Sinnenfreuden, einen Weihetrunk widmen.“ Er schritt zu einem Tisch, auf dem fünf Wein-Römer bereitstanden. Er holte einen bereits entkorkten Bocksbeutel, einen Bacchus Kabinett, unter dem Tisch hervor und verteilte den Inhalt auf die Gläser. Anschließend griff er nach einem kleinen Löffel und entnahm einem silbernen Gefäß von der Größe einer Tablettendose eine Prise eines gelblichen Pulvers, das er in den Wein einrührte. Dann nahm er Römer für Römer und reichte sie den Männern auf den Liegen.

„Auf das Wohl von Bacchus und unserer ewigen Gesundheit!“ Nach dem Trinkspruch, den die Männer leise wiederholt hatten, nahm jeder einen kräftigen Schluck.

„Wir sind heute zusammengekommen, um über Wohl und Wehe der Abtrünnigen zu sprechen“, ergriff der Mann mit der bronzenen Maske wieder das Wort. „Diese haben die Gottesgabe genossen, sie haben geschworen, Stillschweigen zu wahren und Bacchus’ Geheimnis zu behüten.“ Er hob die Stimme: „Doch was haben sie getan? Abtrünnig und wortbrüchig sind sie geworden! Sie haben uns verlassen, um das Geschenk des Weingottes finanziell auszuschlachten. Obwohl sie wissen, dass diese Gottesgabe nur für die wenigen Auserwählten bestimmt ist, die im Bund der Bacchus-Brüder hier versammelt sind! Das können wir nicht hinnehmen! Einen unserer ehemaligen Brüder, den eigentlichen Wahrer des Geheimnisses, hat die Gottesstrafe für seine Wankelmütigkeit bereits getroffen.

Zu Lebzeiten hat er immer gesagt, dass er dafür sorgen wolle, dass das Geheimnis nicht in falsche Hände gerät. Wir wissen nicht, ob der Verstorbene Wort gehalten und in seinem letzten Willen verfügt hat, dass das Geheimnis in unserer Gemeinschaft bleibt. Wir haben erfahren, dass verbrecherische Menschen das Testament gestohlen haben. Ich befürchte, dass diese geldgierigen Winzer im Dorf ihre Finger im Spiel haben.“

Seine Worte, die von den Anwesenden stillschweigend, aber mit gelegentlichem Kopfnicken quittiert wurden, fielen auf fruchtbaren Boden. „Ich schwöre euch, ich werde alles tun, um zu verhindern, dass dieses Geschenk missbraucht und verschleudert wird!“ Wieder zustimmendes Gemurmel. „Zu eurem Schutz sage ich euch nicht, wozu ich bereit bin, um dieses schändliche Tun zu verhindern. Ich gehe aber davon aus, dass jeder von euch bereit ist, mir zu helfen.

Lasst uns jetzt auf Bacchus, der uns dieses einmalige Geschenk geschickt hat, das Glas erheben.“ Er hob den Römer und alle tranken. Als sie später auseinandergingen, war Mitternacht bereits vorüber.


Zur gleichen Zeit ganz in der Nähe, in einem Gewölbekeller, an dessen Wänden mehrere große Weinfässer standen. Die Luft war kühl und von gärendem Wein geschwängert. Die Beleuchtung bestand aus einigen Feuchtraumlampen, die ein schummriges Licht verbreiteten. Es war unzweifelhaft ein alter Weinkeller, der schon seit Generationen als solcher Verwendung fand. In der Mitte des Raumes stand ein massiver Holztisch mit einer dicken Eichenplatte, die in einem Stück aus einem Stamm herausgeschnitten worden war. Ihre dunkle Patina bewies, dass sie ebenfalls sehr alt war.

Sechs Männer, die alle aus Retzstadt stammten, hatten sich um den Tisch versammelt. Es handelte sich um die erst vor einiger Zeit gegründete Retschter Bacchus-Bruderschaft, eine Vermarktungsgemeinschaft von Winzern. Wegen der Werbewirksamkeit trugen sie ebenfalls Bacchus, den römischen Gott des Weines, in ihrem Namen. Sie hatten sich vor einiger Zeit von der eher esoterisch ausgerichteten Gruppe der Bacchus-Brüder abgespalten, die außerhalb des Dorfes in einem alten Hof zusammenkam. Die Trennung war erfolgt, weil sich jene einem modernen Vermarktungsmanagement massiv in den Weg stellte.

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